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  • Wie alles begann 07.06.2016 by seiltanzdergedanken

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    Er wählte die totale Überrumpelung und liess mir so überhaupt keine Wahl. Eben hatte ich noch gemütlich in der hintersten Sitzreihe des Trams meine Pendlerzeitung  gelesen. Nun sass er plötzlich neben mir. Platzte in mein Leben. Hüllte mich ein mit einem Schwall frischer Luft. Pfefferminzaroma. Alles auf einmal da, gepaart mit jener fast elektrischen Energie, die ich noch gut kennen lernen sollte. Ich rückte überrascht ein wenig zur Seite, auch weil er einen mittelgrossen, langhaarigen Hund vor sich her in die Sitzreihe schubste, der sich sogleich zufrieden schnaufend auf meine Füsse legte. Zwar liebe ich Tiere sehr, doch auf dieses ziemlich schwere Bündel feuchten Felles in undefinierbarer Farbe auf meinen neuen Schuhen war ich nicht gefasst gewesen. Ich erwartete, dass der junge Mann sich entschuldigen und den Hund wegziehen würde, doch er lächelte nur kurz und gab mir die Hand: „Gut treffe ich dich hier, wir haben viel zu tun. Magst du ein Pfefferminz?“ „Wie bitte? Sie verwechseln mich wohl!“ Anders konnte ich mir die Situation nicht erklären. Er schaute mich fast beleidigt an: „Ich weiss, wer du bist und ich weiss immer, was ich tue.“ Seinen Hang zu, sagen wir leichter Arroganz, würde ich auch noch zur Genüge kennen lernen. Das Duzen ist ebenfalls so eine Sache in meinem Alter. Ich weiss nie, ob ich mich geschmeichelt fühlen darf. Habe ich das reizlose „Respektsalter“ doch noch nicht erreicht? Oder sollte ich unangenehm berührt sein? Werde ich von den Jungen einfach nicht mehr ernst genommen? „Du bist vor kurzem pensioniert worden und wirkst noch ein wenig unsicher in diesem neuen Leben. Manchmal fährst du ohne Ziel mit dem Tram durch die Stadt.“ „Selten“, wollte ich sagen, „und es ist bestimmt nicht so, dass mein Leben unausgefüllt wäre.“ Hatte dieser Kerl mich möglicherweise beobachtet? Ich habe mehr als genug zu tun und viele Ideen für meinen Lebensabend. „Das weiss ich alles“, kam seine ungeduldige Antwort. Warum eine Antwort? Hatte ich etwa laut gedacht? „Nicht nötig, wir verstehen dich auch so.“ „Wir?!“ „Ja“, er deutete auf seinen Hund, „er versteht deine Gedanken und ich verstehe ihn. Ist ja nicht schwierig.“ Na toll, hatte sich dieser Irre genau neben mich setzen müssen? Ich musterte ihn verstohlen von der Seite. Ein grosser und schlaksiger Typ mit halblangem, ziemlich wirrem Haar unter einer farbigen runden Mütze. Fast wie das Hundefell auf meinen Füssen. Lustig! Wache, aufmerksame Augen. Nicht unattraktiv. Man kann schliesslich auch als ältere Frau nicht immer nur auf die innere Schönheit schauen. Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte fast ein wenig verlegen. Ich stupste den Hund verstohlen: „Verrate ihm doch nicht alles!“ Aber im Grunde glaubte ich gar nicht an diese Telepathie. Vielleicht war der junge Mann ein Trickspieler oder ein windiger Wahrsager. „Nein, das bin ich nicht“, unterbrach er meine Gedanken und ich fuhr vor Schreck fast zusammen, „doch mein Hund macht mich verrückt. Er erzählt mir ständig Dinge von den Leuten um mich herum. Oft sind es düstere Gedanken, die er auffängt und manchmal bräuchte es so wenig, um jemanden zu trösten, zu ermutigen oder glücklich zu machen. Die Menschen sehen schnell einmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, sie vergessen ihre Fähigkeiten und Stärken. Innert Sekunden könnten sie sich in eine ganz andere Stimmung bringen, auf neue Gedanken kommen und sich ihr Leben dadurch schöner machen. Manchmal kriege ich diese Geschichten kaum mehr aus dem Kopf, weil ich so leicht hätte helfen können.“ „Warum reden Sie nicht einfach mit den Leuten?“ Ein „Du“ wollte mir nicht über die Lippen rutschen, zu merkwürdig erschien mir dies alles. Ihn beeindruckten meine diesbezüglichen Hemmungen offensichtlich nicht: „Schau mich doch an! Diese Menschen würden so denken wie du. Sie hätten vielleicht Angst, ich sei ein Taschendieb oder wolle sie anbetteln. Und nicht alle mögen Hunde. Aber du bist perfekt für diese Aufgabe geeignet, du siehst so schön normal und bieder aus.“ „Wie bitte?!“ Es wurde immer besser. „Normal und bieder!“ Ich hätte mich besser hinter meiner Zeitung versteckt, um diese Begegnung zu vermeiden. „Ich weiss nicht, was Sie von mir wollen, zudem muss ich ohnehin bald aussteigen.“ „Wir beide steigen bald aus. Dies ist noch nicht deine Haltestelle“, grinste er frech. „Steige dann vorne aus und sage dem Tramfahrer, dass du seine souveräne, sichere Fahrweise bewunderst und seine offenbar unerschütterliche Ruhe. Lächle ihn dabei an, als ob er der attraktivste Mann der Welt wäre. Das braucht er heute dringend. Nur schon deshalb könnte ich es nicht selber erledigen. Das siehst du doch ein.“ Lachend stupste er mich in den Arm. Ich schaute ihn entgeistert an. „Warum sollte ich denn so etwas sagen, es stimmt doch alles gar nicht?! Er fährt weder ruhig noch…“. „Richtig! Gut beobachtet!“ Diesmal bekam ich einen herzhaften Klaps auf die Schulter. „Genau, deshalb sollst du es sagen.“ Ich schaute ihn zweifelnd an und schüttelte den Kopf. „Nein, ich…“ Er unterbrach mich, indem er aufstand und den Hund sanft am Halsband hochzog: „Komm schon, Buddy!“ Ich merkte erst jetzt, dass meine Zehen eingeschlafen waren. „Ganz sicher werde ich nicht …“, setzte ich nochmals an. Doch dann beugte sich dieser lange Lulatsch mit einem unglaublich charmanten Lächeln zu mir nieder, küsste mich flüchtig auf die Wange und meinte: „Du siehst eben nicht nur normal und bieder aus, sondern auch lieb. So jemanden brauchen wir. Du wirst schnell lernen. Wir sind jetzt ein Team. Bis morgen. Ich heisse übrigens Timo.“ „Wie bitte?!“ Ich hatte mich von der unerwarteten Charme-Attacke erholt und wollte nochmals protestieren. Doch schon waren die beiden draussen und verschwanden ohne sich nochmals umzusehen in der Menge. „Bis morgen?“ Wohl kaum. Wie hätte ich auch ahnen können, dass mein Abenteuer gerade erst begonnen hatte.

Hier gehts zum Anfang: Die Geschichte von Wispy und Timo