Wie ein Sechser im Lotto
Mia rannte in Flip Flops und mit der ganzen Unbekümmertheit ihrer elf Jahre den kleinen Pfad hinunter. Die Campingferien am See gingen immer viel zu schnell vorüber. Mia wollte die Zeit nutzen.
Sie hatte die kleine Höhle aus Naturstein per Zufall gefunden. Eine Trauerweide verdeckte den Eingang fast ganz mit ihren langen Zweigen und machte sie so zum idealen Spielplatz.
Wenn Mia sich auf den Stein am Ufer setzte, konnte sie ihre Füsse im Wasser baumeln lassen und dabei den Fischen zusehen. Die Eltern waren nicht begeistert, dass ihre Tochter so oft allein unterwegs war. Doch die Tatsache, dass es auf diesem Uferweg viele Spaziergänger und manchmal Fischer hatte, beruhigte sie ein wenig.
Fischer! Für Mia ein Dorn im Auge. Sie liebte alle Tiere und weigerte sich strikt, Fleisch oder Fisch zu essen. Ihre Eltern hatten dies irgendwann akzeptiert. Mia konnte sehr dickköpfig sein.
Als sie nun ausser Atem beim See ankam, spürte sie eine eigenartige Spannung in der Luft, noch bevor sie den Vater mit Sohn am Ufer entdeckte. Beide hielten Angelruten ins Wasser. Tränen schossen in Mias Augen. Noch nie hatte sie hier Fischer angetroffen.
„Geht weg! Ihr dürft hier nichts fangen!“ flüsterte sie hilflos vor sich hin. Der Mann war gross und schaute finster. Mia wagte nicht, laut zu protestieren.
Doch sie beschloss, ein Stück weiter vorn ins Wasser zu gehen und absichtlich Wellen zu machen. Vielleicht würde die Unruhe die Fische vertreiben. Am Ufer blieb Mia vor Schreck wie angewurzelt stehen: da lag eine Fischfalle aus Plastik im See. Darin zwei mittelgrosse Fische, bunt schillernde, mit feinen Streifen an den Seiten. Der grössere hatte neben dem Maul sechs lustige Punkte, wie die Augen eines Würfels. Mia blickte schnell zu den Fischern hinüber. Diese hatten sie offenbar noch nicht bemerkt. „Es tut mir so, so leid“, flüsterte sie den Fischen zu, doch diese schwammen Seite an Seite in ihrem bisschen Wasser und schauten auf den See hinaus. Tränen liefen über Mias Gesicht.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Vater seinen Sohn anwies, die leere Angel einzurollen. Die beiden machten sich zum Gehen bereit und würden wohl gleich ihre Beute holen. Mias Herz raste. Sie kauerte sich neben die Falle. Der grössere Fisch wandte den Kopf und schaute ihr einen Moment lang direkt in die Augen.
Mia kam eine Idee. Sie sprang auf und rannte zu ihrer Höhle. Dort hatte sie ein kleines Taschenmesser versteckt. Mia hatte bisher nicht gewagt, es zu benutzen, da die Klinge sehr scharf war. Während sie damit zum Ufer zurückhetzte, packten die Fischer bereits ihre Taschen. Zum Glück wandten ihr beide den Rücken zu, als sie die dicke Plastikfolie aufschnitt. Zuerst blieben die Fische reglos, doch nachdem Mia sanft die Folie angehoben hatte, kam Bewegung in die Tiere und sie schwammen mit schnellen Schwanzschlägen aus der Falle in den See hinaus.
Als Mia davonrannte, hörte sie hinter sich das wütende Rufen und Fluchen des Mannes. Auf dem Campingplatz verzog sie sich rasch ins Innere des Zeltes. Der Mutter erzählte sie etwas von plötzlichen Bauchschmerzen. Mia musste nicht einmal lügen, denn vor Aufregung krampfte sich nun ihr Magen zusammen. Sie blieb im Zelt und ging erst nach Einbruch der Dunkelheit zu den Toiletten. Als sie danach am langen Trog ihre Hände wusch, tippte jemand auf ihre Schulter. Mia erschrak und drehte sich rasch um. Vor ihr stand der Fischerjunge und grinste sie an. „Ich weiss, dass du es warst“, sagte er leise. Mia spürte, wie sie rot wurde. „Wovon redest du…?“ murmelte sie, zuckte mit den Schultern und wollte weggehen. Doch der Junge packte sie am Arm.
Zu Mias Überraschung schien er nicht böse, sondern lächelte. Er war etwas grösser als sie und hatte sandfarbenes, verstrubeltes Haar. „Ich heisse Ken“, sagte er, „und ich finde dich cool. Was du heute getan hast, war mutig. Ich hasse Fischen. Ich will gar nicht lernen, wie man Tiere tötet, aber mein Vater…“ Er sah sich nervös um. „Er ist sehr wütend und sollte uns besser nicht zusammen sehen. Zum Glück reisen wir morgen ohnehin ab.“ Er drückte Mia einen Zettel in die Hand. „Meine Adresse. Vielleicht schreibst du mir ja mal?“ Und weg war er.
Am nächsten Tag ging Mia nur langsam den Weg zum See hinunter. Weit und breit waren keine Fischer zu sehen und sie atmete auf. Später wagte zum ersten Mal, mit ihrem Messer ein Stück Holz zu bearbeiten. „Schliesslich bin ich cool“, sagte sie laut vor sich hin, doch das machte sie verlegen. Schnell lief sie zum Ufer, streckte ihre Beine in den See und blinzelte in die Sonne.
Erst als sie ein zartes Stupfen an ihren Füssen bemerkte, schaute Mia ins Wasser. Zwei schillernde Fische mit feinen Querstreifen schwammen um sie herum und berührten sie immer wieder vorsichtig mit ihren Nasen. Der grössere Fisch schien sie direkt anzusehen. Die sechs Punkte neben seinem Maul schimmerten dunkel wie die Augen eines Würfels. Er stupste nochmals sanft gegen Mias Bein, bevor beide Fische ins offene Wasser zurückschwammen.