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Als ich Paul kennen lernte, war es in unserem Kanton noch verboten im Konkubinat zu leben – etwas, was sich die heutigen Jungen kaum mehr vorstellen können. Ich war jung und hungrig nach Abenteuer, ich wollte alles erleben und alles erfahren. Paul war ein ganzes Stück älter als ich. Ich fand ihn unheimlich lebenserfahren und war stolz darauf, dass er sich mit mir abgab. Als Mittlere von fünf Kindern fühlte ich mich zuhause immer übergangen und ungerecht behandelt. Ging es um Verantwortung und Pflicht, gehörte ich garantiert zu den Grossen. Durften die ausgehen, länger wegbleiben oder ausnahmsweise einmal ins Kino, gehörte ich bestimmt zu den Kleinen, die zu Hause bleiben mussten.
Ich hatte keinen Platz für mich allein und absolut keine Privatsphäre. Wir drei Mädchen teilten uns ein Zimmer, die beiden Brüder ebenfalls. Unsere Eltern waren nicht auf Rosen gebettet. Wir wohnten in einem bescheidenen Haus. Anja war ein Jahr älter als ich und Rosie fast zwei Jahre jünger. Meine Schulsachen, meine Kleider, meine Bücher, meine Malsachen….alles verschwand regelmässig, nichts fand ich dort wieder, wo ich es hingelegt hatte. Meine ältere Schwester war clever und schlau, ich konnte ihr nicht das Wasser reichen. Die jüngere war verträumt und gefühlvoll, dafür mit einem Charme gesegnet, dem niemand widerstehen konnte. Ich hatte zwar ein gewisses künstlerisches Talent, doch dies zählte nicht viel in meiner Familie. Ich war die normale, unauffällige Tochter. Wir Schwestern mochten uns zwar und hatten oft Spass zusammen, doch mit drei Mädchen auf so engem Raum gab es auch regelmässig Konflikte, Streit und Tränen. Dies wurde nicht besser, als wir uns zu jungen Frauen mit Geheimnissen und dem Wunsch nach mehr Privatsphäre entwickelten.
Wenn ich mit Paul ausging, genoss ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich konnte mit ihm reden und diskutieren, ohne dass ständig jemand anderes das Gespräch an sich riss wie bei uns zuhause. Er war ernsthaft, ruhig und zuverlässig und hatte einen sicheren Job bei einer Versicherung. Und vor allem war er verliebt in mich! Endlich hatte ich einmal etwas für mich. Ich schwebte im siebten Himmel.
Meine Mutter machte ständig halb bittende, halb drohende Andeutungen in der Richtung „Komm uns bloss nicht mit einem Kind nach Hause.“ Damals redete man in vielen Familien noch nicht offen über Verhütung und schon gar nicht über Sex. Computer und Google gab es bekanntlich ebenfalls noch nicht. Unser Wissen war dementsprechend zusammen geschustert und lückenhaft. Dies war wohl allen Müttern bewusst, dennoch konnten die meisten nicht über ihren Schatten springen und ihre Kinder umfassend aufklären.
In den Städten zogen mehr und mehr unverheiratete junge Leute zusammen und 1972 wurde das Konkubinatsverbot im Kanton Zürich aufgehoben. Bei uns auf dem Land kam eine wilde Ehe noch länger nicht in Frage, also drängten meine Eltern auf Heirat. Ob wirklich aus Angst, dass ich schwanger werden könnte, oder mit dem Gedanken an mehr Platz im Haus und eine Esserin weniger am Tisch im Hinterkopf, weiss ich nicht. Wohl beides.
Wir zogen in die Stadt, nach Zürich. Am Anfang schwelgte ich im Luxus einer schönen, eigenen Wohnung. Ich breitete meine Malsachen aus und freute mich, wenn sie am nächsten Tag immer noch so schön ordentlich da lagen. Ich war 20 Jahre alt, hatte soeben meine Lehre als Grafikerin bestanden und freute mich aufs Berufsleben. Doch Paul wollte, dass ich zuhause bleibe. Damals war eine Vollzeithausfrau viel üblicher als heute, selbst wenn keine Kinder da waren. Nachwuchs wünschten wir uns sowieso. „Dann kommt auswärts arbeiten ohnehin nicht mehr in Frage“, argumentierte Paul. „Die Leute sollen nicht denken, dass ich so wenig verdiene, dass meine Frau arbeiten gehen muss.“ Auch dieses Denken war damals weit verbreitet.
Doch ich wurde nicht schwanger. Die erste Euphorie beim Gedanken daran, wie erwachsen ich jetzt war, mit Mann und eigenem Haushalt, wich langsam der Ernüchterung. Bald schon sehnte ich mich nach der Sorglosigkeit des Elternhauses zurück. Waren verschwundene Gegenstände, ständig besetzte Badezimmer und zu wenig Platz wirklich einmal meine grössten Sorgen gewesen? Wenigstens hatte ich immer jemanden zum Reden und Lachen gehabt. Niemand verbot mir wegzugehen und mich mit meinen Freundinnen zu treffen. Genau das mochte Paul nämlich nicht. „Du kannst mit mir reden, am Abend“, meinte er, „ich bin ja früh zu Hause.“ Das war er meistens, doch seine Pingeligkeit und Genauigkeit gingen mir schon bald auf die Nerven. In unserem Haus hatte es keine Rolle gespielt, ob eine halbe Stunde früher oder später gegessen wurde. Das benötigte Geschirr und Besteck musste ohnehin meistens vorher in den verschiedensten Räumen zusammen gesucht und erst noch abgewaschen werden. Wir sahen das nicht so eng.
Paul hingegen war ein Einzelkind. Er mochte keine Überraschungen. Spontanität jeglicher Art war ihm ein Gräuel. Am Anfang hatten wir noch Geduld miteinander und scherzten, Kinder würden unser Leben sowieso nochmals total verändern. Mit der Zeit wurde es still zwischen uns. Paul war befördert worden und fühlte sich nicht ernst genommen von seinem neuen Team. Die jungen Angestellten hatten in seinen Augen zu wenig Respekt vor seiner Autorität und machten sich über seine Kleinkariertheit lustig. Sie ärgerten ihn absichtlich, indem sie die Gegenstände auf seinem Pult verschoben oder versteckten und sich dann über seinen Wutausbruch amüsierten.
Je weniger sich Paul im Geschäft durchsetzen konnte, desto mehr bestand er zu Hause auf seinen Regeln. Er wollte wenigstens über mich die Kontrolle haben. Da ich ausser meiner Familie und den Freundinnen von früher wenig Aussenkontakte hatte, wusste ich mich nicht zu wehren. Heute findet man im Netz für jede Lebenssituation Rat und Hilfe, kann das Herz bei Leidensgenossinnen ausschütten oder sich Tipps holen. Damals geriet man schnell in die Isolation. Paul wurde bitter, über die Jahre bildeten sich tiefe Linien in seinem Gesicht und seine Lippen wurden schmal. Niemand wunderte sich, als er erst Magenschmerzen und später ein Magengeschwür bekam. Je weniger er sich akzeptiert fühlte, desto pingeliger bestand er auf absurd strikten Regeln und Vorschriften. Auch er war auf seine Art einsam und isoliert, doch wir konnten uns in unserer Enttäuschung gegenseitig nicht helfen. Statt das fröhliche Familienleben zu haben, von dem wir geträumt hatten, lebten wir nach Jahren fast wortlos aneinander vorbei. Die gemeinsamen Mahlzeiten wurden zur Qual. Paul vertrug dies und jenes nicht mehr, verzog oft fast angewidert das Gesicht und mäkelte ständig am Essen herum. Egal wie viel Mühe ich mir gab, ich hatte immer zu wenig magenfreundlich gekocht. Oder, falls dieser Punkt wirklich nicht zutraf, war es ihm zu fad und zu trostlos. Schliesslich fingen wir an, getrennt zu essen, ich möglichst bevor er nach Hause kam, er später allein vor dem Fernseher.
Paul musste Medikamente schlucken, die nicht viel halfen, jedoch seinen Mund austrockneten. Er fing an, aufs Fürchterlichste zu schnarchen nachts. Ich brauchte Monate, bis ich den Mut hatte, ihn darauf anzusprechen und zu bitten, ins Gästezimmer zu ziehen. Wir nannten es Gästezimmer, obwohl nie Gäste bei uns übernachteten. Es Kinderzimmer zu nennen, war irgendwann zu schmerzhaft geworden. Paul wurde wütend und bissig und behauptete, er schnarche ganz sicher nicht, dies sei eine reine Schikane von mir. Er unterstellte mir sogar einen heimlichen Freund und kontrollierte mich noch engmaschiger. Erst als ich vor Erschöpfung durch die vielen schlaflosen Nächte jeweils am Tisch einschlief, gab er nach.
Als ich dreissig geworden war, hatten wir unsere Kinderlosigkeit abklären lassen. Die Ursache lag zu etwa gleichen Teilen bei beiden. „Es ist nicht ganz hoffnungslos“, tröstete uns der Arzt, „allerdings ziemlich unwahrscheinlich. Wenn Sie sich ein Leben ohne Kinder nicht vorstellen können, sollten Sie anfangen, über Adoption nachzudenken.“ Dies wie auch Fruchtbarkeitsbehandlungen schloss Paul jedoch vehement aus. Er nahm den unerfüllten Kinderwunsch so persönlich, als ob er vermutete, dass sich der Himmel und das ganze Universum über ihn lustig machen wollten. Noch ein Plan, der nicht eingehalten worden war, nur um ihn zu ärgern. Er wollte ein Kind erzwingen und fing an, meinen Zyklus zu kontrollieren, um sich die beste Zeit für eine Befruchtung auszurechnen. Wir schliefen nur noch dann zusammen, wenn er es zeitlich passend fand. Er legte eine so wilde Entschlossenheit an den Tag bzw. die Nacht, dass ich unser Zusammensein zu fürchten begann. Unser Leben war freudlos geworden. Ich atmete auf, als er ins Gästezimmer zog und war den Magentabletten sehr dankbar für sein Schnarchen. Natürlich hörte ich es immer noch, doch was für ein Luxus, allein im Bett liegen zu können. Oft las oder zeichnete ich die halbe Nacht hindurch und war dennoch nie mehr so müde wie zuvor.
Dass sich meine Laune gebessert hatte, verdankte ich auch einer guten Freundin. Sie hatte ebenfalls ziemlich früh geheiratet und war in ein kleines Haus gezogen. Dazu gehörte eine Garage, doch da sie und ihr Mann als überzeugte Umweltschützer nur per Fahrrad unterwegs waren, benutzten sie sie nicht. Ich durfte sie mir als Zeichenatelier einrichten und manchmal sogar den Kindern in der Umgebung Malstunden geben. Statt Miete zu bezahlen, putzte ich regelmässig das Haus und pflegte den Garten. So war allen geholfen. Leider musste ich dies vor Paul geheim halten, was mich belastete. Solange er am Morgen in der Wohnung war, trug ich Morgenmantel und Pantoffeln. Kaum hatte er das Haus verlassen, stürzte ich unter die Dusche, zog mich an und sauste aus dem Haus. Zum Glück konnte ich mich darauf verlassen, dass er jeden Tag auf die Minute genau zur gleichen Zeit zur Arbeit fuhr. Wann er am Abend zurück sein würde, konnte ich jedoch nicht vorher sehen, dies kam auf seine Arbeitslast an. Deshalb achtete ich darauf, dass ich vom frühen Nachmittag an wieder zuhause war. Eine Weile lang besuchte Paul jeweils am Samstagmorgen einen Weiterbildungskurs. Dies war meine glücklichste Zeit. Ich bot einen Malkurs für Anfänger an und hatte grossen Erfolg. Das verdiente Geld versteckte ich zwischen meinen Malsachen, ein eigenes Konto zu eröffnen, hätte ich nicht gewagt.
Ich war etwa 37 Jahre alt und Paul bereits 45, als sich das Blatt zu wenden schien. Er hatte eine Lohnerhöhung und nochmals eine Beförderung erhalten und fing nun plötzlich an, Positiveres von der Arbeit zu erzählen. Zwar war dieser Aufstieg nicht einfach und er hatte viel Neues zu lernen. Doch statt sich zu ereifern und aufzuregen, wie all die Jahre zuvor, lächelte er jetzt öfters über Pannen und Missgeschicke. Manchmal ärgerte er seine Untergebenen sogar zurück, wenn sie ihm Streiche spielten. Seine tiefen Falten schienen sich etwas zu glätten. Sein Mund wurde wieder weicher. Mit diesem neuen Mann hätte ich gern wieder etwas unternommen, wir waren zum Beispiel ewig nicht mehr im Urlaub oder auch nur auswärts essen gewesen. Doch er war nur noch selten zu Hause. Am Abend hatte er nun oft Weiterbildung. Ferien, so vertröstete mich Paul, würden wir nehmen, wenn er sich richtig eingearbeitet hätte. Dafür schlief er ab und zu wieder in unserem Bett. „Ich schnarche nicht mehr“, behauptete er, „ich brauche nur noch die Hälfte der Medikamente. Mein Magen hat sich erholt.“ Wirklich ruhig waren unsere Nächte zwar nicht, doch ich wollte den neuen Frieden nicht gefährden und fand mich damit ab.
Während der freudlosen Jahre hatten wir unsere Geburtstage nicht gross gefeiert. Gratulation und ein Verlegenheitsgeschenk, das war’s meistens. Mit den Jahren war Paul knausrig geworden. Dennoch wollte er weiterhin auf keinen Fall, dass ich arbeiten ging. Als meine beruflichen Kenntnisse mit der Zeit mehr und mehr in Vergessenheit gerieten, hätte ich es mir irgendwann auch nicht mehr zugetraut. So kam ich mit dem knappen Haushaltungsgeld aus und leistete mir hin und wieder heimlich eine kleine Freude mit dem Geld aus den Malstunden. Da meine Schwestern wie auch meine Freundinnen alle zumindest Teilzeit arbeiteten, geriet ich immer mehr in die Isolation.
Am Abend vor meinem 38. Geburtstag fuhr ich nochmals in mein Atelier. Paul war wieder an einer Schulung. Ich hatte beschlossen, uns am nächsten Tag etwas besonders Feines zu kochen und wollte sogar wieder einmal einen Kuchen backen. Langsam hatte sich die Hoffnung auf ein etwas schöneres Eheleben eingeschlichen und ich wollte meinen Teil beitragen. Doch ich hatte am Morgen vergessen, etwas von meinem Extrageld mitzunehmen und so kam es mir gelegen, dass Paul gesagt hatte, ich müsse am Abend nicht auf ihn warten. Es könne sehr spät werden.
Ich sass im Tram und schaute gerade träumend aus dem Fenster, als ich plötzlich Paul entdeckte – er betrat soeben ein Restaurant. Es regnete. Er hatte seinen Schirm ausgeschüttelt, drehte sich nun um und verschwand in der Tür. Ich war verwirrt. War die Schulung ausgefallen? War sie früher fertig? Warum kam er dann nicht nach Hause? Restaurants hielt Paul doch für eine Geldverschwendung. Dass er eine Affäre haben könnte, kam mir im Traum nicht in den Sinn. Zumindest nicht jetzt, wo wir es doch endlich wieder ein wenig schöner hatten miteinander.
Doch so war es. Ich war an der nächsten Station ausgestiegen und langsam zurückgegangen. Die Strasse war von Bäumen gesäumt, ich konnte mich problemlos hinter einem dicken Stamm verstecken und ins Restaurant schauen. Paul sass am Fenster, an einem Zweiertisch. Noch fragte ich mich, was los sei, ob er vielleicht auf einen Arbeitskollegen wartete, da sah ich sie kommen. Und wusste es intuitiv. Sie wirkte weder jünger als ich, noch schöner oder schlanker – nur viel gelöster und fröhlicher. Ich realisierte mit klopfendem Herzen und aufsteigenden Tränen in den Augen, dass sie so aussah wie ich früher, bevor mich diese Ehe so müde, hoffnungslos und deprimiert werden liess. Die Begrüssung im Restaurant war herzlich, mit viel Umarmen und Küssen. Paul war wohl ein klein wenig zugänglicher geworden in der letzten Zeit, doch so ein Strahlen hatte ich jahrelang nicht mehr auf seinem Gesicht gesehen. Wenn überhaupt.
Während ich mit brennenden Augen hinter dem Baum stand und überlegte, was ich tun sollte, winkte Paul fröhlich dem Kellner. Er hatte die Hand der Frau nicht mehr losgelassen, seit sie sich gesetzt hatten und streichelte sie ununterbrochen. Ich fuhr mir mit meiner eigenen Hand übers Gesicht und durch die mittlerweile nassen Haare, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte. Diese Frau war also seine Medizin gewesen, für sie hatte er sich geändert, nicht für mich.
Man muss sich vielleicht in mich und mein Leben versetzen können, um zu verstehen warum das, was dann geschah, mir so völlig den Rest gab. Für mich war nicht einmal die Tatsache, dass Paul eine Freundin hatte, das Schlimmste. Ich liebte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr wirklich. Doch als er eine Flasche Champagner zum Tisch bringen liess, war es für mich zu viel. Es war meine Lieblingsmarke, bloss gab es den bei uns seit vielen Jahren nicht mehr. Nicht einmal Prosecco leisteten wir uns noch- wir hatten ja auch kaum etwas zu feiern. Paul hatte zudem behauptet, Alkohol verursache ihm unerträgliches Magenbrennen. Er vertrage eigentlich nur noch Wasser. Ab und zu ein feiner Wein zum Essen, wie am Anfang unserer Ehe, kam ebenfalls nicht mehr in Frage. „Es war dir wohl alles zu teuer“, dachte ich bitter, denn nun hob Paul strahlend sein Glas, um mit der Frau anzustossen.
Ich hatte genug gesehen und fuhr wieder nach Hause. Ich konnte nicht schlafen, versuchte es erst gar nicht. Im Kopf erlebte ich all die Jahre unserer Ehe nochmals. Von der Euphorie und Verliebtheit der Anfänge über die schleichende Entfremdung , die gegenseitigen Anschuldigungen, die Missverständnisse, die ersten Tränen und Zurückweisungen bis zur Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit der späteren Jahre. Dann stand mein Entschluss fest.
Paul kam sehr spät heim. Ich ging ihm im Korridor entgegen, was ihn offensichtlich ärgerte und irritierte. Er roch nach viel Wein und Zigaretten. Ich machte es kurz: „Ich habe dich mit deiner Freundin gesehen. Such dir eine andere Wohnung, ich werde sofort die Scheidung einreichen.“ Er starrte mich ungläubig an. Dann, es war wohl der Alkohol, wurde er ausfallend. Er beschimpfte mich in den wüstesten Worten. Ich sei selber schuld, dass er fremd gehe, prüde und kompliziert wie ich in gewissen Dingen sei und vieles mehr. Plötzlich kippte er ins Weinerliche. Scheidungen waren damals noch nicht so an der Tagesordnung wie heute. Paul fürchtete um seinen Ruf im Geschäft und um sein Ansehen. Zudem werde er diese Wohnung ganz bestimmt nicht mir überlassen, das könne ich mir gleich aus dem Kopf schlagen. Ich wollte nichts mehr hören und packte meinen Wohnungsschlüssel, um draussen frische Luft zu schnappen, allein zu sein, vielleicht ein paar Minuten laufen zu gehen. „Wo willst du hin?“ schrie Paul, nun wieder aggressiv. Als er versuchte, mir den Schlüssel aus der Hand zu reissen, geschah es: er traf mich mit seinem Ellbogen hart unter dem Auge. Ich schrie auf und weinte vor Schreck und Schmerz. Er hätte mich nie absichtlich geschlagen, das weiss ich, doch nun glaubte ich einen Anflug von Genugtuung in seinem Gesicht zu sehen. Ich kehrte mich um, ging ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür mit dem Schlüssel ab.
Als ich am nächsten Morgen hörte, wie er sich im Wohnzimmer die Schuhe anzog, ging ich bereits angekleidet ins Treppenhaus. Mit dem Rücken zu ihm hielt ich die Autoschlüssel, die ich in der Nacht an mich genommen hatte, klimpernd über meinen Kopf: „Ich fahre dich ins Geschäft und hole dich am Abend wieder ab.“ „Wieso denn das?!“ fuhr Paul auf. Ich durfte sein Auto nur in Notfällen benutzen. Ich drehte mich zu ihm um, so dass er die grosse, blutunterlaufene Stelle unter meinem Auge sah. „Ich muss zum Arzt. Vielleicht ist das Jochbein gebrochen. Ich habe Schmerzen.“ Als er kopfschüttelnd und dickköpfig stehen blieb, sagte ich: „Ich kann natürlich auch das Tram nehmen und die Fragen meiner Nachbarinnen beantworten.“ Ich kannte niemanden im Haus oder in der Umgebung so gut, dass sie mich darauf angesprochen hätten, doch das wusste Paul nicht. Er zuckte mit den Schultern und gab nach. Seine Augen waren gerötet und er war offenbar verkatert. Auf der Fahrt ins Geschäft wechselten wir kein einziges Wort.
Ich hatte die ganze Nacht Zeit gehabt, um mir einen Plan zu recht zu legen. Als erstes fuhr ich in die ärztliche Permanence am Bahnhof. Ich wollte nicht zu meinem Hausarzt; je unpersönlicher, desto besser. Das Jochbein war nicht gebrochen, doch die Verletzung nun offiziell festgehalten, auch wenn ich den Hergang nicht wahrheitsgemäss erzählt hatte. Als nächstes machte ich Farbfotos in einem der Automaten, die es damals noch überall gab. Mein Auge sah übel aus, es war unterdessen halb zugeschwollen und blau-rot. Schmerzen hatte ich keine mehr vor lauter Adrenalin im Blut. Die Schmerztabletten der Ärztin blieben unangetastet. Ich fuhr nach Hause und holte Koffer und Schachteln vom Dachboden. Es gab noch viel zu tun.
Mitte Nachmittag rief ich Paul an. Er war offenbar wieder nüchtern und entschuldigte sich für den unbeabsichtigten Schlag ins Gesicht. Die Affäre erwähnte er mit keinem Wort, doch er gratulierte mir immerhin zum Geburtstag. „Was das betrifft“, sagte ich, „ ich möchte dich zur Feier des Tages heute Abend zum Essen ins Restaurant neben eurem Büro einladen. Um 18.30 Uhr? Dann können wir in Ruhe über alles sprechen. Kann sein, dass ich gestern überreagiert habe.“ „Und woher hast du das Geld dazu?“ fragte er misstrauisch und, knapp wie ich gehalten wurde, zu Recht. Doch ich hatte mich auf die Frage vorbereitet. „Ich konnte eine Zeichnung von früher verkaufen, ganz zufällig. Ich erzähle es dir am Abend.“
Alles lief nach Plan. Ich rief um 18.30 Uhr im Restaurant an und liess Paul ausrichten, ich müsse noch tanken und werde mich ein klein wenig verspäten. Er soll uns beiden doch bereits einen Drink bestellen. „Es wird wohl ein Wasser sein und nicht Champagner wie gestern“, dachte ich zynisch. „Umso besser für dich, du Geizhals. Diese Rechnung wirst du nämlich selber bezahlen müssen.“ Ich wollte nur sicher sein, dass er nicht sofort aus dem Restaurant stürmen konnte. Nicht mal im Traum dachte ich daran, den Tank aufzufüllen, im Gegenteil. Dass der Zeiger fast auf „Leer“ stand, gab mir eine Art trotzige Genugtuung.
Ich machte es kurz und souverän. Schliesslich hatte ich den ganzen Tag über geübt. Ich stellte mich vor seinen Tisch, legte die Autoschlüssel und das Parkticket darauf und sagte: „Dein Wagen steht im Parkhaus Opéra“. Dieses war ziemlich teuer und viele Strassen entfernt von hier. Paul riss ungläubig die Augen auf. „Warum denn das?“ „Weil du dir eine andere Bleibe suchst. Deine Kleider und die persönlichen Sachen sind alle im Auto. Rasierapparat und Zahnbürste liegen zuoberst.“ Dann zeigte ich auf mein blutunterlaufenes Auge. „Wenn du eine Kampfscheidung willst, zeige ich dich an. Eine Ärztin hat Fotos und den entsprechenden Bericht. Ich werde aussagen, dass du mich seit Jahren schlägst und betrügst. Du hast keine Chance auf die Wohnung. Mach’s gut.“ Er sprang auf und wollte mich am Arm packen, doch ich schüttelte ihn ab, drehte mich um und sagte über die Schulter: „Nur damit du es weisst….das Schloss zu unserer Wohnung ist ausgewechselt. Du kannst deine Schlüssel wegwerfen.“
Draussen vor der Tür wurden meine Beine schwach und ich musste mich kurz an die Hauswand lehnen. Den ganzen Tag über war mir so flau gewesen im Magen. „Kein Wunder“, dachte ich. „Ich esse seit Tagen nicht mehr richtig. Mir ist immer ein wenig übel.“ Dann gab ich mir einen Ruck und eilte aufs Tram, damit Paul mich nicht noch einholen konnte. Dort sank es langsam in mein Bewusstsein. Ich hatte tatsächlich schon länger keinen Appetit mehr und vor allem am Morgen fühlte ich mich oft sterbenselend. Ich starrte durchs Tramfenster in den Regen und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit: Ich war nicht nur 38 Jahre alt und hatte mich soeben von meinem Mann getrennt. Ich war auch schwanger.