Bella und Lilly

-8-

Lilly und Timo hatten mir noch viele lustige Anekdoten aus der Tierarztpraxis erzählt. Lola und der Doktor hatten eine eigene Art der Kommunikation entwickelt, die hauptsächlich aus Halbsätzen, einzelnen Worten, Gesten und Blicken bestand. Es erinnerte ein wenig an das Durchgehen der Checklisten von Flugkapitän und Copilot.  Dies ging jedoch so schnell, dass die Tierhalter es gar nicht richtig mitbekamen. Sie fanden es schön, dass der Doktor so liebevoll mit ihren Tieren sprach während den Untersuchungen und sie nach ihren Schmerzen und Problemen fragte, als ob sie antworten könnten. Auf Lolas fast unverständlich gemurmelte, einsilbige Bemerkungen und Handbewegungen dazu, achteten sie weniger.

Ich fühlte mich wohl mit Lilly. Sie hatte etwas kindlich-argloses, freundliches an sich. Timos schnelle Scherze verstand sie nicht immer, doch war sie stets bereit zu lächeln und zu verzeihen, wenn er sie deswegen foppte. Sie löste in mir einen grossen Beschützerinstinkt aus und ich hoffte, dass ihre Gutmütigkeit nicht zu oft ausgenutzt werden würde.

So fuhr ich in guter Stimmung nach Hause, doch diese sollte kippen, sobald ich in der Wohnung war. Bella blieb in ihrem Bettchen liegen und kam mir nicht entgegen gelaufen wie sonst. Das für sie bereit gestellte Fressen war, wieder einmal, unberührt geblieben. Ihre Nierenkrankheit war letztlich unheilbar, ich konnte nur versuchen, mit Medikamenten und Spezialfutter so viel Zeit wie möglich herauszuschinden. Ich hatte Bella zum ersten Mal gesehen, als in unserer Strasse gebaut wurde und Pfosten und Schranken den Weg versperrten. Während ich mich aufs Balancieren über den schmalen Durchgangspfad konzentrierte, pfiff neben mir ein Bauarbeiter leise durch die Zähne und rief: „Ciao Bella!“ Ich schüttelte innerlich den Kopf. Schön fühlte ich mich schon lange nicht mehr, die Wechseljahre nahmen mich damals gerade sehr mit. Ich fühlte mich manchmal in die Pubertät zurück versetzt mit all den gefühlsmässigen Höhenflügen und Abstürzen dieser Lebensphase. Dazu kamen unausweichlich die ersten Altersanzeichen, die Falten, die grauen Haare, die hartnäckigen paar Pfunde Übergewicht. Wie in der Pubertät wusste ich plötzlich nicht mehr so genau, wer ich eigentlich war und was ich wollte im Leben. Wenn ich mich am Morgen im Spiegel sah, starrte ich mir oft lange und fragend in die Augen, als ob ich da eine Antwort finden könnte. Es war die Zeit, als ich noch allein lebte mit Cedric. Ich führte viele Selbstgespräche, fühlte mich oft  allein und verloren.

„Hey, Bella, wie geht’s dir denn heute?“ doppelte der Bauarbeiter nach und ich drehte mich irritiert um. Sah man mir die Einsamkeit etwa an? Doch zu meiner Überraschung beachtete mich dieser ältere Mann gar nicht, sondern hatte mir den Rücken zugewandt. „Hast du heute überhaupt schon etwas gefressen, mia piccina?“ fragte er soeben liebevoll, „Pause haben wir erst in einer Stunde.“ Erst jetzt sah ich, dass er eine magere, dreifarbige Katze streichelte, die auf einem Haufen Pflastersteine herumturnte. Schamröte schoss mir ins Gesicht. Zum Glück hatte ich nicht auf das Pfeifen reagiert, es hatte offenbar nicht mir gegolten. Nun drehte sich der Arbeiter um und nahm seinen Spaten wieder in die Hand. Dabei entdeckte er mich. Ich bemerkte, dass die Katze ausgehungert aussähe. „Gehört sie denn niemanden?“ fragte ich den Mann und hoffte bereits, er möge nein sagen. Bella sass wie eine Sphinx auf dem obersten Pflasterstein und schaute mich unverwandt an. Ich hörte, dass sie jeden Tag hier auftauche. Die Männer, alle italienischer Herkunft, hätten sie Bella getauft und teilten ihre belegten Brote mit ihr. Sie machten sich Sorgen, wer zu ihr schauen würde, wenn die Arbeiten hier in etwa 2 Wochen beendet sein würden. „Ich nehme sie“, sagte ich spontan. Nie hatte ich auch nur mit dem Gedanken gespielt, mir ein Haustier zuzulegen, doch Bella hatte mich während dem Gespräch keinen Moment aus den Augen gelassen, als ob sie gespannt auf meine Reaktion wartete. Nun nickte ich ihr zu. „Ich will jedoch zuerst abklären, ob sie niemandem gehört. Solange werde ich täglich Katzenfutter hierhin bringen. Falls sich niemand meldet, bringe ich sie zum Tierarzt, vielleicht ist sie gechipt. Wenn die Strasse hier fertig saniert ist, hat Bella auf jeden Fall ein Zuhause.“

Niemand schien Bella zu vermissen. Einen Chip fand der Tierarzt nicht bei ihr, dafür stellte er bei der Untersuchung fest, dass sie leicht erhöhte Nierenwerte hatte. Mit dem richtigen Futter könne ich diese noch lange in Schach halten, tröstete er mich. Leider mochte Bella, ganz Katze, dieses fade Futter nicht besonders und ich musste es  mit normalem Katzenfutter mischen, damit es gefressen wurde. Und so stiegen die Nierenwerte zwar langsam, jedoch stetig an. Unterdessen machte ich mir echte Sorgen. Ich konnte mir ein Leben ohne mein vierbeiniges, verschmustes Mädchen gar nicht mehr vorstellen. An diesem Abend brachte ich ihr etwas Futter ans Bettchen und fütterte sie langsam mit kleinen Stückchen von Hand. „Bitte, bitte friss“, flüsterte ich, „damit du noch lange bei mir bleibst. Jeder Tag ohne Futter macht deine Krankheit noch schlimmer.“

Die nächsten Tage wagte ich mich nur für die nötigsten Botengänge aus dem Haus. Bella frass bloss wenig aufs Mal, dafür trank sie auffallend viel Wasser. Am dritten Tag läutete es an der Tür. Ich war völlig überrascht, Lilly davor stehen zu sehen. „Timo gab mir deine Adresse, ich hoffe das ist in Ordnung“, sagte Lilly fröhlich, „ da ich Ferien habe, dachte ich, ich schau mal bei euch vorbei.“ Ich hatte am ersten Tag mit Timo telefoniert, damit er Bella gut zureden konnte, was das Fressen betraf. Leider half es nicht viel, meine Katze konnte sehr eigensinnig sein. Der unerwartete Besuch von Lilly freute mich sehr. Es tat gut, ein wenig abgelenkt zu werden. Als wir am Kaffee trinken waren, stieg selbst Bella aus ihrem Bettchen und schnupperte neugierig an Lillys Hosenbeinen. Die junge Frau bückte sich und kraulte das schön gezeichnete Katzenköpfchen. „Was bist du für ein prächtiges Tier“, schmeichelte sie, „mehrfarbige Katzen wie du sind selten und gelten als ganz besondere Glücksbringer. Weisst du eigentlich, wie absolut perfekt du bist?“ „Ist sie, doch leider…“ wollte ich Bellas Krankengeschichte erzählen. Doch Lilly legte den Finger an den Mund: „Psst! Sieh in ihr nur das Schöne, Gesunde, Ganze… oder sprich zumindest nur davon, wenn du mit ihr redest. Lobe sie, bewundere sie. So sendest du ihr positive Heilenergie statt Angst und Sorge. Schmeichelei bringt dich immer weit bei Tieren. Bella weiss selber, dass sie krank ist. Wenn du sie jedoch an ihre Schönheit und Kraft erinnerst, wird sich alles in ihr bemühen, wieder gesund zu werden. So ähnlich funktioniert es übrigens auch mit Kindern.“ Ich lernte, dass Lilly in einer Kinderkrippe arbeitete und dort spasseshalber Kinderflüsterin genannt wurde. Wenn sie Dienst hatte, wurden die grössten Rowdys zu Lämmchen und die scheuen Kinder blühten auf. „Machst du das wie vorhin mit Bella?“ fragte ich und sie schmunzelte: „Ähnlich! Ich erinnere sie lieber an ihre Stärken und Begabungen anstatt zu schimpfen. Ich beobachte sie genau und höre gut zu, so finde ich in jedem Kind etwas Einzigartiges und Lobenswertes. Wir haben zum Beispiel zwei starke Jungs, die beide die Nummer eins sein wollten und sich früher oft prügelten. Als es zum ersten Mal während meiner Schicht passierte, sagte ich zu ihnen: „Hm, das überrascht mich nun sehr, dass gerade ihr zwei den einfachsten Weg wählt, um eure Streitigkeiten auszutragen. Ihr seid beides so ausgesprochen kreative, kluge Köpfe und ich staune immer wieder, zu welch cleveren Gedanken ihr fähig seid, was für tolle, fantasievolle  Lösungen ihr für alles findet. Und das in eurem Alter, Hut ab!  Mann, müsst ihr heute einen schlechten Tag gehabt haben.“ Seither versuchen sie mich mit immer neuen Einfällen zu beindrucken und keiner will mehr der erste sein, der einfach drauflos prügelt. Echte und ernst gemeinte Komplimente bringen dich auch bei Kindern weit.“

Zu Lillys Aufgaben gehörte es auch, mit ihren Schützlingen zusammen das Mittagessen einzunehmen. Deshalb hatte ich sie bisher nicht beim Shoppingcenter angetroffen. „Über Mittag bin ich nur dort, wenn ich frei oder Ferien habe“, bestätigte sie. „Du magst Timo sehr, nicht wahr?“ wagte ich zu fragen. Lillys Offenheit machte es mir einfach. Sie lächelte: „Wer nicht! Es ist schön mit ihm zusammen zu sein, man würde nicht denken, wie zerrissen er innerlich ist.“ Dies erstaunte mich sehr, denn ich hatte Timo immer als besonders ausgeglichen und fröhlich erlebt und ihn dafür bewundert. „Er ist ein Empath, wie Lola“, erklärte Lilly, „das kann sehr herausfordernd sein.“ Als sie meinen fragenden Blick sah, fuhr sie fort: „Dies sind Menschen, die sich nicht nur in andere hineinversetzen können, sondern deren Gefühle, Ängste und ihren gesundheitlichen Zustand direkt am eigenen Leib spüren. Es ist schwierig für sie, ihr eigenes Energiefeld von dem anderer zu unterscheiden. Man wird mit dieser Besonderheit geboren, wie mit Linkshändigkeit. Als Kinder denken Empathen, dass alle Leute so sind wie sie und sind fassungslos, wenn ein Mensch oder Tier leidet und sie merken, dass dies andere kalt lässt. Sie können das nicht begreifen, weil dieser fremde Schmerz sie selbst mit Wucht trifft. Telepathie fällt Empathen natürlich besonders leicht. Sie sehen direkt durch die äussere Maske der Menschen hindurch, spüren die Unsicherheit hinter der Arroganz, die Angst hinter der Wut, Die Einsamkeit hinter der Redseligkeit.“ „Was für eine Begabung“, sagte ich beeindruckt. „Segen und Fluch zugleich“, relativierte Lilly. „Timo muss täglich sehr viel Energie aufwenden, um fremde Gefühle und Emotionen auf erträglichem Abstand zu halten. Manchmal gehen ihm die Nerven durch, dann, wenn es zu schrecklich wird für ihn. Wenn im Tram jemand in seiner Nähe echten Pelz trägt zum Beispiel, steigt in ihm, ohne dass er sich dagegen abgrenzen kann, das Gefühl von Panik, Eingesperrt sein, Schmerz und Angst auf. Er spürt harten, kalten Gitterboden unter den Füssen, riecht die Furcht vieler Tiere, Männerschweiss, er hört Schreie und Lärm, spürt Hoffnungslosigkeit… und vor allem eine fürchterliche, unerträgliche Enge und herzzerreissende Sehnsucht nach Freiheit. Ob diese Emotionen im Pelz geblieben sind, oder ob sichTimo unwillkürlich mit einem noch lebenden Tier irgendwo in einem Käfig verbindet beim Sehen des Pelzes, kann er nicht sagen. Doch dieses hautnah miterlebte Leiden lässt ihn manchmal ausrasten.  Letzen Winter hat er einer Frau im Nerzmantel angeboten, aus ihrem Hündchen einen Muff machen zu lassen, der würde doch schön zum Mantel passen. Er hat ihr sehr genau geschildert, was in den Farmen mit den Pelztieren geschieht. Die Frau wurde fast ohnmächtig. Eindruck hat es auf jeden Fall gemacht.“ Lilly hatte nun Tränen in den Augen und ich spürte ebenfalls einen Kloss im Hals. „Deshalb wollen die meisten Empathen viel allein sein, sie brauchen das“, erklärte Lilly weiter, als sie sich wieder gefasst hatte, „dies ist auch der wahre Grund für Timos Berufswahl. In einem Team  würde er zu viele Emotionen aufs Mal wahrnehmen müssen, das wäre sehr anstrengend und belastend für ihn.“

Ich stand auf und nahm aus meiner Malmappe die Zeichnung des kobaltblauen Bandes, welches ich an Timos Handgelenk und später bei den Leuten am Bahnhof gesehen hatte.  Ich legte sie schweigend vor Lilly auf den Tisch. Sie lächelte überrascht. „Das Flashband! Machst du auch mit bei Aktionen? Ich habe dich nie gesehen! Ich werde allerdings für eine Weile nicht mehr dabei sein, ich kann es mir mit meinem Beruf nicht leisten, nochmals von der Polizei befragt zu werden.“ Ich erklärte ihr, dass Timo mich nicht dabei haben wolle. „Es sind Flashmobs, nicht wahr?“ fragte ich. Soviel hatte ich mir bereits selber zusammen reimen können und dass Lilly von Flashband sprach, bestätigte meine Vermutung. „Ja, er organsiert sie über eine geheime Facebook Gruppe. Unterdessen machen viele Leute mit. Je nach Aktion tauchen 20, 30, 50 oder 100 plötzlich an einem Ort auf.“ Jetzt erinnerte ich mich dunkel an Berichterstattungen in der Zeitung.  „Und was machen diese Leute?“ „Je nachdem, was sich Timo ausgedacht hat. Als ich erwischt wurde, war es eine Blitzaktion in der  Delikatessenabteilung eines grossen Warenhauses. Praktisch alle ihrer sogenannten Gourmet Produkte waren unter ausgesprochen tierquälerischen Bedingungen hergestellt worden. Timo hatte bei einem Kollegen im Grafikgewerbe Kleber drucken lassen. Sie zeigten herzige Haustiere: junge Kätzchen, Hundewelpen, Wellensittiche, Goldfische, all die Favoriten. Einzelne Körperteile waren mit Leuchtstift markiert und daneben stand zum Beispiel: „Heute frisches Hundeherz!“ „Katzenbrüstchen“, „Aktion Hundeschenkel“,  „Goldfischragout“,   „Papageiengeschnetzeltes“, „Marinierter Wellensittich“ und so weiter. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass unsere sogenannten Nutztiere oft gedankenlos konsumiert werden, als ob deren Fleisch auf Bäumen wachsen würde. Dies auch von Menschen, die sich tierlieb nennen und ihren Haustieren nichts Böses zustossen lassen würden, im Gegenteil, diese werden manchmal richtiggehend verhätschelt und verwöhnt.

Unsere Aufkleber sind nur schwer zu entfernen. Dies nehmen uns die Geschäftsführer sehr übel, die meisten zeigen uns wegen Sachbeschädigung an. Jeder Flashmobber klebt  blitzschnell 6 Stück davon irgendwo hin. Nie direkt auf die Lebensmittelpackungen, wir wollen nicht, dass diese vernichtet werden müssen. Timo, oder einer von uns, schaut sich das Geschäft vorher schon mal an und zeichnet danach einen Plan von den geeignetsten Flächen, damit die Kleber schön sichtbar sind. Das Ganze darf nicht mehr als 3 Minuten dauern. Es geht uns mit dieser Aktion nicht nur ums Fleisch essen an und für sich, sondern auch um die Tatsache, dass diese Tiere oft so viel Schreckliches durchmachen müssen in ihrem Leben. Meist sind sie noch Babies, wenn sie ihren verzweifelten Müttern weggenommen werden. Ihre kurze Lebenszeit  ist oft alles andere als schön, sogar in der Schweiz. Bevor sie einen beileibe nicht immer schnellen und schmerzlosen Tod sterben, werden sie oft noch auf qualvolle, lange Transporte geschickt. Daran macht man sich vor allem mitschuldig, wenn man Fleisch aus dem Ausland kauft. Ich sage dir, jeder Horrorfilm ist harmlos gegen das, was ich schon auf Videos und Fotos mit ansehen musste. Wir könnten diese schrecklichen Bilder auf die Kleber drucken lassen, doch dann sieht jeder so schnell wie möglich weg. Mit den herzigen Haustieren bringen wir die Leute vielleicht zum Hinschauen und Nachdenken. Es ist allerdings nicht immer einfach für Timo, sich damit bei den Flashmobbern durchzusetzen. Es machen auch radikale Tierfreunde mit, die gern eine härtere Tour fahren würden. Etwas selber zu organisieren, wäre ihnen jedoch zu viel Aufwand. Timo zu drangsalieren und kritisieren ist einfacher.“

Lilly schwieg gedankenverloren. Bella, die sich sonst von fremden Leuten zwar streicheln, jedoch nicht aufheben liess, war von selbst auf ihre Knie gesprungen und lag nun, friedlich zusammengerollt, schnurrend auf ihrem Schoss. Jetzt hob sie wie fragend den Kopf. „Nein mein Schatz, keine Angst, dir passiert so etwas nicht“, versicherte ihr Lilly. „Du solltest das Geschrei hören, wenn bekannt wird, dass jemand Hunde oder Katzen isst. Als ob Schweine, Lämmer, Zickchen und Kälbchen weniger leiden würden. Gehätschelte Lieblinge die einen, reines Verbrauchsmaterial die anderen…“. Sie schluckte. Für eine Weile war es ruhig in der Wohnung, man hörte nur Bella schnurren. Ich hatte noch nie viel Fleisch gegessen und ganz damit aufgehört, als ich Timo kennengelernt hatte. Doch allmählich war mir klar geworden, dass auch die Milch – und Eierproduktion im heutigen Ausmass nicht ohne beträchtliche Grausamkeit möglich war.

Als ob sie meine Gedanken lesen könnte – oder konnte sie es etwa? sagte Lilly: „Zum Glück ist es heute so einfach, vegan oder wenigstens vegetarisch zu leben und trotzdem wunderbar zu essen, wenn man mit solchen Machenschaften nichts mehr zu tun haben will. Folglich wählen seit Jahren immer mehr Leute  diesen Weg. Doch es ist bereits viel erreicht, wenn sich auch die Fleisch- und Fischkonsumenten anfangen Gedanken zu machen, wie und wo diese Tiere gelebt haben, wie sie gehalten wurden und wie sie gestorben sind. Wenn immer mehr Leute nicht mehr möglichst billiges Fleisch einkaufen und allgemein ihren Konsum drosseln, vielleicht ab und zu einen fleischlosen Tag einlegen, müssen die Fleischproduzenten und Händler irgendwann umdenken.“

Lilly war damals im Laden erwischt worden, weil sie zu perfektionistisch war – sie brachte ihre Aufkleber schön ausgerichtet an und strich sie sogar noch glatt. So brauchte sie länger als die 3 Minuten, die pro Flash, wie sie es nannte, eingeplant waren. Die meisten Geschäfte hätten interne Security Leute, die blitzschnell vor Ort seien. „Jeder von uns muss für sich schauen“, erklärte sie mir, „den Job machen und sofort wieder verschwinden. Doch Timo achtete auf mich und schaute nochmals zurück. Prompt wurde ihm von den ersten Sicherheitsmännern der Weg abgeschnitten. Er sprang über eine Reihe Einkaufswagen, stürzte und verstauchte sich das Handgelenk. Doch er konnte fliehen. Mich hatte jedoch bereits ein Security Mann am Arm gepackt.“ „Und wie ging es weiter?“ fragte ich und hätte das zarte Persönchen am liebsten in den Arm genommen beim Gedanken, dass sie grob behandelt worden sein könnte. „Ich behauptete, nichts mit dem Flashmob zu tun zu haben. Ich sei eine zufällig anwesende Kundin und hätte die Kleber nur lesen wollen. Da ich kurzsichtig sei, das bin ich wirklich, hätte ich ganz nah rangehen müssen. Sie nahmen meine Personalien auf und stellten viele Fragen, auch zu meinem blauen Armband. Sie hatten dies an mehreren Personen entdeckt, klar, es ist unser Erkennungszeichen. Doch ich drehte mein Handgelenk um und zeigte auf das „V“: „So eins tragen viele Veganer. Es ist wie ein Abzeichen. Gut möglich, dass es welche unter dem Flashmob hatte. Es würde zum Thema passen.“ Lilly musste unwillkürlich lachen. „Sie glaubten mir kein einziges Wort. Doch sie konnten mir nichts beweisen; und ich kann sehr harmlos und unschuldig schauen. Die Lillie vom Felde halt. Meine tätowierte Schwester hätte es vielleicht schwerer gehabt. Ich glaube, sie hielten mich für ein bisschen beschränkt. Jedenfalls kam ich mit einer Verwarnung davon.“

Lilly schaute auf die Uhr: „Ich erzähle dir ein anderes Mal mehr. Nun muss ich gehen, ich will noch einkaufen, bevor die Läden schliessen.“ Sie musste die protestierende Bella richtiggehend von ihren Knien schubsen. Ich traute meinen Augen nicht. Fast war ich ein wenig eifersüchtig. Später richtete ich mein Nachtessen und wählte für Bella ohne grosse Hoffnung ein besonders feines Futter aus meiner umfassenden Auswahl. Sie hatte an dem Tag noch so gut wie nichts  gefressen, was gefährlich war für sie und ihre Krankheit noch verschlimmerte. Ich hatte ihr dies immer und immer wieder versucht zu erklären. Timo bestätigte, dass sie mich verstanden hatte. Dennoch wandte sich Bella meist nach wenigen Bissen vom Fressen ab und zog sich aufs hohe Bücherregal zurück, wo sie ihre Ruhe hatte. Nach draussen wollte sie schon länger nicht mehr.

Heute Abend betrachtete ich nachdenklich die gefüllte Futterschüssel, bevor ich sie auf den Boden stellte. Dann nahm ich Bella auf  den Arm und streichelte sie. „Du bist eine wunderschöne Katze, alles an dir ist einfach perfekt“, sagte ich zu ihr. „ Das feine Nachtessen wird dafür sorgen, dass dein seidiges Fell so prachtvoll bleibt. Deine schönen, strammen Beine werden stark bleiben, damit du weiterhin elegant aufs oberste Regal springen kannst. Alle Spielmäuse müssen sich in Acht nehmen vor dir, denn du tankst jetzt Energie und wirst die schnellste Katze weit und breit.“ Ich stellte sie vor die Futterschüssel. „Schau mal, wunderbares, gesundes Fressen für eine absolut wunderbare, gesunde Katze.“ Ich kam mir, ehrlich gesagt, ziemlich komisch vor und war froh, dass mich niemand hörte. Doch, wie Lilly vorhergesagt hatte, sind Katzen offenbar sehr empfänglich für Komplimente. Nach kurzem Zögern fing Bella an zu fressen und hörte nicht mehr auf, bis fast alles weggeputzt war. „Du hast mich gerade zum allerglücklichsten Menschen gemacht, Bella“, sagte ich, und dies war keine Schmeichelei, sondern die pure Wahrheit.

Kommentar verfassen