Und tatsächlich: Zum zweiten Mal an diesem zu Ende gehenden Tag fand ich einen jungen Mann schlafend vor meiner Türe. Diesmal handelte es sich wirklich um meinen Sohn Cedric. Voller Sorge weckte ich ihn auf, beunruhigt, dass in Italien etwas passiert sein könnte. Vor Schreck fühlte ich mich wieder total nüchtern. Ceddie war sofort wach und auf den Beinen. Er umarmte und beruhigte mich: „Es ist alles in Ordnung zuhause, Mama. Ich erzähl dir drinnen, warum ich hier bin. Es geht um etwas Berufliches.“ Die beiden jungen Männer kannten sich noch nicht persönlich, obwohl ich jedem viel vom anderen erzählt hatte. Ich stellte sie einander vor und konnte es meinem Sohn nicht verübeln, dass er Timo misstrauisch musterte. Immerhin stand dieser um fast Mitternacht und nach einem offensichtlich feucht-fröhlichen Abend mit seiner Mutter vor deren Wohnungstür. Ich wünschte, wir hätten ein Pfefferminz- Bonbon lutschen können auf dem Heimweg. Timo hatte vor ein paar Tagen plötzlich mit dieser Gewohnheit aufgehört und ich selbst hatte keine dabei. „Ich erkläre Cedric alles in Ruhe in der Wohnung“, dachte ich und wühlte in der Tasche nach dem Schlüssel. Worauf Timo zu meinem Schrecken ziemlich laut ins nachtstille Treppenhaus hinaus sagte: „Das weisst du wohl noch gar nicht, Cedric: du wirst dich an mich gewöhnen müssen. Deine wundervolle Mutter und ich, wir leben seit heute zusammen.“ Dazu gab er mir einen gut hörbaren Kuss auf die Wange. Bevor ich reagieren konnte, legte er verschwörerisch den Finger an den Mund und zeigte nach unten. Dort schloss sich erst jetzt leise die Wohnungstür hinter Erna. „Sie sollte doch etwas haben für ihr Lauschen. Du kannst ihr morgen immer noch erklären, dass es ein Scherz war, wenn du die Kissen zurückbringst“, grinste Timo.
Doch in der Wohnung war nicht zu übersehen, dass mein Sohn erst ganz beruhigt war, als er Timos Sachen auf dem Sofa sah. „Mal ehrlich, Ceddie“, schimpfte ich. „Spinnst du? Was hast du denn von mir gedacht?! Heute ist offenbar der Tag der Unterstellungen.“ „Hm“, verteidigte sich dieser. „Du siehst ungewohnt aufgebrezelt aus und wenn ich mich nicht irre, habt ihr beide eine Alkoholfahne. Ausserdem kommst du zu einer Zeit nach Hause, zu der du früher bereits tief geschlafen hast. Dein Handy war offenbar den ganzen Abend über ausgeschaltet. Kannst du mir verübeln, dass ich nicht wusste, was für Überraschungen noch auf mich warten?“ So erklärten wir ihm als erstes die Situation mit Timo. „Dann darf ich dich also nicht Papa nennen?“ schmollte Cedric zum Spass und die beiden Männer kriegten sich kaum mehr ein vor Lachen. Schliesslich fanden wir alle drei, dass wir trotz der späten Stunde Lust auf einen Kaffee hatten und während ich diesen für uns braute, überlegte ich laut, wie wir es mit den Schlafplätzen regeln könnten. „Zum Glück kann man das Sofa im ehemaligen Kinderzimmer ausziehen“, kam mir in den Sinn. „Es ist zwar etwas kompliziert und ich muss meine Malsachen zur Seite räumen, doch zu dritt schaffen wir das.“ „Ich bleibe nur für zwei oder drei Nächte“, sagte Ceddie dazu. „Da in der Firma ein grosses Projekt ansteht, brauchte ich noch einige wichtige Details zu den Plänen und beschloss heute Nachmittag ganz spontan, hierher zu fliegen und morgen die Punkte mit dem Projektleiter der Zürcher Firma gleich persönlich zu klären. Ich freue mich darauf, bei dieser Gelegenheit auch mein ehemaliges Arbeitsteam wieder einmal zu sehen. Gleichzeitig wollte ich meine Mama mit einem Besuch überraschen.“ „Quatsch“, sagte ich laut. Beide Männer sahen mich erstaunt an. „Du hast dich bestimmt nicht so sehr verändert in Italien, dass du zu einem derart spontanen Menschen geworden bist, Cedric. Also, rück raus damit, was ist los?“ Mein Sohn verdrehte die Augen: „Mütter! Also gut, ich muss etwas mit dir besprechen. Doch damit möchte ich gern bis morgen warten. Es ist nichts, was dir heute Nacht Sorgen machen müsste.“ Ich liess mir nochmals ausdrücklich versichern, dass mit Angelita und Sofia alles in Ordnung sei. Zusammen richteten wir Ceddies Schlafplatz her und gingen bald darauf zu Bett. Der Kaffee und meine Gedanken hielten mich zwar noch eine Weile wach, doch dann schlief ich tief und traumlos.
Als ich am nächsten Morgen früh erwachte, hörte ich unterdrücktes Gelächter und angeregtes Geplauder aus der Küche. Die beiden Männer verstanden sich offenbar prächtig und dem Kaffeeduft nach zu urteilen, hatten sie bereits Frühstück gemacht. Als ich die Küche betrat, erzählte mein Sohn soeben eine lustige Episode aus Rom und hatte in die italienische Sprache gewechselt, übersetzte jedoch sofort für mich. „Das wirst du nicht mehr lange tun müssen, Cedric“, schmunzelte Timo, „Wispy hat mich nämlich gebeten, ihr Italienisch beizubringen. Wir haben bereits angefangen und sie lernt schnell.“ „Sprechen kann ich noch nicht viel“, erklärte ich meinem Sohn, „doch mit Timos spezieller Methode fange ich bereits an, recht gut zu verstehen.“ Cedric freute sich sehr. „Toll, dass du das noch auf dich nimmst, Mama. In deinem Alter ist es sicher nicht einfach, eine neue Fremdsprache zu lernen.“ „Sehr charmant, die Erwähnung meines Alters, sie wäre nicht nötig gewesen“, konterte ich mit einer Grimasse. „Doch ich kann dir versichern, so wie ich lernen darf, ist es ein wunderbares Abenteuer.“ Darüber wollte Cedric mehr wissen und so erklärten wir ihm über dem Frühstück Timos Methode.
„Ich habe eigentlich keine Lust, mit dir Vokabeln und Sätze zu büffeln“, hatte er zu mir gesagt. „Bist du offen für ein Experiment? Ich möchte, dass du lernst wie die kleinen Kinder, indem du die neue Sprache auf der rein emotionalen Ebene aufnimmst. Italienisch eignet sich hervorragend dafür. Ich werde dir etwas erzählen und du gehst einfach mit dem Herzen mit, hörst auf die Melodie meiner Sätze und spürst die Gefühle, die mitschwingen. Man weiss heute, dass das Herz über ein eigenes Gehirn von etwa 40‘000 Neuronen verfügt, welches zwar in ständigem Austausch ist mit dem Kopf-Gehirn, jedoch unabhängig davon eigenständig arbeitet, lernt und denkt. Es hat ein ungefähr 60 Mal stärkeres elektrisches Feld und ein bis zu 5000 Mal grösseres magnetisches Feld als das Gehirn, stell dir das einmal vor! Man kann es mehrere Meter vom Körper entfernt noch messen. Über diese unsichtbare Energie sind wir mit allen und allem verbunden und haben Zugang zu unendlich viel kollektiver Information. Auf diesen Wellen verstehe ich die Tiere und lese fremde Gedanken. Ob man auf dieselbe Art eine Fremdsprache lernen kann, weiss ich nicht, doch es müsste möglich sein. Am Anfang werde ich dir zuerst in grossen Zügen auf Deutsch erzählen, wovon ich nachher sprechen werde, das macht es einfacher für dich. Versuch danach nicht, die italienische Sprache bewusst zu verstehen. Indem du die Bilder zulässt, die in deinem Inneren aufsteigen, wirst du plötzlich auf einer Wellenlänge sein mit mir und intuitiv wissen, wovon ich spreche. Schalte den Verstand aus und hol dir deine Informationen einfach mit dem Herzen – mühelos, leicht und magisch.“ Am Anfang konnte ich mich nicht richtig darauf einlassen, mein Hirn funkte dazwischen und ich versuchte ständig, einzelne Wörter und Sätze zu verstehen und einzuordnen. Timo zeigte mir eine kurze Atemmeditation, die mein Bewusstsein vom Kopf aufs Herz lenkte. Zudem versprach er mir, während der Erzählung die wichtigsten Ausdrücke aufzuschreiben, damit ich sie nachher mit ihm zusammen anschauen und lernen konnte. Nun war mein Verstand zufrieden und es wurde mir möglich, loszulassen und Timo sozusagen auf einer Reise ins Unbekannte zu folgen und diese zu geniessen.
Als er mir während der Nacht in der Tierarztpraxis, kurz vor Tagesanbruch, einen Ferientag im Heimatdorf seines Vaters beschrieb, gelang es mir besonders gut. Vielleicht lag es an der Stille rundum und an der speziellen Situation, vielleicht auch daran, dass all meine Sinne bereits für Destiny hellwach und offen waren. Ich wusste sofort, dass Timo in der Erzählung barfuss unterwegs war, ich konnte den sonnenwarmen Boden unter meinen Füssen spüren. Er war offenbar noch ein Kind, denn er erzählte von seiner Nonna und dem Nonno. Ich streifte mit ihm durch die Strassen des Dorfes, sah ihn auf dem Pausenplatz des einzigen Schulhauses Fussball spielen mit seinen Freunden und hörte, dass er ausgeschimpft wurde zuhause, weil er schon wieder zu spät zum Essen kam und die neue Hose bereits Löcher und Risse aufwies. Danach erzählte Timo die Geschichte nochmals, diesmal ausführlicher, indem er die Gespräche zwischen seinen Kollegen und die Schelte seiner Grossmutter wörtlich mit einbezog. Da ich mich nicht mehr auf den Ablauf seiner Erzählung konzentrieren musste und Timo sehr lebhaft und mit viel Pantomimik erzählte, realisierte ich plötzlich, dass ich praktisch alles verstand. Die Notizen waren nur noch eine Bestätigung und Unterstützung.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, das zu hören“, sagte Cedric mit so viel Nachdruck, dass ich ihn erstaunt ansah. Dadurch entging mir nicht, dass die beiden jungen Männer einen schnellen Blick wechselten. Ich schob meine Kaffeetasse zurück. „Nun bist du dran, mein Sohn“, sagte ich mit Bestimmtheit. „Erzähl mir den wahren Grund deines Besuches.“ Cedric sah Timo hilfesuchend an. „Ich möchte dich um etwas bitten, doch ich weiss nicht recht, wo ich beginnen soll….“zögerte er und ich sah plötzlich so etwas wie Tränen in seinen Augen. „Du hast doch gesagt, dass nichts passiert sei? Brauchst du Geld?“ Meine Stimme tönte schrill. Ich habe meinen Sohn nur selten weinen sehen, seit er erwachsen war, gar nie mehr. Timo nickte ihm aufmunternd zu. „Fang einfach von vorne an, mit dem, was du ihr bisher noch nicht erzählt hast. Sie wird dich verstehen.“ Er lächelte mir beruhigend zu, doch griff er weder nach meiner Hand noch nahm er mich in den Arm wie sonst, wenn es mir nicht gut ging. „Wegen Ceddie“, dachte ich und mir wurde klar, dass diese Vertrautheit auf meinen Sohn in der Tat ein wenig seltsam wirken könnte. Cedric hatte sich wieder gefasst und nahm einen tiefen Atemzug. „Ich mache es kurz. Angelita war in den letzten Monaten zwei Mal schwanger. Wir wünschen uns so sehr ein weiteres Kind. Sie wollte dich mit der Nachricht überraschen, sobald die ersten drei Monate überstanden gewesen wären. Soweit kam es leider beide Male nicht, sie verlor ihre Babies jeweils nach wenigen Wochen. Selbst wenn man anfangs Schwangerschaft bekanntlich mit so etwas rechnen muss, hatten wir eine schwere Zeit. Angelita war untröstlich und weinte tagelang. Sie wollte mit niemandem darüber sprechen und bat mich, es dir noch nicht zu sagen. „Wir erzählen es Mamita, wenn das nächste Kindlein unterwegs ist und die Schwangerschaft gut verläuft. Dann ist es weniger schlimm, weil wir zugleich eine gute Nachricht haben“, meinte sie. „Doch nun…“ Cedric suchte nach Worten. „….Klappt es nicht mehr?“ fragte ich und dachte an meine eigenen kinderlosen Jahre zurück. Cedric machte eine ratlose Handbewegung. „Das wissen wir noch gar nicht. Der Arzt gab zwar grünes Licht, doch Angelita wagt es nicht mehr. Die schwierige erste Schwangerschaft hinterliess bereits eine gewisse Angst in ihr, dazu kamen die Hormonschwankungen der letzten Wochen und die Achterbahn der Gefühle. Das Schlimmste ist, dass sie nicht darüber reden will. Es ist ja nicht so, dass wir nicht zuwarten könnten. Wir sind noch jung und es hat in der Familie und Nachbarschaft genügend Kinder, die wie Geschwister sind für Sofia. Doch ich erkenne Angelita nicht mehr wieder. Sie lacht und tanzt nur noch selten und ist oft in Gedanken versunken. Sie vermisst dich so sehr, Mama. Sie weint manchmal nach dem Skypen mit dir. Unser Alltag ist oft sehr chaotisch mit dem ständigen Kommen und Gehen und dem vielen Lärm. Bisher hatte Angelita das genossen, doch nun ist es manchmal zu viel für sie. Du könntest ihr Ruhe und Stabilität geben. Ich habe ihr vorgeschlagen, für eine Weile hierhin zu ziehen mit Sofia, doch das will sie nicht, da ich in absehbarer Zeit nicht mitkommen könnte wegen der Arbeit. Kannst du nicht für ein paar Wochen oder Monate zu uns nach Rom kommen?“ „Ich kann doch nicht einfach plötzlich weg von hier“, sagte ich überrumpelt. „Da ist Bella…und ich habe fest versprochen, mit den jungen Hunden zu helfen. Zudem hast du bestimmt die Bilder im Malzimmer gesehen, ich plane im Oktober eine kleine Ausstellung in einer Buchhandlung. Diese könnte ich allerdings absagen, mein Engel ist mir natürlich wichtiger.“ So hatte ich Angelita immer genannt. Selbstverständlich wollte ich helfen, dennoch fühlte ich mich im ersten Moment überfordert von der überraschenden Bitte. „Ich meinte nicht, dass du gleich alles Stehen und Liegen lassen sollst“, versicherte mir Cedric. „Nur schon zu wissen, dass du kommst, würde Angelita aufmuntern. Vielleicht an Weihnachten? Da hättest du uns ohnehin besucht, wie wäre es, wenn du früher anreisen und länger bleiben würdest? Bis es in der Schweiz wieder Frühling wird? Den Winter hier magst du ja ohnehin nicht.“
„Das würde ich wirklich gern, doch was mache ich mit Bella? Es geht ihr nicht mehr gut.“ Während ich Cedric traurig die neue Entwicklung in der Krankheitsgeschichte meiner Katze schilderte, sagte Timo kein einziges Wort und zeichnete mit der Gabel konzentriert Muster auf seine Papierserviette. Ich stupste ihn an. „Timo, was meinst du? Bella lebt doch hoffentlich noch an Weihnachten?“ Nun endlich blickte er auf und sah mir direkt in die Augen. „Sie könnte dir zuliebe solange durchhalten. Doch sie hat jetzt ständiges Magenbrennen, eine Folge der Nierenkrankheit. Viele Katzen bekommen davon irgendwann Entzündungen im Hals oder Geschwüre im Mund. Vorhin zeigte sie mir, dass sie die Kraft in den Hinterbeinen verliert, ich nehme an, dass sie einen Kalzium- oder Kaliummangel und vielleicht eine Blutarmut hat. Ihr ist jetzt oft übel. Katzen leiden still, mach dir keine Vorwürfe, dass du die Verschlechterung nicht bemerkt hast. Selbst ich musste heute nochmals nachbohren, gestern kamen nicht viele Detailinformationen zu ihrem Gesundheitszustand. Ich schlage vor, dass wir Bella so bald wie möglich zum Doktor bringen. Mit Medikamenten kann sie noch ein paar Wochen bei recht guter Lebensqualität bei dir bleiben. Doch wie ich dir gesagt habe, ist sie bereit, bald einmal zu gehen.“ Er beobachtete Bella, die gerade gründlich ihr wunderschönes, dreifarbiges Fell putzte und schüttelte lächelnd den Kopf: „Diese Katzen! Solche Antworten bekomme ich nur von ihnen. Sie nehmen das Sterben wirklich leicht. ‚Es ist doch nur ein Körper‘, sagte sie mir soeben. ‚Wenn ich will, bekomme ich einen neuen. Doch ohne kann ich immer bei ihr sein. Ich gehe nicht wirklich weg, ihr werdet mich weiterhin spüren und hören. Du weisst das, also sag es ihr!‘“
Dies war zwar schön zu hören, dennoch wurde ich sehr traurig und machte mich daran, die Küche aufzuräumen, um mich wieder zu fangen. Das Gespräch der Männer drehte sich nun um eine grosse Aktion, die Timo im Herbst plante, schweizweit. Noch nie hatte er mit so vielen Leuten Flashmobs durchgeführt, doch das Thema lag ihm offenbar besonders am Herzen. Er ereiferte sich, als er es Cedric erzählte und ich hörte überrascht, wie seine Stimme immer lauter und wütender wurde. Lilly kam mir in den Sinn und wie sie mir erzählt hatte, dass er sich bei Leuten in Pelzmänteln oder mit Fellkrägen manchmal nicht mehr im Griff hätte. Ich hörte genauer hin und wirklich: es ging um Pelz. „Dass es Menschen gibt, denen es egal ist, dass wehrlose Tiere ihretwegen lebendig gehäutet werden, werde ich nie verstehen können. Es schockiert mich zutiefst. Wenn jedoch in den Läden Jacken mit dem Vermerk: „Synthetischer Fellbesatz“ verkauft werden, obwohl es echtes Fell ist, für das Tiere ihr kurzes Leben lang und erst recht beim Sterben fürchterlich leiden mussten, dann macht mich das so was von zornig. Ich verstehe nicht, dass man die Leute so irreführen darf. Dies muss verboten werden. Da will man sich nicht mitschuldig machen an diesem Elend und wählt im guten Glauben das, was man für unechten Pelz hält, vielleicht überzeugt, dass der tiefe Preis dies bestätigt. Doch die traurige Wahrheit ist, dass lebendig häuten leider nochmals billiger kommt. Diese Kragen, Bommeln und Pelzbesätze werden so unglaublich brutal hergestellt, dass man zur Sicherheit überhaupt nichts mit Fellverzierung kaufen sollte. Wir wollen mit einer grossen Aktion aufklären und die Geschäfte brandmarken, die den Betrug mitmachen. Im Namen des Profits darf nicht einfach alles erlaubt sein. Es soll eine laute Sache werden, die hoffentlich viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und den Medien erfährt. Leider weiss ich noch nicht genau, wie wir es am besten anpacken.“
„Du hast doch bestimmt viele Helfer?“ fragte Cedric. „Zum Organisieren habe ich leider nur wenige aktive Helfer, unter den Flashmobbern hat es vor allem Achso-ser.“ „Es hat– was?!“ fragten Ceddie und ich gleichzeitig. „So nenne ich sie bei mir, all diejenigen mit den tollen Ideen und Vorschlägen und den hochfliegenden Plänen, gern auch radikal, doch sobald ich ihnen eine konkrete Aufgabe übergeben will, kommt dieses langgezogene: ‚Ach so…nein, weisst du…‘ und dann folgt die Ausrede. Keine Zeit, keinen Mut, keine Lust. Achso-ser gibt es überall, ihr kennt sie bestimmt. Sie jammern jahrelang über dieselben Probleme in ihrem Leben, doch wenn man ihnen vorschlägt, etwas drastisch zu ändern, kommt unweigerlich: ‚Ach so, nein…das dann doch nicht.‘ Oder in meinem Fall: Grossartige Reden schwingen bei jedem Treffen und mich als zu wenig radikal beschimpfen, selbst jedoch möglichst nichts beitragen und sich nicht die Finger verbrennen. Wenn alles organisiert ist und man nur noch mitmachen muss, kann ich zum Glück auf viele Leute zurückgreifen.“
Cedric schaute auf die Uhr und sprang auf. „Tut mir leid Timo, ich muss los zum Termin mit dem Projektleiter. Doch ich werde ebenfalls darüber nachdenken. Vielleicht kommt mir eine gute Idee.“ Dann ging er zu seinem kleinen Rollkoffer und kam mit einer hübschen Schachtel, die mit farbigen Froschköpfen verziert war, zurück. Ich liebe alle Tiere, doch Frösche besonders. „Von Angelita“, sagte Cedric. Neugierig öffnete ich die Schachtel, die ganz leicht war. Sie war bis obenhin gefüllt mit Post-it Zetteln, kleinen Notizen von Angelita an mich, wie sie sie früher in der Wohnung verteilt hatte. „Die schreibt sie jedes Mal, wenn sie dich vermisst“, rief Cedric vom Korridor her, wo er bereits dabei war, seine Schuhe und Jacke anzuziehen. So sah er nicht, wie gerührt und den Tränen nah ich mit der Schachtel am Küchentisch sass. Angelitas weiche, schwungvolle Schrift verschwamm vor meinen Augen. Ich konnte nicht mehr sprechen. Timo stand auf und fuhr mir mit der Hand leicht über den Rücken: „Ich brühe uns frischen Kaffee auf, ok?“ So hatte ich einen kleinen Moment für mich. Wenn meine Entscheidung nicht bereits festgestanden hätte, so wäre sie es jetzt. „Timo, ich -„ fing ich zögernd an. Er drehte sich um. So sehr es mich am Anfang irritiert hatte, dass er alle Gedanken auffing, so angenehm fand ich dies unterdessen. „Es ist die richtige Entscheidung“, sagte er und ich war ihm dankbar, dass ich nicht weiter sprechen musste. „Ich helfe dir durch die letzte Zeit mit Bella hindurch. Bis du gehst, haben wir bestimmt liebevolle Plätze für die Welpen gefunden. Italien wird dir gut tun. Die Sprache lernst du im Nu, du wirst sehen.“ Er setzte sich hin und füllte unsere Tassen mit frischem Kaffee. „Ich werde dich so sehr vermissen“, dachte ich. Er schaute auf und lächelte. „Ich weiss. Ich dich auch.“ Hatte er das gesagt – oder nur gedacht? „Timo…habe ich soeben deine Gedanken gelesen?“ fragte ich ihn ungläubig. „Du hast vorhin nicht gesprochen, oder?“ „Nein, du Musterschülerin, du machst Riesenfortschritte, ich bin total stolz auf dich“, strahlte Timo.
Als er uns Kaffee eingeschenkt hatte, räusperte er sich. „Wispy, ich konnte nicht wissen, dass dein Sohn hier auftaucht und dir diesen Vorschlag macht. Ich weiss nicht, ob das nun etwas ändert. Ich habe nämlich ebenfalls eine ganz grosse Bitte an dich. Ich spreche sie jetzt einfach offen aus. Du hast nachher genügend Zeit, darüber nachzudenken.“ Ich lächelte ihm aufmunternd, doch mit leicht mulmigem Gefühl zu. Timo war selten so ernst. „Diese Anti-Pelz Kampagne startet vermutlich Ende Oktober oder Anfangs November, wenn die Winterkleider in den Verkauf kommen. Dann bist du wahrscheinlich noch hier. Bevor wir etwas unternehmen, werden wir in den Geschäften sorgfältig recherchieren, sprich die Herkunft der Pelzprodukte und die Einhaltung der Deklarationspflicht überprüfen. Schwarze Schafe erhalten später einen besonderen Besuch von uns. Doch da es absolut keinen Pelz ohne Tierleid gibt, soll überall aufgeklärt werden, auch in den teuren Pelzläden. Dort würden wir jungen Leute vermutlich sofort weggeschickt oder zumindest scharf beobachtet. Du hingegen würdest als interessierte Kundin durchgehen, könntest dich in den Geschäften umsehen und uns danach einen ungefähren Übersichtsplan zeichnen, falls wir den für die Aktion brauchen. Ich frage dich wirklich ungern, doch unter den Flashmobbern gibt es keine Frau in deiner Altersklasse.“ „Das Alter allein macht noch keine potentielle Kundin“, gab ich zu bedenken. „Ich sehe nicht aus, als ob ich das Geld für einen echten Pelzmantel hätte.“ „Das stimmt, wir werden dich ein wenig stylen und entsprechend einkleiden müssen. Dies ist kein Problem und Schauspielern hast du bei mir bereits recht gut gelernt. Falls du nein sagst, und das darfst du wirklich, finden wir eine andere Lösung oder lassen diesen Teil der Aktion aus. Ich respektiere jede deiner Entscheidungen, das weisst du. Überleg es dir in Ruhe. Immerhin müsstest du einige Tage deiner Zeit opfern und vermutlich in der ganzen Schweiz umher reisen. „Ach so…nein, das wäre mir viel zu anstrengend“, entgegnete ich und es brauchte einen Moment, bis Timo realisierte, dass ich ihn hochnahm. Natürlich sagte ich zu. Endlich durfte ich bei einer Aktion mitmachen. „Heisst das, dass ich vom Aussendienst in den Innendienst wechsle?“ foppte ich ihn mit der lustigen Umschreibung, die er am Anfang unserer Bekanntschaft gemacht hatte. „Oh nein, wenn es ernst wird, bleibst du schön brav zu Hause. Ich bitte dich nur ums Rekognoszieren.“ Ich nickte folgsam, während ich innerlich vor mich hin lächelte. Ich hatte ganz andere Pläne, doch diese musste ich in Timos Gegenwart für mich behalten.