Die Grenzen verwischen

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Zufrieden und zuversichtlich ging ich an diesem Abend zu Bett. Lilly hatte etwas tief in mir drin berührt. Ich fühlte eine Mischung aus Bewunderung für ihre Intuition und feinfühlige Art und Dankbarkeit, dass sie sich so viel Zeit für Bella und mich genommen hatte.

Doch ich konnte nicht einschlafen. Erst ging mir die Unterhaltung mit Lilly überTimo im Kopf herum. Wie schwierig musste es sein, wenn man die Schmerzen, Enttäuschungen und Emotionen anderer ganz ohne Schutz am eigenen Körper spürte. Ob er auch Freude, Verliebtheit und Hoffnung von seiner Umgebung übernehmen konnte? „Sicher!“ tröstete ich mich, „nicht jeder trägt schliesslich grosses Leid mit sich herum.“ Ich dachte an seine vor Heiterkeit funkelnden Augen, wenn er mir eine lustige Geschichte erzählte. Wie er sich freute, wenn er jemandem mit einer Kleinigkeit ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Er holte sich bestimmt auch viel gute Energie aus seiner Umgebung.

Einmal hatte er mir erzählt, dass die junge Frau, die soeben ins Shopping Center gegangen sei, eigenen Schmuck kreiere. „Sie denkt gerade an all die Arbeit und Begeisterung, mit der sie die Sachen hergestellt hat“, erzählte er mir. „Nun hat sie diese bereit zum dritten Mal in einer Boutique zum Verkauf angeboten und wurde ziemlich schnöde abgewiesen. Ihr Mut ist weg, sie zweifelt an ihrem Talent und Können. Sie wird sich nicht getrauen, ihr Werk nochmals irgendwo anzubieten. Nun kommst du ins Spiel. Sie trägt bestimmt eines ihrer Schmuckstücke. Brich in Begeisterung aus darüber! Frag sie, wo man so etwas kaufen kann.“ Er drückte mir 100 Franken in die Hand. „Wenn sie etwas zu verkaufen dabei hat, such etwas Schönes aus. Ich finde schon eine Abnehmerin dafür.“ Er wurde sogar etwas rot dabei. „Willst du das nicht selber machen?“ fragte ich, verwirrt durch seine Verlegenheit. Doch seine Antwort ergab Sinn. „Sie ist sehr hübsch und ich bin ein Mann. Sie würde denken, ich versuche sie bloss anzubaggern. Sie würde meinem Urteil weniger trauen als deinem. Geh und mach ihr Mut, Du weisst ja unterdessen, wie das geht.“

Die schlanke junge Frau trug eine auffällige Afrofrisur und hatte grosse, dunkle Augen. Sie war tatsächlich mit einer Menge Schmuck behangen: mit Ohrringen, Armbändern, Halsketten und Fingerringen. Es waren bunte, auffällige, verspielte Kreationen Richtung Hippie Stil, jedoch geschmackvoll. Ich wartete, bis die junge Frau ihre Einkäufe bezahlt hatte, bevor ich sie ansprach. Ihre Augen leuchteten auf und sie zeigte mir bereitwillig ihre Accessoires. Erst als ich sie fragte, wo ich denn so etwas bekommen könnte, rückte sie damit heraus, dass sie die Sachen selber herstelle. „Nur für den Hausgebrauch“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Was für eine Verschwendung von Talent“, rief ich aus, „Sie sind eine Künstlerin. Sie sollten den Schmuck unbedingt verkaufen!“ Es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich immer eine kleine Auswahl zum Anbieten dabei hatte. Darunter war eine hübsche Halskette aus ovalen, kobaltblauen Schmucksteinen. Ich wählte diese und dachte an das kobaltblaue Armband, über welches ich nie mit Timo gesprochen hatte. Ich war gespannt, ob er etwas dazu sagen würde. Doch erst einmal bestätigte ich Helene, so hiess die junge Künstlerin, darin, dass ihre Schmuckstücke aussergewöhnlich schön seien und unbedingt ausgestellt gehörten. „Haben Sie nicht die Möglichkeit, irgendwo ein kleines Atelier aufzumachen?“, fragte ich sie. „Ihr Schmuck ist sehr speziell und sollte nicht in einem 08.15 Laden verkauft werden, dort sehen ihn nicht die richtigen Leute“, versicherte ich ihr. „Das ist auch eine Art, es zu sehen“, lachte Helene, erzählte jedoch nichts weiter dazu. „Hm, ich müsste bei mir zu Hause anfangen…doch eigentlich, warum nicht…?“ meinte sie schliesslich und ich konnte richtiggehend sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Ich gab ihr meine Mailadresse und bat sie, mich auf dem Laufenden zu halten.

„Hoffentlich kennst du genug Frauen, die an Schmuck interessiert sind, falls Helene in Zukunft irgendwo ausstellt“, sagte ich nachher zu Timo. „Für meine Generation passt er nun mal weniger.“ Timo liess die Kette wortlos in seiner Tasche verschwinden und versuchte das Thema zu wechseln, doch ich liess mich nicht ablenken. „Findest du die Kette nicht schön?“, fragte ich, „ich dachte, dieses Blau gefalle dir sicher.“ „Doch, sie ist perfekt, danke. Hat dir diese Helene auch ihre Adresse gegeben?“ Timo tätschelte Buddy und schaute mich nicht an. Ich sah dennoch, dass er wieder ein bisschen rot geworden war. „Nein, sie wird sich bei mir melden. Was ist denn mit dir los?“ Er räusperte sich. „Nichts, ich habe nur ein Kratzen im Hals und keine Pfefferminz mehr. Ich gehe rasch zum Kiosk.“ Danach sprachen wir nicht mehr von Helene. Ich weiss nicht, warum sie mir jetzt, mitten in der Nacht, in den Sinn gekommen war.

Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, jedenfalls schreckte ich mit rasendem Herzen aus einem Albtraum auf. Es war unterdessen Sommer geworden und die Hitze liess auch über Nacht kaum nach, zumindest in der Wohnung blieb es drückend. Doch ich hatte nicht nur geschwitzt. Ich hatte mich eingeengt gefühlt, schmutzig, verzweifelt, durstig. Wenn immer ich mich bewegte, zog sich etwas schmerzhaft zu um meinen Hals und ich hatte das Gefühl, ich müsse ersticken. Obwohl ich keinen grossen Durst hatte, holte ich mir ein Glas Wasser. Im Traum hätte ich alles dafür gegeben. Ich hatte einen seltsamen Geruch in der Nase, nach Urin, Fäkalien und verdorbenem Fleisch, absolut widerlich. Ich schaute nach Bella. Sie schlief friedlich und tief am Fussende meines Bettes. Vorsichtig machte ich helleres Licht und holte mein Buch. Für den Moment hatte ich keine Lust mehr auf Schlaf, zu nah spürte ich den Traum immer noch, obwohl ich mich gar nicht detailliert daran erinnern konnte. Erst als es draussen dämmerte, hatte ich mich genügend abgelenkt. Nun streckte ich mich wohlig aus im Bett und schloss die Augen. Es war noch zu früh zum Aufstehen. Bella bettelte nur noch selten um Frühstück um diese Zeit. Ich liess mich entspannt in einen leichten Schlummer sinken, nur um gleich wieder aufzuschrecken. Ich hatte Wimmern gehört, Angst gefühlt; und nun war da wieder dieser Geruch in meiner Nase. Bella schlief noch immer, ihre Schwanzspitze zuckte im Traum und sie gab leise, fiepende Geräusche von sich. Doch was mich betraf, war an friedlichen Schlaf  offenbar nicht zu denken.

Seufzend stand ich auf. Als erstes schrieb ich Cedric eine lange Mail, erzählte das Neueste von mir und Bella und fragte, ob alles in Ordnung sei bei ihnen. Ich hatte die junge Familie erst wenige Male gesehen, seit das Baby auf die Welt gekommen war. Dank Internet und Facebook waren wir jedoch häufig in Kontakt. So war ich wenigstens auf dem Laufenden und erhielt ständig neue Fotos. Meistens schrieben wir uns nur kurze Mitteilungen, längere Mails tauschten wir eher selten aus. Doch heute Morgen hatte ich das Gefühl, dass irgendwo etwas nicht in Ordnung war, dass der Traum mich auf etwas hinweisen wollte. Diesen erwähnte ich jedoch nicht in der Mail, ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er die Familie in Italien betreffen könnte. Doch da dort meine liebsten Menschen wohnten, wollte ich sicher sein. Cedric schrieb gleich zurück, nur kurz. Sie hätten im Moment schlaflose Nächte, da Sofia zahne und viel weine. Sonst sei alles in Ordnung und er schreibe mehr, wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt sei im Haus. „Siehe Facebook“, schrieb er und postete Fotos von Angelita und sich selbst, schlaftrunken und mit zerwühlten Haaren, die weinende Sofia auf dem Arm. Ich konnte mich gut in ihre Lage hinein versetzen, mit meinem Traum hatte diese jedoch offenbar nichts zu tun.

Ich beschloss, Timo zu fragen, was er dazu meinte. Ich vermisste ihn ohnehin. Lilly hatte mir Zuversicht und Hoffnung geschenkt, was Bella betraf, ich fühlte mich nicht mehr so hilflos ihrer Krankheit gegenüber. „Sieh nur die  gesunde, schöne Katze in ihr. Sie will nicht dein Mitleid, sie braucht deine positive Unterstützung“, hatte sie beim Abschied nochmals betont. Also überschüttete ich Bella als erstes mit Komplimenten, als sie kurz nach mir aufstand. Sie rieb ihren Kopf an meinem Bein und schnurrte laut. Zwar frass sie noch immer nicht so viel, wie ich gern gesehen hätte, doch bedeutend mehr als in den letzten Tagen.

Ich war richtig erleichtert, als ich Timo und Buddy beim Fluss entdeckte. Wie sehr ich ihn und unsere Gespräche vermisst hatte, merkte ich erst jetzt so richtig. Er hatte es jeden Tag geschafft, mich zum Lachen zu bringen und mich aufzuheitern. Ich glaube, er hatte mich auch ein wenig vermisst, jedenfalls umarmte er mich sehr herzlich zur Begrüssung. Wir hatten uns viel zu erzählen. Die Pfefferminzrolle ging viele Male von ihm zu mir und zurück. Erst nach etwa einer Stunde kam ich auf meinen Traum zu sprechen. Timo schwieg dazu. So erzählte ich noch etwas mehr davon, beschrieb den Geruch, das einengende Gefühl um den Hals. Noch immer sagte er nichts. Er kraulte Buddy am Hals und schaute gedankenverloren aufs Wasser. „Timo…! Wo bist du? Langweile ich dich mit meinem Traum?“ fragte ich etwas irritiert. Er drehte den Kopf zu mir und schaute mich ernst an. „Das ging schnell“, sagte er nur und schwieg weiter. „Oh, danke, nun verstehe ich alles“, versuchte ich zynisch zu sein, doch vor allem war ich verunsichert. Ich kannte Timo so nicht. Doch dann legte er den Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. „Tut mir leid, Wisp! Ich weiss im Moment einfach nicht, was ich sagen soll. Manchmal, wenn ein Tier in grosser Not ist, sendet es Bilder und Gefühle aus und versucht, einen Menschen zu finden, der es versteht und der zu Hilfe kommt. Ich hätte nicht gedacht, dass du das schon auffangen könntest. Du hast ja eben erst gelernt, was Tierkommunikation überhaupt ist. Vielleicht hat dich die Sorge um Bella so hochempfänglich gemacht. Versteh mich nicht falsch, es ist ganz toll und ich bin stolz auf dich“, wieder drückte er meine Schulter, fast schmerzhaft diesmal, „doch es ist auch belastend und eine Verantwortung. Was willst du nun tun? Es zu ignorieren versuchen? Glaub mir, ich weiss aus Erfahrung, dass dies nicht funktioniert. Der Traum wird dich nicht loslassen, denn es ist natürlich kein Traum. Im Schlaf bist du auf einer Wellenlänge, auf der dich ein Tier erreichen kann, wenn du offen und empfänglich genug bist dafür. Es hat vielleicht nicht einmal dich persönlich ausgesucht, doch es sendet Hilferufe, die du nun hörst, ob du willst oder nicht. Nur wenn du sie konsequent ignorierst und deine empathische Seite verleugnest, werden sie schwächer und bleiben irgendwann ganz aus. Es ist deine Wahl, triff sie jetzt. Wenn du dieses grosse Geschenk, denn ein solches ist es, annimmst, brauchst du Mut. Meistens erreichen diese Signale jedoch ohnehin nicht die Feiglinge unter den Menschen. Wir können traumatisierte Tiere nicht nur ein bisschen spüren, es trifft uns mit Wucht.  Doch wir überstehen diesen fremden Schmerz, wir lernen ihn wieder loszulassen, wir lernen uns zu schützen. Ich helfe dir dabei. Die Tiere können das nicht. Wir, die sie hören, sind ihre einzige Chance. Wenn sie uns von sich aus rufen, sind sie sehr verzweifelt.“

Nun war es an mir, zu schweigen und nachzudenken. „Ich würde noch so gern helfen“, sagte ich schliesslich. „Doch wie? Ich weiss nicht einmal, was für ein Tier mich hier ruft.“ „Wenn ich so etwas erlebe“, meinte Timo, „versuche ich es  gar nicht erst über den Kopf zu lösen. Ich meditiere viel, achte auf meine Eingebungen und Intuition und natürlich auf das, was über meine Träume zu mir kommt. Dies wird erfahrungsgemäss immer intensiver und schmerzhafter, es ist also gut, wenn man so schnell wie möglich eingreifen kann. Es betrifft normalerweise eine Situation, die räumlich nicht allzu weit entfernt ist. Was deine Mitteilung angeht, habe ich sogar einen bestimmten Verdacht. Erzähl mir nochmals alles genau.“

Zehn Minuten später war ich in Tränen aufgelöst. Als ich zu reden begonnen hatte, kamen all die Gefühle und Gerüche mit grosser Intensität zurück. Ich spürte hoffnungslose Angst in mir, fing an zu zittern und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Sogar Buddy fing solidarisch an zu heulen. Timo hielt mich fest. Zum Glück sassen wir am Fluss unten auf unserem Lieblingsstein und hatten keine Zuschauer. Ich suchte ein Taschentuch und versuchte, die Schluchzer zu unterdrücken, doch Timo schüttelte den Kopf. „Lass die Tränen laufen“, sagte er leise. „Wenn man etwas so intensiv spürt, holt es oft andere, unterdrückte Gefühle mit an die Oberfläche. Die übliche Verdrängungstaktik greift plötzlich nicht mehr. Akzeptiere diese Emotionen so wie sie sind, atme ruhig durch sie hindurch und sie werden sich auflösen und viel Energie in dir freisetzen.“

Wir sassen lange zusammen auf dem harten Stein. Meine Tränen waren irgendwann versiegt. Ich fühlte eine eigenartige Ruhe und Stärke in mir, doch ich hatte keine Lust zu reden und war Timo dankbar, dass er einfach da war. „Wie kommt es, dass du gerade heute so viel Zeit hattest?“ fragte ich ihn doch irgendwann und er antwortete schlicht: „Weil du mich gerade heute brauchtest.“ „Du meine Güte, wenn wir von brauchen sprechen… Bella braucht doch ihr Nachtessen“, kam mir in den Sinn. Ich hatte die Zeit ganz vergessen. „Ja, Buddy hat auch Hunger“, schmunzelte Timo, „und ich könnte ebenfalls etwas vertragen. Du sicher auch. Weisst du was? Wenn du einverstanden bist, begleiten wir dich nach Hause und wenn Bella versorgt ist, nehme ich dich mit in unser Haus am Waldrand. Dort gibt es täglich etwas zu essen am Abend und davon immer mehr als genug. Einmal in der Woche machen zwei von uns einen Grosseinkauf. Ich glaube, es  ist an der Zeit, dass du Mona und die anderen kennen lernst.“ Ich hielt den Atem an vor Überraschung und Freude. Über das geheimnisvolle Haus am Waldrand hatte ich Timo bereits einige Male versucht auszufragen. Offenbar wohnten sie alle zeitweise dort. Lola hatte es damals erwähnt und auch in Lillys Erzählungen kam es ein paar Mal vor. Andere Tierschützer, wie Leute aus den Flashmobs, fanden dort offenbar ebenfalls Unterschlupf wenn nötig. Mehr wollte mir niemand dazu erzählen. „Das Haus gehört Mona, die so gar nicht zu uns passt. Warum wir dort wohnen dürfen, werden wir wohl nie verstehen“, war leider alles, was sogar die sonst gar nicht verschwiegene Lilly dazu zu bemerken bereit war.

Timo war an dem Tag zum ersten Mal bei mir zu Hause. Bella kannte er bisher nur von Fotos. Es war ein eigenartiges Gefühl, diesen mir unterdessen so vertrauten jungen Mann in der eigenen Wohnung zu sehen, es war, als ob zwei verschiedene Leben zusammen kommen würden. Während ich Bella fütterte, lehnte Timo im Türrahmen zur Küche. Buddy wartete brav vor der Wohnungstür. Obwohl er Katzen, wenn sie nicht gerade flüchteten, nicht gross beachtete, wollte ich Bella nicht ängstigen. Ich wusste nicht, welche Erfahrungen sie in ihrem Leben mit Hunden gemacht hatte. „Ich möchte mich rasch umziehen und ein bisschen frisch machen“, sagte ich nach dem Füttern zu Timo, „ich sehe schrecklich aus mit meinem verheultem Gesicht und den zerknitterten Kleidern. Was soll ich denn anziehen?“ Plötzlich war ich nervös. Diese Mona, so viel hatte ich aus den Andeutungen heraus gehört, war offenbar allen immens wichtig. Sie musste irgendwie eine Sonderstellung einnehmen. Timo lachte und zupfte an meinen weissen Haarbüscheln. „Ich mag es, wenn deine Haare so abstehen. Du siehst aus, als ob du damit fliegen könntest. Oder ausserirdische Botschaften empfangen. Mach dir keine Gedanken über dein Aussehen, es ist alles in Ordnung. Nimm jedoch eine Jacke mit, im Sommer sitzen wir nachts meistens lange draussen und es kann kühl werden vom Wald her.“

Als ich aus dem Bad kam, betrachtete Timo gerade die Fotos in meinem Wohnzimmer. Ich erklärte ihm, wer die Personen darauf waren und erzählte kurz, was er dazu wissen musste aus meinem Leben. Ich streifte meine Ehe und das Ende davon, erzählte von Cedric, Angelita und meinem Enkelkind. Ein bisschen etwas wusste er natürlich bereits über mich, doch mit den Fotos konnte ich ihm alles lebendiger erzählen. Anders als sonst wurde ich heute nicht traurig, wenn ich  Angelitas strahlendes Gesicht ansah oder Sofia betrachtete, die so schnell wuchs, dass mir mit jedem Foto klarer wurde, wie viel ich aus ihrem Leben verpasste. Stattdessen kam mir eine Idee. „Timo, du sprichst doch Italienisch, kannst du mir das nicht beibringen? Wenn meine Enkeltochter zu sprechen beginnt, möchte ich mich schliesslich mit ihr unterhalten können. Ich will wieder einmal nach Rom zu Besuch und nicht  mehr stumm dabei sitzen, wenn die italienische Familie rund um mich herum redet, sondern mithalten können.“ „Ma certo, cara mia“, lachte Timo, „ich spreche ab sofort nur noch Italienisch mit dir, wenn du willst.“ „So habe ich es nicht gemeint, langsam…piano!“ lachte ich zurück, doch der Gedanke, diese Sprache lernen zu können, machte mich glücklich. Warum hatte ich nicht schon lange daran gedacht, statt hier Trübsal zu blasen und meine Familie zu vermissen? Im Moment wollte ich Bella zwar nicht allein lassen, doch in meinem Alter lernt man eine neue Sprache ohnehin nicht über Nacht. Bevor wir aus dem Haus gingen, kauerte sich Timo noch zu meiner Katze auf den Boden. Sie war immer irgendwo in seiner Nähe geblieben. Nun streichelte er ihren Kopf und sie schloss geniesserisch die Augen. „Sie hätte gern einen flacheren, grösseren Napf, es stört sie, wenn ihre Schnauzhaare beim Fressen seitlich anstossen. Und bloss kein Plastikgeschirr!“ richtete Timo aus. „Ausserdem wünscht sie sich feineren Katzensatz in ihrem Kistchen, solchen, der ihren Pfoten nicht weh tut. Das Nierendiätfutter findet sie höchstens mit Fisch gemischt einigermassen geniessbar, sie möchte es nicht täglich fressen müssen.“ „Oh“, sagte ich überrascht, „diese Gedanken hatte ich mir gar nie gemacht, doch ich verstehe Bella. Das mit dem Futter muss ich allerdings erst mit dem Tierarzt besprechen.“

Buddy hatte ruhig gewartet, doch er freute sich sichtlich, uns wieder zu sehen. Timo hatte mich um einen alten Teller gebeten und gab seinem Hund nun das Futter, welches er unterwegs gekauft hatte. Dann schaute er mich an: „Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sind wir eine Weile unterwegs, obwohl das Haus nicht allzu weit von der Stadt Zürich entfernt ist. Ich darf später sicher Monas Auto benutzen, um dich nach Hause zu fahren.“ Ich wurde immer neugieriger. Wir fuhren drei Stationen mit dem Zug und warteten dort auf einen Bus, der uns nochmals zwei Stationen in die Höhe bringen sollte. Ich kannte mich hier nicht aus. Der Strasse entlang standen viele Häuser und zwischen Feldern und Obstbäumen schauten zwei rote Hausdächer hervor, wahrscheinlich Bauernhäuser. Timo deutete mit dem Kopf auf sie. „Von dort irgendwo könnte der Hilfeschrei hergekommen sein. Ich muss mir überlegen, wie wir am besten vorgehen. Schick heute Abend beim Zubettgehen dem Tier die Nachricht, dass du es gehört hast und dass wir es bald finden werden. Dann wirst du ruhig schlafen können. Oh, wir haben Glück, hier kommt unser Bus. Er fährt nicht allzu häufig in dieser Gegend.“ Als wir ausstiegen, fanden wir uns inmitten von Wiesen und Feldern wieder, nahe bei einem kleinen Wald. „Komm“, sagte Timo, „ wir haben noch zehn Minuten Fussweg vor uns.“ Schweigend ging ich hinter ihm her. Es war herrlich ruhig hier oben, nur vom Waldrand her kam Kuhglockengebimmel. Es roch würzig nach Gras und Heu. Irgendwo bellte ein Hund, Buddy bellte träge zurück. Timo jedoch schien mir aussergewöhnlich ruhig. Gerade wollte ich einige Fragen zum Haus und vor allem zu dieser Mona stellen, als er abrupt stehen blieb. Fast wäre ich mit ihm zusammen gestossen. „Vielleicht sollte ich dich warnen“, meinte er, offenbar wieder einmal meine Gedanken lesend. „Mona ist eine wunderbare Frau und wir haben ihr unendlich viel zu verdanken. Doch sie ist eine eigenwillige Persönlichkeit und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich weiss nicht, wie sie auf dich reagieren wird. Takt ist nicht gerade ihre Stärke. Zudem mag sie keine Überraschungen und ich habe dich nicht angemeldet. Ich hoffe sie benimmt sich anständig, doch man kann bei ihr nie ganz sicher sein.“ Bevor ich etwas sagen konnte, ging er rasch weiter und nach der nächsten Wegbiegung standen wir bereits fast vor dem Haus. Es war zweistöckig und langgezogen, halb Chalet, halb Landhausstil, mit etwas südländischem Einschlag.  „Sehr eigenwillig, offenbar wie die Besitzerin“, dachte ich amüsiert, jedoch auch etwas nervös. Hinter dem Haus hörten wir das Lachen und Rufen von mehreren Leuten. „Hast du Hunger?“ fragte Timo. „Es brennt bestimmt ein Feuer beim Sitzplatz. Du wirst staunen, was man alles grillieren kann, auch ohne Fleisch. Wenn wir Glück haben, ist jemand dabei, Spaghetti zu kochen in der Küche.“ Der Gedanke an Essen liess meinen Magen knurren. Doch kaum hatten wir ein paar weitere Schritte getan, trat eine Frau, die nur Mona sein konnte, aus dem Haus. Ich weiss nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte, doch so auf keinen Fall. Zwar war sie unbestritten eine attraktive Frau mittleren Alters, mit halblangen, blondierten Haaren, die sehr sorgfältig und makellos nach hinten frisiert waren. Doch ich fand sie viel zu auffällig geschminkt. In ihrem eleganten Kostüm und den halbhohen Pumps, auf welchen sie kaum gehen konnte auf dem Kiesplatz, sah sie in dieser ländlichen Gegend ziemlich deplatziert aus. Wie in einer Werbeaufnahme vor einem unpassenden, gewollt rustikalen Hintergrund. „Vielleicht kommt sie gerade von der Arbeit“, dachte ich, als ich mich von der ersten Überraschung erholt hatte, „ich weiss so gut wie nichts über sie.“ Timo begrüsste Mona mit einem Kuss auf die Wange und stellte mich vor. „Du siehst lustig aus, wie eine Pusteblume“, sagte Mona statt einer Begrüssung, doch sie lächelte nicht dabei. Timo und ich wechselten einen Blick, dann prusteten wir beide los. Das hatte ich nun wirklich noch nie gehört über meine Haare. Mona gefiel es offenbar nicht, dass wir uns so gut verstanden. Sie wandte sich abrupt zum Gehen: „Wir essen hinter dem Haus. Timo, vielleicht möchtest du für deine Grossmutter einen bequemen Stuhl aus dem Wohnzimmer mitnehmen?“ Grossmutter?! Ich glaubte, mich verhört zu haben.  Natürlich könnte ich sehr gut Timos Mutter sein, aber Grossmutter?! Ich starrte Mona mit offenem Mund an. Jetzt lächelte sie freundlich.

Ich ahnte es gleich – dies war der Anfang einer wunderbaren Feindschaft.

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