Aller guten Mütter sind drei

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Leider wollte mir Timo auch in den nächsten Tagen nicht verraten, was für eine Idee ihn so zum Schmunzeln gebracht hatte. „Ich habe etwas in die Wege geleitet, doch ich will erst sicher sein, dass es klappt, bevor ich es dir erzähle. Aktuell warten wir noch auf Bescheid aus Holland und auch Deutschland hat sich noch nicht definitiv entschieden. Du wirst dich gedulden müssen.“ Er amüsierte sich königlich über meinen verwirrten Gesichtsausdruck. „Nun kannst du deine Gedankenlesekunst üben, komm, erzähl mir, was ich vorhabe“, neckte er mich, doch natürlich konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, was das sein könnte.

Dawn und Gian-Luca waren mit ihren Around The World Tickets, welche ihnen viel Raum für Spontanität liessen, als erstes nach Hong Kong geflogen. Die quirlige Stadt faszinierte die beiden. Besonders überraschten sie die Naturparks und Grünflächen, da sie vorwiegend Shopping Centers erwartet hatten. Timo erhielt ständig Fotos über WhatsApp: die atemberaubende Aussicht vom höchsten Berg, dem Victoria Peak, Wanderwege im Nationalpark, total überfüllte und dann wieder überraschend einsame Strände und zahllose Schnappschüsse aus dem bunten Leben Hong Kongs und Kowloons. Dawn, die sich eher ungern auf diese Reise gemacht hatte, war nun begeistert und wäre am liebsten noch länger geblieben, doch Gian-Luca, der sehr viel gearbeitet hatte in den letzten Monaten, sehnte sich nach Ruhe und Erholung. Zudem wollte er seine Enthüllungen so schnell wie möglich loswerden, damit er nicht die ganze Reise hindurch daran denken musste, doch in Hong Kong hatten sie kaum eine ruhige Minute.

So beschlossen sie bald, einige Tage auf den Cook Islands zu verbringen. Rarotonga mit dem vielen tropischen Grün und den romantischen Stränden gefiel ihnen so gut, dass sie dort in ein Hotel eincheckten. Die Hauptstadt Avarua und die Insel selbst waren jedoch schnell ausgekundschaftet: Bloss eine einzige richtige Strasse, 31 Kilometer lang, führte rund um die Insel. Der öffentliche Verkehr bestand aus einem Linienbus, der stündlich abwechselnd rechts oder links herum um die Insel fuhr und dort anhielt, wo die Fahrgäste es wünschten. Dawn liess durchblicken, dass sie dies alles zwar wunderschön und romantisch, nach Hong Kong jedoch eher langweilig fand und machte bereits Pläne für die Weiterreise. So fasste sich Gian-Luca am zweiten Abend ein Herz. Als sie nach dem Nachtessen auf der Veranda des Hotels ein Glas Wein tranken, griff er nach Dawns Hand und begann zu erzählen. Erst von Marisella, da er hoffte, dass dies später ein wenig in den Hintergrund geriet, wenn die Rede auf Mona kommen würde. Warum ich das alles so genau weiss? Weil ich beschlossen hatte, mich nochmals einzumischen. Timo hatte Dawn einmal von meinem Handy aus eine Mail geschickt, als sein Akku leer war. So kannte ich ihre Adresse und schrieb ihr kurz nach der Abreise ebenfalls. Ich fügte ein Word Dokument an und bat Dawn in einer kurzen Mail, dieses erst vor der Rückreise zu öffnen und zu lesen.

Wie unglaublich naiv von mir. Wahrscheinlich hätte sich keine Frau der Welt an eine solche Instruktion gehalten. Dawn hatte die Word Datei sofort geöffnet und heimlich gelesen, noch während sie in Hong Kong waren. Selbst wenn ich Mona nicht besonders mochte, hatte ich mich darin für sie ins Zeug gelegt. Das Gespräch mit meinem eigenen Sohn hatte mich daran erinnert, dass man als neugebackene Mutter einer Löwin mit ihren Jungen ähnelt, tödlich entschlossen, seinen Nachwuchs gegen alles zu verteidigen, was ihm schaden könnte. Monas Vorschuss-Vertrauen Dawn gegenüber rang mir dementsprechend viel Respekt ab, besonders wenn man bedachte, wie liebend gern sie zu Gian-Luca zurückgekehrt wäre. Dies hatte Marisella offensichtlich nicht gewusst, sonst hätte sie Mona kaum gegen die neue Freundin aufzuhetzen versucht. Dass diese das Glück ihres Sohnes an erste Stelle setzte und dafür den riesigen Schmerz auf sich nahm, ihn nicht mehr zu sehen, war eine reife Leistung für eine so junge Frau. Ich erzählte Dawn, dass Mona von Gian-Lucas Affäre mit der Nachbarin gewusst hatte und darauf verzichtete, dies auszuspielen, obwohl es sie sicher gereizt hätte. Ja, sie hatte vermutlich sogar bewirkt, dass Marisella wegzog. Wie man sich leicht ausmalen konnte, hätte sie die Beziehung von Gian-Luca und Dawn ohnehin viel mehr stören und erschweren können. Wer konnte ihr verübeln, dass sie ihrem Kind nachtrauerte und zum unterdessen erwachsenen Sohn den Kontakt suchte? Wer würde nicht verstehen, dass sie verunsichert war und erst wissen wollte, ob Timo sie als Frau, die so anders war als er, überhaupt akzeptieren könnte? Bevor ich es versah, war aus der Information ein flammendes Plädoyer für alle Mütter geworden, die sich eine perfekte Welt für ihre Babys wünschen und dann mit einem Alltag fertig werden müssen, der eben oft alles andere als perfekt ist.

Wie Dawn mir einige Tage später in ihrer Antwortmail beichtete, spielte sie zuerst die Ahnungslose, als ihr Gian-Luca, ungern genug, von seiner Affäre mit Marisella erzählte. Sie liess ihn eine ganze Weile lang zappeln und stellte ihm jede Menge peinlicher Fragen, bis sie ihm schliesslich verriet, dass sie schon ewig davon gewusst hatte und es sie ziemlich unberührt liess. „Ohne Zweifel“, so gestand sie mir jedoch, „wäre ich ohne deinen Gedankenanstoss hartnäckig auf der Frage herum geritten, inwiefern Gian-Lucas kleiner Sohn seine Wahl beeinflusst hatte, da ich nun den Grund ihrer Trennung kannte. Doch ich habe beim Lesen deines Briefes etwas realisiert: Ich durfte meine grosse Liebe heiraten und das wundervollste Kind aufziehen, das man sich vorstellen kann. Wir sind eine glückliche Familie geworden, ohne materielle oder andere Sorgen. Ist das nicht das Wichtigste? Du hast recht, Mona hat weder Unterhaltsforderungen für sich gestellt noch ihr Besuchsrecht durchgesetzt, als sie merkte, wie negativ und bösartig wir auf sie reagierten. Sie hätte uns das Leben auf vielerlei Arten schwer machen können. Ich kann es ihr eigentlich nicht verübeln, dass sie später nicht mehr auf uns zugekommen ist. Wie  abweisend und kalt ich reagieren kann, hat Mona bei jedem ihrer Besuche erlebt. Als Gian-Luca mir dann schonend die Neuigkeiten beibringen wollte, habe ich es ihm leicht gemacht und gleich erzählt, was ich von dir wusste und dass ich mir bereits Gedanken gemacht hatte. Er hat ganz fürchterlich über sich einmischende Frauen geschimpft, dabei sah ich ihm die Erleichterung an der Nasenspitze an. Ihm war absolut klar, dass ich ohne deine Vorwarnung bedeutend heftiger reagiert hätte. Jedenfalls haben wir die halbe Nacht hindurch über die vergangenen Jahre geredet und realisiert, dass wir ebenfalls Fehler gemacht hatten, nicht nur Mona. Im Gegensatz zu ihr, haben wir unseren Egoismus und unsere Bequemlichkeit über die Tatsache gestellt, dass wir es Timo verwehrt hatten, seine leibliche Mutter kennenzulernen. Wir fallen Mona vermutlich nicht gerade um den Hals, wenn wir zurück sind und wahrscheinlich gibt es noch einige Diskussionen zwischen uns. Doch wir werden einen Weg finden, der für alle annehmbar ist. Verstecken muss sie sich bestimmt nicht mehr. Überlass die Sache jedoch von jetzt an bitte uns.“

Obwohl ich mir daraufhin geschworen hatte, mich nie wieder irgendwo einzumischen, war ich sehr zufrieden mit mir. „Du schuldest mir etwas, Mona“, dachte ich und wusste im selben Moment, wie ich diese Tatsache für mich nutzen wollte. Timo und seine Freunde waren bereits mitten in der Organisation der grossen Antipelz-Kampagne. Diesmal durfte ich aktiv dabei sein und Mona, ob sie wollte oder nicht, würde ebenfalls ihren Teil beitragen. Sie hatte bestimmt Beziehungen zur übrigen Pressewelt. Doch erst musste ich Timo meine Einmischung beichten, bevor er diese Geschichte von seinen Eltern erfahren würde. Er wohnte mittlerweile wieder zuhause und da er Buddy nicht zu mir mitnehmen konnte, trafen wir uns wie früher vor dem Shopping Center bei der Sihl. Wir sassen bei einem Kaffee draussen, um den milden Tag zu geniessen. Davon gab es nicht mehr allzu viele, der Frühherbst hatte mit kühleren Temperaturen Einzug gehalten. Die Aussenplätze der Restaurants waren dementsprechend begehrt und ich wählte absichtlich diesen Moment, inmitten vieler Leute, für mein Geständnis. Ich hatte keine Ahnung, wie Timo reagieren würde. Erst schaute er mich verblüfft mit grossen Augen an, schüttelte dann den Kopf und murmelte: „Ich habe offenbar wirklich drei Mütter…“ Daraufhin schwieg er lange, streichelte Buddys Kopf und beobachtete die Leute. Als er eine Rolle Pfefferminzbonbons aus der Tasche zog, sie mir anbot und dann selbst zwei Stück langsam im Mund zerbiss, freute ich mich. Früher hatte er dies immer gemacht, wenn er über etwas nachdachte, es hatte zu ihm gehört. „Ich kaufe absichtlich die ganz scharfen, die blasen dein Hirn durch und machen es frisch“, hatte er jeweils behauptet. Wenn ich an unsere Gespräche von damals dachte, spürte ich immer zugleich Pfefferminzgeschmack im Mund. Plötzlich hatte er diese Gewohnheit ohne Erklärung aufgegeben. „Helene hat es genervt“, sagte er nun kurz auf meinen Blick hin. „Bedeutet das, dass ihr euch doch getrennt habt?“ dachte ich, doch ich hütete mich, es laut zu sagen. Wenn Timo diesen Gedanken aufgeschnappt hatte, sagte er jedenfalls nichts dazu. Nach einer Weile fing er endlich an zu sprechen. „Ich kann dir natürlich nicht böse sein, Wispy, da es gut heraus gekommen ist. Doch es hätte auch anders enden können, das ist dir wohl bewusst? Mum war bestimmt nicht begeistert, intime Familienangelegenheiten von einer Frau zu erfahren, die sie nicht einmal persönlich kennt. Zudem wusstest du nicht, was mein Vater ihr genau erzählen würde und es war auch nicht deine Angelegenheit.“ Ich nickte stumm. „Was mich mehr beschäftigt, ist jedoch etwas anderes“, fuhr Timo fort. „Als ich Mona und meinen Vater während ihrem Streit allein liess auf dem Üetliberg, war dies nicht nur, weil sie mich nicht beachteten. Ich wollte vor allem Monas Gedanken hinter ihrer Keiferei nicht weiter mitbekommen. Beide spürten trotz allen Ärgers nämlich auch wieder, was sie ursprünglich aneinander angezogen hatte. Sie waren einmal sehr verliebt gewesen. Mein Vater schob diese Erinnerungen nach der ersten Überraschung rasch in den Hintergrund, denn dieser Zank erinnerte ihn gleichzeitig daran, aus welchen Gründen sie nicht wieder zusammen gekommen waren. „Es hätte ohnehin nie geklappt mit uns“, dachte er und stellte seine innere Distanz sogleich wieder her. Dagegen waren Monas Gedanken, wie soll ich sagen…zum Teil absolut nicht jugendfrei.“ Dies verblüffte mich so sehr, dass ich gegen meinen Willen lachen musste, obwohl ich versuchte, es zu unterdrücken. „Tut mir leid, Timo, ich verstehe dein Unbehagen und will die Situation keineswegs ins Lächerliche ziehen, doch so etwas hätte ich von Mona zuletzt erwartet…“Timo seufzte: „Ich ebenfalls. Das willst du von deiner eigenen Mutter nicht wissen, ganz ehrlich! Eltern! Je mehr du davon hast, desto schwieriger wird es! Und du mischst dich auch noch ein…“ Doch als wir einander anschauten, musste er ebenfalls grinsen. „Dass ich nun weiss, dass Mom so gut reagiert hat, hilft natürlich. Wenn die beiden im Streit zurückgekommen wären, hätte ich mir mehr Gedanken gemacht. In den nächsten Wochen sind sie ohnehin noch unterwegs. Ich kann mich also voll auf die Pelzkampagne konzentrieren. Wenn du magst, kannst du morgen beim grossen Informationstreffen dabei sein. Da wir dich für unsere Zwecke auf Tour schicken wollen, ist das nur fair.“

Und so sass ich am nächsten Abend mit vielen Aktivistinnen und Aktivisten zusammen in Monas Wohnzimmer. Ich kannte längst nicht alle der mehrheitlich jungen Leute, die sich nach und nach eingefunden hatten. Mehrere kamen aus den bekannten Nobelkurorten, wo traditionsgemäss viel Pelz getragen wird. Der Raum war voll, einzelne Leute sassen auf den Fenstersimsen. Mona war bei der Arbeit. Sie musste Überstunden machen für einen dringenden Artikel, dies behauptete sie zumindest. Mit Erstaunen beobachtete ich, wie die Gesichter dieser jungen Menschen sich veränderten, sobald es ans aktive Planen ging. Eben hatten sie noch ausgelassen miteinander gescherzt und gelacht, nun wurden ihre Mienen ernst und konzentriert, ihr Ton ruhig und sachlich. Sie wirkten alle plötzlich um Jahre älter.

Als Kind hatte ich Indianergeschichten geliebt und mich oft lange in die wenigen Fotos vertieft, die ich in Bibliotheksbüchern finden konnte. Vor allem der Ausdruck im Gesicht eines Stammeshäuptlings hatte mich fasziniert. Es war eine Mischung aus Weisheit, Stolz und Kraft, gleichzeitig zeigten sich in seinen Augen grosse Verletzlichkeit und tiefer Schmerz. Besonders Timos Miene erinnerte mich an jenes Bild, auch ihn hatte ich noch nie so ernst und gesammelt erlebt. „Die berühmte Tierkommunikatorin Amelia Kinkade hat einmal geschrieben, Tierschützer müssten lernen, wie Feuerwehrleute zu arbeiten. Gezielt mitten in den Brandherd gehen, helfen und sofort wieder raus, bevor man selber verbrennt“, erklärte er mir in einer Pause, als ich ihn darauf ansprach. „Es bringt nichts, auf dem Elend der Tiere oder der Gedankenlosigkeit der Menschen herumzureiten. Dies lähmt nur und nimmt uns unsere Energie. Wir konzentrieren uns lieber auf Ideen, die tatsächlich etwas bewirken. Falls wir dennoch vorübergehend den Mut verlieren, was immer wieder einmal passieren kann, erinnern wir uns an die Erfolge der letzten Jahre. Einige grosse Modeketten haben sich bereits verpflichtet, keinen echten Pelz mehr zu verkaufen, weitere werden folgen. Leider ist es oft gar nicht so einfach, Echtpelz von Kunstpelz zu unterscheiden, vor allem wenn er geschoren oder gefärbt wurde.“

Wir wollten das Phänomen, dass Menschen durch Einzelschicksale berührt werden und helfen wollen, ausnützen. Ein Tier allein und in Not kann meistens mit viel Hilfsbereitschaft rechnen, besonders wenn es noch ein Baby ist. Entsprechende Rettungs-Videos werden im Netz zum Teil millionenfach angeklickt. Dass dieselben Menschen es durch ihr Konsumverhalten in der Hand hätten, unzähligen anderen verzweifelten Tieren grösstes Leid zu ersparen, wird dabei offenbar ausgeblendet. „Vielleicht geschieht dies aus Selbstschutz“, vermutete Lilly, die immer versuchte, Verständnis für alle aufzubringen.

Als wir das passende Bild eines gefangenen Pelztieres für unsere Aktion aussuchten, kam ich bereits an meine Grenzen und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Die Fotos der gefangenen oder gezüchteten Tiere in den Pelzfarmen waren alle herzzerreissend. Den Marderhunden zum Beispiel wird im Herbst das dicht werdende Fell mit den schwarzen Schwanzspitzen zum Verhängnis, sie werden besonders oft bei lebendigem Leibe und noch bei Bewusstsein gehäutet. Ihr wippendes Fell auf den Jackenkrägen wird zu einem grossen Teil als „synthetisch“ bezeichnet. Ein bewusster Etikettenschwindel, den die Leute glauben, da diese Kleidungsstücke nicht teuer waren. Dass lebendig häuten billiger zu stehen kommt als einen Kunstpelz herzustellen ist eine Ungeheuerlichkeit, die einem kaum von selbst in den Sinn kommt. Deshalb wählten wir schliesslich aus den Bildern der verschiedenen Pelztiere das Foto eines Marderhundes für unsere Kampagne. Er glich einem Waschbären mit dem hellen Gesicht und der dunklen Maske um die Augen. Die Vorderfüsse um die Gitterstäbe geklammert, schaute er mit flehenden Augen in die Kamera. Wir nannten ihn Roko, abgeleitet vom seinem englischen Namen „Racoon Dog“. Dass wir danach beim Googeln erfuhren, dass der Name Roko tatsächlich „der Brüllende, der Schreiende“ bedeutet, überraschte uns jedoch. Unser Computerfreak Roman machte sich sofort an die Arbeit, um die Erlaubnis zum Verwenden des Bildes einzuholen. Wie er so über seinen Laptop gebeugt sass, fielen seine schwarzen Haare von beiden Seiten ins bleiche Gesicht und er machte seinem Spitznamen „Panda“ alle Ehre. Wir anderen gönnten uns eine Pause. Die letzten zwei Stunden waren aufwühlend gewesen. Ich hatte gelernt, dass in der Schweiz seit 2014 eine Deklarationspflicht für Pelz gilt, dass sich jedoch nicht einmal 20% der Geschäfte an die Vorschrift hielten. Meist waren dies Boutiquen und kleinere Modeläden. Deren Angestellte waren fast durchgehend falsch oder gar nicht über die Herkunft und Herstellung dieser Kleidungsstücke informiert.

Da unser Roko von einer Tierschutzorganisation fotografiert worden war, bekamen wir sofort die Bewilligung zur Verwendung des Bildes für unsere Zwecke. Roman schnitt es zu und setzte es neben das gleich grosse Bild einer dieser irreführenden Etiketten, auf der fälschlicherweise stand, das Fell sei synthetischer Herkunft. Zum ersten Bild textete er: ‚Diese Augen erzählen die wahre Geschichte…‘ und zum zweiten: ‘ …während hier bewusst betrogen wird‘. Darunter setzte er eine kurze Aufklärung und einen der Slogans, die wir verbreiten wollten: ‚Echt Pelz? Echt Out‘. „Dies sind nur mal Vorschläge, damit wir das Layout unseres Informationsmaterials einigermassen planen können. Weitere Ideen können noch drei Tage lang eingebracht und in der Facebook Gruppe besprochen werden“, erklärte er dazu. Es brauchte nochmals annähernd zwei Stunden, bis die Details wie Schriftzüge und Farben allen passten und bis besprochen war, was und wie viel gedruckt werden sollte. Ausser auf Kleber, Poster und Flyer einigten wir uns auf T-Shirts mit Rokos Bild und einem Slogan darunter. Als mich Timo schliesslich nach Hause fuhr – er durfte während dessen Abwesenheit das Auto seines Vaters benutzen – war ich erschöpft. „Wenn Pelztragen nur endlich aus der Mode käme“, seufzte ich aus tiefstem Herzen, woraufhin Timo mit der Faust aufs Lenkrad schlug und ungewöhnlich aggressiv: „Nicht zu glauben, dass man sich im 21. Jahrhundert noch tote Tiere an den Arsch hängen kann“, hervorstiess. Gleich darauf lächelte er mich jedoch wieder an. „Siehst du, deshalb wollte ich dich bisher nicht mitnehmen zu diesen Versammlungen, sie gehen an die Nieren. Doch dieses Mal brauchen wir deine Hilfe vielleicht mehr, als ich dachte. Du hast gute Inputs gegeben heute Abend.“ Dann drückte er mir ein kleines, in farbiges Seidenpapier gehülltes Päckchen in die Hand. „Dies hier hast du dir verdient. Mach es erst in der Wohnung auf.“ Nachdem ich Bella versorgt und mich für die Nacht bereit gemacht hatte, öffnete ich neugierig Timos Geschenk. Es war ein kobaltblaues Armband mit magentafarbenen Verzierungen und einem grossen „V“ auf der Innenseite. Ein Flashband! Ich zog es gleich an und bewunderte es von allen Seiten. Doch während es mich  einerseits stolz und glücklich machte, mischten sich nach diesem intensiven Abend doch auch gehöriger Respekt und ein wenig Aufgeregtheit in meine Gefühle.

Zwei Tage später transportierte Timo die Hundefamilie ins Haus am Waldrand. Wie er mir später erzählte, waren so viele aus der Clique da, dass Mona und er sich aus dem Weg gehen konnten. „Destiny und ihre Kleinen haben sich schnell eingelebt“, berichtete er. „Sie sind für die erste Zeit im Wohnzimmer untergebracht worden. Für die Welpen suchen wir nun gemeinsam Namen, ausser deinem Benji, der ist ja schon getauft“, schmunzelte er und ignorierte wie gewohnt meine Proteste. „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagt er nur dazu. „Die Kleinen fangen nun an, ihre Umgebung zu erkunden, ihre Augen und Ohren öffnen sich. Dennoch sind sie noch tollpatschig und purzeln oft übereinander, richtig drollig. Man könnte ihnen stundenlang zusehen. Ich habe mich ab Mitte Woche für zwei Tage in die Hüte-Liste eingetragen und kann dich mitnehmen, wenn du magst.“ „Das würde ich gern, Timo“, sagte ich, „doch wie du weisst, beginnt am Freitag bereits unsere erste kleine Ausstellung in Samiras Buchladen. Diesmal geht es um fremde Länder und Reisen, doch sie soll der Auftakt zu einer ganzen Reihe Events mit wechselnden Themen sein. Wir sind beide schon ziemlich aufgeregt und es gibt noch viel zu tun. Du kommst doch zur Vernissage?“ „Natürlich“, versicherte er und bevor ich mich stoppen konnte, rutschte mir ein „Allein?“ heraus. „Kaum“, tat er unschuldig, „du hast uns doch alle eingeladen?“ Ich beschloss, es dabei bewenden zu lassen, schliesslich hatte ich noch vor kurzem gute Vorsätze gefasst.

Die Ausstellung wurde ein unerwartet grosser Erfolg und Samira verkaufte vor allem viele ihrer neuartigen Reise- und Wanderbücher im praktischen Taschenformat. „Das Internet ist schön und gut“, war ihre Einstellung, „doch in diesen Büchern findet man schnell unglaublich viele praktische, aktuelle Informationen, ohne auf den Zugang zu einem Netz angewiesen zu sein.“ Wir hatten jedes Schaufenster der Buchhandlung unter einem anderen Motto dekoriert: von ‚Dschungelgebiete‘ über ‚Wasser und die Faszination des Tauchens‘, ‚Einheimische und exotische Wälder‘, ‚Bergwelten und Nationalparks‘ bis zu ‚Wüsten, Steppen und Savannen‘. Zu jedem Thema hatte ich einige Bilder gemalt, die meisten eher klein, dafür in leuchtenden Farben. Zu meiner Überraschung verkaufte ich einige davon im Laufe des Abends. Zwei weitere reservierte sich Samira, um sie später im Eingangsbereich aufzuhängen. Der Erfolg tröstete uns über das leichte Chaos an der Vernissage hinweg. Wir hatten beide noch nie so etwas organisiert und da wir nicht wussten, wie viele Leute unserer Einladung folgen würden, waren die Prosecco Flaschen schon bald leer und unsere selbstgemachen veganen Häppchen gingen ebenfalls zur Neige. Zum Glück waren Patrick und Johanna mit dem Auto da und boten an, für Nachschub zu sorgen. Nicht nur meine Schwestern, meine Freundin Britta und einige Nachbarn und Nachbarinnen waren zur Eröffnung der Ausstellung gekommen, sondern auch mehrere Leute aus Samiras Theaterklasse. Leider konnte ich mit niemandem länger sprechen, da wir kaum nachkamen mit Abräumen und neu Auftragen von Essen und Trinken. Timo war kurz aufgetaucht und für einen Moment sah ich Helenes dunklen Afrolook in der Menge, doch zu meiner Enttäuschung waren sie beide bald wieder verschwunden. Ich hätte vor allem Timo gern meiner Familie und Britta vorgestellt. Dies schrieb ich ihm denn auch, als er mir später per Textnachricht zum Erfolg gratulierte. Daraufhin verriet mir Timo, dass er ein Abschiedsfest für mich geplant habe. „Es hätte eine Überraschung werden sollen, doch ich will nicht, dass du heute Abend traurig bist. Natürlich sind dann alle Leute eingeladen, die dir irgendwie nahestehen und wir können uns in Ruhe kennen lernen. Während der Vernissage war es ohnehin zu laut und zu unruhig dazu.“ Da musste ich ihm allerdings Recht geben. Zum Glück halfen uns am Schluss ein paar Leute, die Buchhandlung aufzuräumen und das Geschirr abzuwaschen. Als die letzten Gäste gegangen waren und die Anspannung von Samira und mir  abfiel, fühlten wir uns plötzlich sehr müde. Wir redeten nicht mehr viel, während sie mich heimfuhr, doch plötzlich drückte sie meine Hand: „Hast du eigentlich realisiert, Wispy: von deinen Bildern haben bereits acht einen roten „Verkauft“- Punkt! Wir sind ein tolles Team! Ich hoffe, dass du nicht zu lange in Italien bleiben wirst.“

Mit neuem Schwung und Optimismus machten wir uns an die Planung der veganen Woche. Obwohl ich in diesen Tagen nicht so oft zuhause war wie sonst, fiel mir auf, dass Bella sich verändert hatte. Sie mied plötzlich ihre Lieblingsplätze, frass nur noch sporadisch und wollte nicht mehr neben mir im Bett schlafen. Oft sass sie regungslos auf dem Fenstersims und blickte nach draussen. Voller Sorge rief ich eines Abends Timo an. „Ist sie traurig, weil ich öfters weg bin? Sag ihr bitte, dass ich das ändern werde –“. Doch Timo unterbrach mich behutsam. „Wispy, hör mir gut zu. Deine Katze hat sich diese Zeit mit Absicht ausgesucht, um sich auf den Übergang vorzubereiten. Sie muss dies allein und auf ihre Art tun. Da ihr so eng verbunden wart, löst sie nun ihre Energie von deiner, damit sie leichter gehen kann. Sie nimmt auch Abschied von ihrem Heim und der Umgebung. Katzen machen dies oft in den letzten zwei Wochen vor ihrem Tod. Deine Verzweiflung versteht Bella nicht. ‚Es ist doch nur ein Körper‘, gibt sie mir zu verstehen. ‚Dieser hier ist mir zur Last geworden. Wenn ich will, kann ich einen neuen haben und zurückkommen. Ich bleibe so oder so bei ihr‘.“ „Dann muss ich jetzt jeden Moment damit rechnen?“ Meine Stimme klang heiser und versagte, als ich ein Schluchzen in mir aufsteigen spürte. In diesem Augenblick war mir Bellas Aussage kein Trost. „Ich kann etwas mit ihr abmachen“, versuchte mich Timo so gut wie möglich zu beruhigen. „Ein Zeichen sozusagen. Es ist für euch beide nicht gut, wenn du sie ständig angespannt beobachtest. Ich spreche nochmals mit ihr.“ Und so stellte ich nach Timos Anweisung den alten Katzenkorb, den Bella schon lange nicht mehr benutzt hatte, neben den Heizkörper im Wohnzimmer. Der Sommer war vorüber, die Nächte wurden kühl und die Wohnungen waren wieder beheizt. „Sie wird sich erst hineinlegen, wenn das Ende naht“, sagte Timo. „Ob sie dann mit oder ohne Hilfe des Doktors gehen will, werden wir gemeinsam sehen und entscheiden.“

Ich schlief in den nächsten Nächten schlecht und wenig. Jeden Morgen stand ich mit klopfendem Herzen auf und wagte es kaum, ins Wohnzimmer zu gehen. Wenn ich den leeren Korb sah, atmete ich erleichtert auf. Noch ein Tag gewonnen. Laut Timo hatte Bella keine Schmerzen, doch ihre Nieren fingen an zu versagen und sie schien mir täglich kleiner und gebrechlicher zu werden. Ich wollte sie keine Sekunde mehr allein lassen und besprach mich mit Samira nur noch übers Telefon, doch Timo kam immer wieder mal vorbei und nahm mich mit nach draussen für einen kurzen Spaziergang oder ein Treffen mit den Freunden. „Sie macht das auf ihre Weise und in ihrem Tempo, doch keine Angst, sie geht nicht ohne dich. Nicht alle Katzen reagieren so, doch Bella will dich dabei haben. ‚Und die Schwarzhaarige, die mir immer sagte, wie schön ich sei‘ – ich nehme an, sie meint Lola?“ Ich musste trotz allem lächeln. „Nein, sie meint Lilly“, sagte ich. „Lilly überschüttete sie mit Komplimenten, als sie zu Besuch war, offenbar hat die kleine Katzendame dies nicht vergessen. Hoffentlich hat Lilly Zeit, wenn es so weit ist und muss nicht gerade arbeiten.“ Timo lächelte. „Mach dir da keine Gedanken. Du hast schon viel gelernt, doch die Weisheit der Tiere hast du noch nicht komplett erfasst. Das ist kein Wunder, denn sie ist viel grösser, als wir uns vorstellen können. Es ist unser Privileg, mit ihnen diese Erde teilen zu dürfen, nicht umgekehrt.“

Als ich einige Tage später mein Abendessen einnahm, strich Bella wieder einmal um meine Beine und schnurrte. Dies hatte sie schon lange nicht mehr getan. Ich war sehr glücklich, streichelte und kraulte sie und flüsterte ihr die vielen Liebeserklärungen ins Ohr, die sie in der letzten Zeit nicht mehr hatte hören wollen. Als ich die Küche aufgeräumt hatte und ins Wohnzimmer ging, lag Bella jedoch im bereit gestellten Korb neben der Heizung und atmete stossweise. Der Rest des Abends ist in meiner Erinnerung verschwommen. Man kann sich wohl nicht wirklich auf so einen Moment vorbereiten, da nützt alles theoretische Wissen nichts. Ich allein wäre Bella keine Hilfe gewesen, doch Timo hatte Lilly mit dem Auto abgeholt und sie waren so schnell es ging bei uns. Liebevoll kümmerten sich die beiden in den nächsten Stunden um mich und meine sterbende Katze. Gegen Mitternacht riefen wir den Doktor an, da wir Angst hatten, Bella könnte ersticken. Das Atmen machte ihr zunehmend Mühe. Doch noch während Timo am Apparat war, wurde es plötzlich still im Katzenkorb. Bella hatte uns verlassen. Entspannt und friedlich lag sie da, als ob sie schlafen würde. Lilly hatte mich im Laufe des Abends um Fotos meiner Katze gebeten, diese gruppierte sie nun rund um den Korb und zündete die Kerzen an, die wir bereit gemacht hatten. Dann zeigte sie auf ein Foto: „Du warst eine wundervolle Katze in diesem Leben, Bella. Schau mal, wie schön dein Fell glänzte. Und wie lustig du sein konntest! Hier hast du dich tagelang geweigert, einen Korb mit frischer Wäsche zu verlassen, ausser zum Pinkeln und zum Fressen…“ Lilly kommentierte Bild um Bild und sprach mit Bella, als ob sie noch da wäre. Nach kurzem Zögern stimmte ich ein und erinnerte meinen vierbeinigen Liebling anhand der Fotos an viele Episoden und besondere Momente, die wir zusammen erlebt hatten. Schliesslich lachte und weinte ich gleichzeitig. „Erzähl mir nochmals, wie du mich gerettet hast“, hörte ich plötzlich ganz klar in meinem Kopf und als ich verblüfft Timo anblickte, lächelte dieser und nickte. „Siehst du, die Verbindung ist immer noch da. Nun erzähl es ihr schon und schmück es kräftig aus, das mag sie nämlich…“

Als Timo Bella gegen Morgen behutsam in eine Decke wickelte, um sie später ins Tierkrematorium zu bringen, strich ich nochmals über ihren schönen Pelz und fragte mich zum tausendsten Mal, wie man so etwas, nur weil es nicht von Haustieren stammte, als Modeaccessoire anschauen konnte. Bella wirkte verletzlich und schutzlos und war doch mit so viel Liebe begleitet worden, ich durfte nicht daran denken, wie es auf den Pelzfarmen der Welt zuging.

Die Trauer über den Tod meiner Katze gab mir Biss und eine ungewohnte Heftigkeit in der Antipelzkampagne. Als die ersten dieser scheusslichen Pelzkrägen, die wir unter uns Deppenkrägen nannten, wieder auf den Strassen und in den Trams auftauchten, hätte ich diese Leute schütteln und anschreien können. Ich war richtig begierig darauf, in der Schweiz umher zu reisen und die Pelzläden zu kontrollieren, auch, weil ich dann für eine Weile von zuhause weg konnte, wo mich alles an Bella erinnerte. Doch Timo wiegte unschlüssig den Kopf. „Ich denke, so bringt es nichts, Wispy. Du sollst eine interessierte Kundin spielen, der die Herkunft der Felle grundsätzlich egal ist, doch nun bist du aufgewühlt und wirst sehr schnell aggressiv. Du wirst niemanden täuschen. Ich weiss, diese Rolle verlangt im Moment besonders viel Schauspielkunst von dir. Vielleicht kann Samira dich ein wenig schulen?“ „Ja, das ist vermutlich eine gute Idee“, gab ich zu. „Ich gehe ohnehin heute Abend mit zur Theatergruppe, denn ich darf mir Kleider und Schmuck aus deren Fundus ausleihen, damit ich aussehe, als ob ich mir einen Pelzmantel leisten könnte. Zudem wird mir eine Maskenbildnerin zeigen, wie ich mich entsprechend schminken und stylen kann.“

Doch irgendwie war mir durch Timos Bedenken der Schneid abhandengekommen. „Vielleicht bin ich doch nicht geeignet für so eine Aufgabe“, dachte ich später mutlos und machte mich unmotiviert und unglücklich auf den Weg zur Theatergruppe. Wie hätte ich auch ahnen können, dass dieser Abend mein Leben total verändern würde.

 

 

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