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Buddy wollte weder bei mir bleiben noch gestreichelt werden, sondern ging unruhig im Zimmer auf und ab. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Von Zeit zu Zeit heulte er kurz auf. Mit uns sass ein junges Pärchen mit zwei Ratten, von denen die eine nervös an ihren Käfigstangen nagte und die andere ständig quiekte, im Wartezimmer. Nebenan konnte man Destiny winseln hören. Buddy kratzte an der Verbindungstür, er wollte zu Timo. „Bleib bei mir, gleich wirst du abgeholt und darfst raus. Destiny braucht jetzt ihre Ruhe“, versuchte ich ihn erfolglos zu beruhigen. Es lag eine Spannung in der Luft, die man fast mit Händen greifen konnte. Meine eigene Nervosität beim Gedanken, dass gleich Timos Vater auftauchen würde, half auch nicht gerade. Schliesslich nahm ich Buddys Leine: „Komm, wir warten draussen auf Gian-Luca.“
Kaum waren wir im Freien, klingelte mein Handy. Samira! Ich nahm den Anruf entgegen und obwohl mich niemand hören konnte, flüsterte ich unwillkürlich. Samira schien dies nicht zu bemerken. „Diese Dawn ist ja vielleicht eine harte Nuss“, rief sie. Sie tönte höchst entrüstet. Offenbar hatte ihr Plan nicht nach Wunsch funktioniert. „Jetzt verstehe ich den Ausdruck „eine kühle Blonde“, fuhr sie fort. „Da holst du dir ja glatt eine Erkältung. Steht da, schaut mich an mit ihren unglaublich blauen Augen und sagt: „Wirklich, eine ehemalige Nachbarin sind Sie?“ Sie hat mich nicht geduzt, was das Ganze sehr peinlich machte, ich selbst konnte wohl nicht mehr zurück zur Höflichkeitsform. „Komisch, ich vergesse nie ein Gesicht und Ihres hab‘ ich noch nie gesehen“, fuhr sie fort. Ich zog all meine Schauspielregister. „Es ist lange her, ich habe mich sicherlich verändert und natürlich war mein Haar damals noch nicht weiss“, versuchte ich es lachend herunterzuspielen. „Wir hatten nicht sehr viel Kontakt, es ist verständlich, dass du mich vergessen hast.“ Sie glaubte mir ganz offensichtlich kein Wort. Also erzählte ich die Geschichte vom Neffen, der in einer ähnlichen Situation sei wie Timo damals und dem ich gern helfen würde. Dawn nahm einen Zettel aus der Handtasche und kritzelte einen Link hin. „Diese Webseite beschäftigt sich mit dem Thema auf gute, hilfreiche Weise. Ich kann Ihnen nicht zwischen Tür und Angel Ratschläge geben, zudem liegt jeder Fall anders.“ Das war’s! Nach der Yogastunde fing sie demonstrativ ein Gespräch mit einer anderen Frau an und ignorierte mich. Die Webseite gibt vor allem Anleitungen, wie man ein Kind altersgerecht mit seiner Geschichte bekannt macht. Timo weiss also bestimmt, dass Dawn nicht seine richtige Mutter ist. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr erreichen konnte.“ Ich dankte Samira und verabschiedete mich schnell, denn ich sah aus dem Augenwinkel, wie ein Auto auf den reservierten Parkplatz des Tierarztes fuhr. Es war Timos Vater, ich erkannte ihn sofort von den Fotos her. Ein attraktiver, kräftiger Mann mit kurzen, grauen Locken und einer markanten Nase. Kaum hatte er die Autotür geöffnet, klingelte sein Handy. Er nahm es aus der Hosentasche und hörte einen Moment lang schweigend zu, dann schloss er die Tür wieder. Offenbar stellte er sich auf ein längeres Gespräch ein. Ab und zu schaute er zu uns herüber. Buddy hatte ihn noch nicht entdeckt, er schnüffelte und pinkelte ausgiebig in der Wiese neben der Praxis herum. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. „Bestimmt ist Dawn am Apparat, die ihm von der Begegnung mit der taktlosen Samira erzählt“, dachte ich. „Und wenn er mich jetzt ansieht, weiss er sofort, dass dies mit mir zu tun hat. Ich habe sicherlich einen ganz roten Kopf bekommen.“
Schliesslich stieg Gian-Luca aus dem Auto und gleichzeitig kam Timo aus dem Haus. „Dachte ich doch, dass ich dein Auto vorfahren hörte“, rief er seinem Vater zu. Buddy schoss um die Ecke, winselte vor Freude und rannte zwischen den beiden Männern hin und her. „So enthusiastisch kenne ich ihn gar nicht“, sagte ich zu Timo, nachdem wir uns begrüsst hatten. Der tätschelte seinen vierbeinigen Freund. „Er kann schon, wenn er will, er ist nur nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Doch die Aufregung in der Praxis hat ihm aufs Gemüt geschlagen. Du bist sehr mitfühlend, nicht wahr, Buddy?“ „Auch das nur, wenn er will“, behauptete Gian-Luca, der unterdessen sein Gespräch beendet hatte und zu uns gestossen war. Timo stellte uns vor. Bildete ich es mir ein oder musterten mich Gian-Lucas Augen misstrauisch? Jedenfalls war die Begrüssung bei weitem nicht so herzlich, wie ich sie von einem gebürtigen Italiener erwartet hätte.
Vater und Sohn wechselten ein paar Worte, während sie Buddy, der bereits ins Auto gesprungen war, mit einem Hundegurt sicherten. Dann gingen Timo und ich zu Destiny zurück. Die Hündin lag in einer grossen Box, die mit Tüchern ausgelegt war und fiepte und hechelte unruhig. Lola war bei ihr, wurde jedoch gleich wieder im Behandlungszimmer gebraucht. Destiny beachtete mich nicht, sondern drängte sich in Timos streichelnde Hände. Ihr Bauch war in den letzten Tagen richtig prall und fast kahl geworden. Die meisten Haare waren ausgefallen, um den Weg zu den Zitzen freizumachen. „Obwohl der Doktor sie mit Infusionen aufgepäppelt hat, ist Destiny noch nicht wirklich stark genug für eine lange Geburt. Wir hoffen, dass es schnell geht, wenn die Austreibungsphase beginnt. Wahrscheinlich wird sie 3, höchstens 4 Welpen gebären. Die Eröffnungsphase hat erst vor etwa 8 Stunden angefangen, es kann also noch eine Weile dauern. Wir sollen den Doktor rufen, falls sie erbricht, vorzeitig Fruchtwasser verliert oder nochmals ins Freie will. Im letzteren Fall müssten wir aufpassen, dass sie uns nicht entwischt. In dieser Phase rennen Hündinnen manchmal weg“, informierte mich Timo. „Destiny versteht nicht, was mit ihr passiert, da sie zum ersten Mal gebärt. Sie ist nervös und unruhig, ich kann nicht richtig mit ihr kommunizieren. Gleichzeitig will sie auf keinen Fall, dass ich auch nur einen Schritt von ihr weggehe, ausser Lola löst mich ab.“
Ich war froh, dass in diesem Moment der Doktor ins Zimmer kam und die Hündin untersuchte. „Es hat sich noch nicht viel verändert“, meinte er, „bis die Presswehen beginnen, kann es noch dauern. Ich hoffe nur, dass Destiny genug Kraft hat für die Geburt. Unser Wartezimmer ist endlich leer, wir können die Praxis für heute schliessen. Ist es in Ordnung, wenn Lola und ich etwas essen gehen und uns frisch machen nach diesem langen Tag? Falls etwas Ungewöhnliches passiert, ruft an und wir sind sofort da.“ Natürlich waren wir einverstanden, ja, wir drängten die beiden, sich für eine Weile hinzulegen oder zumindest auszuruhen. Mir entging nicht, dass Lolas Gesicht eine feine Röte erhalten hatte. Lilly hatte offenbar Recht, da lief etwas mit dem Doktor. Ich lächelte ihre Schwester an, bestimmt freundlicher denn je zuvor. Diese realisierte, was ich dachte, wurde noch verlegener und warf Timo einen schnellen Blick zu, den dieser jedoch nicht bemerkte.
Dann waren wir allein im Haus. Zum ersten Mal, seit ich Timo kannte, konnte ich seine Gegenwart nicht einfach unbeschwert geniessen. Er schien es nicht zu merken und erzählte mir begeistert vom Aussengehege, welches sie für die Hündin und ihre Jungen gebaut hatten. „Sie haben ein grosses, überdachtes Holzhaus bekommen. Patrick und Johanna haben gepolsterte Hundebetten spendiert und ich habe all das Spielzeug gebracht, welches ich im Laufe der Zeit für Buddy gekauft habe. Das meiste hat er sowieso nicht mal angeschaut. Am Anfang sind die Welpen ohnehin fast nur im Haus. Wir durften eine ganze Ecke des Wohnzimmers für sie einrichten. Das haben wir dir zu verdanken.“ Er drückte meinen Arm und fuhr fort: „Ich würde zu gern wissen, wie du Mona dazu überreden konntest.“ Nun erst merkte Timo, dass ich bisher nicht viel gesagt hatte. Er blickte mir prüfend ins Gesicht. „Dich beschäftigt etwas, doch du willst es mir nicht erzählen.“ Wie immer hatte er mich sofort durchschaut. Ich nickte und versuchte, nicht an Mona, Dawn oder Samira zu denken. Es gelang mir natürlich nicht. Also erhob ich mich vom Stuhl und kauerte mich zu Destiny auf den Boden. Ich fasste in ein nasses Fell. „Ich glaube, sie verliert gerade Fruchtwasser“, rief ich und da schob sich auch schon die erste Fruchtblase langsam aus dem Körper der Hündin. „Ruf den Doktor, schnell, der Welpe kommt mit dem Hintern zuerst zur Welt“, drängte ich voller Angst. Timo nahm sein Telefon und wählte die Nummer, beruhigte mich jedoch gleichzeitig: „Dies ist bei Hunden nicht unüblich, die Geburt darf nun bloss nicht allzu lange dauern.“ Es brauchte jedoch noch einige Presswehen, bis Destiny ihr erstes Junges ganz zur Welt gebracht hatte. Da war Lola bereits bei uns. Sie half der erschöpften Hündin, die Fruchtblase des Welpen zu öffnen und rieb den Kleinen mit einem Lappen kräftig ab, da Destiny ihn nicht energisch genug leckte, um die Atmung anzuregen. „Es ist ein kleiner Rüde, schwarz mit weissen Füsschen“, lachte Timo, „was hatte der wohl für einen Vater?“ Unterdessen war auch der Doktor da und so ging ich allen aus dem Weg und setzte mich auf einen Stuhl. Meine Knie waren plötzlich weich geworden.
Eine Stunde lang passierte nichts mehr. Der Welpe hatte getrunken und maunzte leise vor sich hin. Destiny leckte ihn hin und wieder und stupste ihn mit der Schnauze, doch manchmal schien sie einzuschlafen. „Meistens werden die Welpen in kürzeren Abständen geboren, doch es kann vorkommen, dass sich die Mutter zwischendurch ausruhen muss, vor allem wenn es ihre erste Geburt ist“, erklärte uns Lola. Dann ging es plötzlich schnell, gleich zwei weibliche Babys kamen hintereinander zur Welt. Wieder brauchte die Mutter Hilfe beim Öffnen der Fruchtblasen. Timo und Lola massierten je eines der Kleinen mit einem Lappen, bis sie selbständig atmeten. Auch die beiden Schwestern waren schwarz mit weissen Beinchen. Sie wurden gewogen, dann durften sie zu ihrer Mutter. Wir konnten uns nicht satt sehen an den tapsigen kleinen Fellknäueln, die übereinander purzelten auf der Suche nach der nächsten freien Zitze. Als sie getrunken hatten, untersuchte der Doktor Destiny. „Da sind bereits die Nachgeburten“, sagte er zufrieden, „und es wartet ein letztes Hundebaby darauf, zur Welt zu kommen. Ich hoffe, dass die Mutter noch genügend Kraft aufbringt für diese Geburt.“ Zwei Stunden vergingen, ohne dass die Hündin nochmals presste. Sie schien sehr mitgenommen. Wir boten ihr frisches Wasser und Futter an, doch sie nahm nur wenig zu sich. „Das Kleine liegt richtig und es lebt“, sagte der Doktor nach einer weiteren Untersuchung, „doch nun sollte es vorwärts gehen, sonst muss ich einen Kaiserschnitt in Erwägung ziehen. Ein wehenanregendes Mittel habe ich bereits ohne Erfolg gespritzt.“ Da stand Destiny auf, ging auf unsicheren Beinen zur Tür und wollte offenbar ins Freie. „Sie wird ihr Geschäft erledigen müssen“, meinte Lola. Und zu mir und Timo: „Geht ihr beide raus mit ihr? Leint sie unbedingt an und vergesst nicht die Taschenlampe und eine Decke mitzunehmen. Ihr müsst genau sehen, was sie da draussen macht.“ Dies war leichter gesagt als getan. Destiny schätzte es gar nicht, dass wir sie an der kurzen Leine hielten. Erst nach einigem Zerren gab sie auf, hockte sich hin und pinkelte lange. Wir waren bereits wieder im Treppenhaus vor der Praxistür, als sie aufjaulte, sich hinkauerte und ihren letzten kleinen Welpen gebar. Ich konnte gerade noch die Decke unter ihren Körper schieben. Der Doktor und Lola hatten uns gehört und waren bereits da, um beim Öffnen der Fruchtblase und dem Abnabeln zu helfen. Doch das winzige Fellbündel blieb reglos. Ich führte Destiny zu ihren anderen Jungen und ging zurück in den Behandlungsraum. Lola hatte Tränen in den Augen, während der Doktor vorsichtig Schleim aus der Nase des Hundebabys absaugte und aus seinem Mund wischte. Es war goldbraun gelockt wie die Mutter und atmete noch immer nicht. „Ein Rüde“, flüsterte Lola. Der Doktor schaute uns an und schüttelte langsam den Kopf, während er nochmals versuchte, den Kreislauf des Kleinen durch rubbeln mit einem Tuch anzuregen. „Lass es mich versuchen“, sagte Lola plötzlich, beugte sich über das Hundebaby und blies ihm ganz sachte etwas Luft ins Näschen. Dazu presste sie sanft zwei Finger auf seinen Brustkorb. Sie wiederholte dies einige Male, während wir anderen vor Anspannung den eigenen Atem anhielten. Endlich löste sich ein Seufzer aus dem winzigen Mund und der Welpe fing an zu röcheln. Kleine Bläschen bildeten sich an den Nasenlöchern, die der Doktor vorsichtig abwischte. Wir trugen den Kleinen zu seiner Mutter, die ihn unerwartet energisch ableckte. Offenbar waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt. Nur Minuten später nuckelte der Nachzügler zufrieden an einer Zitze und wir konnten aufatmen.
„Zum Glück hat Destiny ihre Jungen so gut angenommen, dies ist bei unerfahrenen Müttern nicht immer der Fall“, sagte Timo nachdenklich und ich warf ihm einen schnellen Blick zu, den er nicht beachtete. Ich fragte mich, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Wir hatten dem Doktor und Lola angeboten, für den Rest der Nacht bei Destiny zu bleiben, damit sie beide sich ein paar Stunden hinlegen konnten. Wir wollten die neue Familie nicht allein lassen und vor allem das letztgeborene Junge beobachten. Doch der Doktor war schon zwei Stunden später wieder in der Praxis und meinte, er hätte ohnehin noch einiges für den Tag vorzubereiten. „Geht nach Hause“, sagte er zu uns. „Danke für eure wunderbare Hilfe, doch nun kann ich wieder übernehmen. Ihr müsst unterdessen todmüde sein.“
Zwar spürte ich tatsächlich Müdigkeit bis in die Knochen, doch gleichzeitig war ich hellwach. Draussen dämmerte der Tag mit erstem Herbstnebel. Die Umgebung sah unwirklich aus, irgendwie mystisch und passte zu meiner Stimmung. Timo und ich sahen uns an und ich ahnte, dass er sich genauso fühlte wie ich mich. „Könntest du jetzt schlafen?“ fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Weisst du was?“ schlug er daraufhin vor, „wir kaufen uns Kaffee und Frühstück am Bahnhof und nehmen die erste Bahn auf den Uetliberg. Mit etwas Glück sind wir dort über dem Nebel und sehen den Sonnenaufgang.“ Ich war sofort einverstanden. Im Zug sahen wir ausser dem Personal des Hotels Uto Kulm mehrere Leute mit Fotoapparaten und Stativen. Dies liess uns hoffen, dass wir es über die Nebelgrenze schaffen würden. Und tatsächlich: hinter der grauweissen Schicht, die wie Watte aussah, dämmerte bereits ein prächtiger Morgen und zeichnete helle Streifen an den Himmel. Wir setzten uns bei der Aussichtsplattform ins Gras und assen schweigend unser Frühstück. Ich spürte, wie die Anspannung der letzten Stunden von mir abfiel. Plötzlich wurde ich doch sehr müde. Ich lehnte mich an Timo, nicht mehr fähig oder willens, meine Gedanken vor ihm zu verbergen. Er legte den Arm um meine Schultern und wir beobachteten zusammen, wie die Sonne aufging. Sie tauchte erst die ferne Alpenkette in ein goldenes Licht, dann nahm der Wald unter uns Konturen an und schimmerte glänzend in allen Grüntönen. Dazwischen lagen immer noch dichte Fetzen von grauem Nebel, doch schon bald wärmte die Sonne unsere Gesichter. Nach dieser intensiven Nacht wollte ich das Zusammensein mit Timo wieder ohne Heimlichkeiten geniessen können und so liess ich die Gedanken an Mona und ihr Geheimnis einfach zu. Timo liess seinen Arm sinken und atmete tief durch. „Ist sie wirklich meine Mutter?“ fragte er schliesslich. Ich nickte. „Hast du es geahnt?“ Nach einigem Nachdenken meinte er: „Nein, bis vor kurzem nicht – vielleicht wollte ich es auch bloss nicht wahrhaben. Ich wusste nicht viel über meine leibliche Mutter. Zwar habe ich schon als Kind erfahren, dass ich nicht in Dawns Bauch gewachsen war. Mein Vater sagte, dass er für mich die beste Mama der Welt gefunden hätte und es mir jetzt viel besser gehe als früher. Ich hatte natürlich viele Fragen dazu, doch merkte ich bald, dass meine richtige Mutter ein heikles Thema war in der Familie. Mein Vater schaute sofort finster und Dawn presste ihre Lippen zusammen, wenn ich wieder damit anfing. Sie erklärten, dass ich noch zu klein sei, um mehr zu erfahren und dass sie mir später alles erzählen würden. Doch ich beschloss irgendwann, die beiden mit meinen Fragen zu verschonen. Ich dichtete mir eine eigene Wahrheit zusammen. Wenn jedoch Verwandte oder Nachbarinnen auf meine Mutter zu sprechen kamen, spielte ich ihnen das Kind vor, das gerade selbstvergessen in seiner eigenen Welt spielte, während ich stattdessen die Ohren spitzte, um ja kein Wort zu verpassen. Ich vernahm ein paar Dinge über diese Ramona, die offenbar verabscheuenswürdig waren, doch ich verstand nicht, was gemeint war. Was ich jedoch immer wieder hörte, war: „Wenn der Kleine einen anschaut, sieht man direkt die Mutter vor sich. Er hat ihre Augenfarbe und dieselben unglaublich langen Wimpern.“ Und letzthin sagte Lola beim Haus oben genau das: „Mona hat fast dieselben Augen wie Timo.“ Dieser Satz löste einiges aus bei mir. Ich fing an, Mona genauer zu beobachten und ich musste zum ersten Mal den Gedanken zulassen, dass sie tatsächlich meine Mutter sein könnte. Daraufhin stellte ich ihr sogar Helene vor, weil ich dachte, dass dies ihr den Impuls geben könnte, ehrlich zu mir zu sein. Direkt fragen konnte und wollte ich sie nicht.“ „Stattdessen kam sie zu mir“, seufzte ich und erzählte, wie sie mich unter Druck gesetzt hatte. Die Geschichte ihrer Schwangerschaft und der ersten Jahre mit dem kleinen Kind liess ich aus, das sollte sie ihrem Sohn selbst erzählen. Auch Samira und die Rolle, die sie gespielt hatte, erwähnte ich für den Moment nicht. „Wie fühlst du dich Mona gegenüber?“ fragte ich stattdessen nach einer Weile. Timo hatte schweigend über den Nebel geschaut, der sich immer mehr auflöste. Man sah bereits ein Stück Zürichsee und die ersten Häuser darunter auftauchen. „Ich weiss es ehrlich gesagt nicht“, sagte er schliesslich. „Dawn ist meine Mum und das wird für mich so bleiben. Ich kenne Mona unterdessen und schätze ihre guten Seiten, doch ich kann sie nicht plötzlich als meine Mutter ansehen. Ich hatte auch ohne sie die beste Kindheit, die ich mir wünschen konnte, ich trage keinen Groll in mir. Und ich bin sicher, wenn sie mir alles erklärt, werde ich ihre Seite wenigstens ansatzweise verstehen können. Doch es scheint mir so unfair Dawn gegenüber. Sie hatte kein leichtes Los mit mir und meinem Vater. Kaum hatte sie ihn getroffen, war sie auch schon Ersatzmutter. Die beiden hatten keine Zeit, sich erst in Ruhe kennen zu lernen, romantische Reisen zu unternehmen, Wochenenden im Bett zu verbringen oder spontan auszugehen. Mein Vater wünschte sich sehnlichst Stabilität und Ruhe für mich. Dawns Flitterwochen bestanden wahrscheinlich darin, dass sie morgens um fünf Uhr aufstand, um meine Windeln zu wechseln. Ich weiss, dass sie ursprünglich gern eigene Kinder gehabt hätte, dies habe ich ebenfalls beim Lauschen erfahren. Doch mein Vater war tief in seinem Vertrauen verletzt worden durch meine Mutter und vertröstete Dawn immer wieder auf später. Erst einmal sollte ich völlige Geborgenheit in der Familie erfahren. Es drehte sich alles immer um mich, dies war sicher nicht einfach für Dawn. Irgendwann begrub sie offenbar ihren eigenen Kinderwunsch. Ich hoffe nur, dass nicht ich daran schuld bin. Ich war zwar kein schwieriges, jedoch ein sehr eigenartiges Kind mit meiner altklugen Intuition, meiner strikten Weigerung, Tiere zu essen und meiner Gabe, die Gefühle anderer am eigenen Leibe zu spüren. Wenn man mir eine Freude mit einem Zoo- oder Zirkusbesuch machen wollte, weinte ich vor Mitleid mit den eingesperrten Tieren. Ich war nie wie die anderen Kinder. Dawn hat das alles respektiert. Es scheint mir einfach nicht fair, sie jetzt mit einer Mutter zu überraschen, die schon monatelang ein fester Bestandteil meines Lebens ist und mit der ich bereits so vieles erlebt und besprochen habe.“ Darauf wusste ich nichts zu sagen. Wir schwiegen beide und hingen unseren Gedanken nach. Timo hatte mich wieder fest in den Arm genommen und ich lehnte mich dankbar an ihn. Seine Freundschaft zu verlieren, wäre für mich das Schlimmste gewesen.
Unterdessen war es endgültig Tag geworden und immer mehr Leute drängten sich auf die Aussichtsplattform. Mit der Ruhe war es vorbei. „Wollen wir gehen?“ fragte Timo und fing gerade an, unseren Abfall in eine der Papiertüten zu packen, als wir direkt hinter uns ein freudiges Jaulen hörten. Buddy schoss schwanzwedelnd und glücklich auf Timo zu, dahinter stand Gian-Luca. Er sah übernächtigt und unrasiert aus. „Sie haben mir in der Tierarzt Praxis gesagt, wo ihr seid“, sagte er mit finsterem Gesicht zu seinem Sohn. „Wir drei müssen reden, und zwar jetzt. Sofort.“ Timo schaute verwirrt von seinem Vater zu mir und zurück: „Du hast etwas so dringendes mit Wispy und mir zu besprechen, dass du extra hierher kommst?“ „Nicht mit ihr“, sagte Gian-Luca ungeduldig mit einer Kopfbewegung in meine Richtung und tat einen Schritt zur Seite. Hinter ihm stand in modischen Sportsachen, jedoch ungeschminkt, offenbar ungekämmt und mit verheultem Gesicht, Mona. Ich weiss nicht, ob es daran lag, dass sie für einmal Sneakers trug statt hochhakigen Schuhen, plötzlich schien sie mir klein und schutzbedürftig. Doch noch bevor ich so etwas wie Mitleid für sie empfinden konnte, fauchte sie mich an: „Das hast du ja perfekt hingekriegt, Pusteblume.“