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Auf der Hinterseite des Hauses war eine grosse, hölzerne Veranda. Die eine Ecke füllte eine sperrige Hollywood Schaukel aus, die offenbar schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vor der Balustrade standen zwei behäbige Schaukelstühle. Im einen sass ein älterer Mann und hatte die Füsse aufs Geländer gelegt. Als er uns sah, sprang er rasch auf zur Begrüssung. „Na Albert“, lachte Timo, „wieder einmal sogar zum Schaukeln zu müde?“ Albert war Monas Untermieter und zugleich der Postbote dieser Gegend, erfuhr ich. Da er sehr zeitig aufstehen musste, wurde er abends meistens früh müde. Dennoch war er gern um die Jungschar herum, wie er sie nannte. „Ich mag Betrieb, sofern ich einfach zuhören darf und nichts beisteuern muss. Ich bin oft tatsächlich zu müde zum Reden am Abend. Manchmal schlafe ich in einem Stuhl ein, das stört hier niemanden. Die nehmen mich, wie ich bin.“ „Setz dich ruhig wieder hin, Albert“, sagte Timo, „Wispy und ich gehen ohnehin zum Grillplatz.“
Dazu mussten wir von der Veranda aus ein paar Schritte durch einen kleinen Garten gehen. Ich konnte mir Mona beim besten Willen nicht beim Gärtnern vorstellen. Ich sah sie im Geist in ihren Pumps zwischen den Tomatenstauden kauern, die zerlaufene Schminke mit Erde verschmiert und die manikürten Finger voller Dreck. Unwillkürlich musste ich vor mich hin schmunzeln. „Ganz so unfähig wäre sie wahrscheinlich nicht“, lachte Timo und stiess mich in die Seite, „doch du hast Recht, sie reisst sich nicht um die Gartenarbeit. Albert erledigt diese und andere Arbeiten rund ums Haus, dafür muss er nur eine kleine Miete bezahlen. Win-Win, sozusagen.“ Mist, ich hatte wieder einmal vergessen, dass ich für Timo manchmal ein offenes Buch war. Ich nahm mir vor, besser aufzupassen, was ich über Mona dachte, ich wollte es mir schliesslich nicht verderben mit ihm.
Hinter dem Garten ging es ein paar Steinstufen durch die Wiese hoch und von dort führte ein Trampelpfad zum Grillplatz unter den Bäumen. Um einen massiven Steintisch herum waren verschiedene Bänke und Stühle gruppiert. Schon von weitem hatte ich Lola erkannt. Sie war mit drei Männern dabei, Essen vorzubereiten und den Tisch zu decken. Bei der Feuerstelle stand eine sehr jung aussehende Frau mit kurzem, blondem Strubbelhaar und viel dunklem Augen Make-up. Sie legte gerade verschiedenes Grillgemüse, Kartoffeln, Maiskolben, grosse Champignons und etwas, das wie gefüllte Auberginen aussah, in Grillschalen und bepinselte alles vorsichtig mit einer Sauce. Sie war offenbar mitten in einer Erzählung und, angefeuert vom Lachen der Freunde, machte sie mit theatralischen Gesten weiter. „Und das war nur meine Mutter! Der arme Kerl musste doch wirklich noch meinem Vater in die Arme laufen und der genoss es natürlich, ihn hochzunehmen. Ihr kennt meinen Vater, er kann den grössten Stuss erzählen und absolut todernst bleiben dabei. So viel zu meiner neuen, zartknospenden Liebesbeziehung. Sven wird nie wieder mit mir ausgehen wollen, bei der Familie.“ Sie verwarf ihre Hände und meinte das Ganze wohl nicht so ernst. „Was hat dein Vater denn gesagt?“ wollten alle wissen. „Er hat ihn ganz finster angesehen und gefragt: „Junger Mann, ist Ihnen klar dass meine Tochter seit neuestem Veganerin ist? Und da tragen Sie eine Frisur mit Koteletten? Wie unsensibel!“ Und als Sven ihn verblüfft mit offenem Mund anstarrte, hob er noch den Drohfinger: „Zudem müssen Sie wissen, dass meine Tochter aus Tierschutzgründen keine Schmetterlinge im Bauch haben darf. Von Hummeln im Hintern gar nicht zu sprechen!“ „Du wirst hier oben viel Quatsch hören“, warnte mich Timo über das allgemeine Gelächter hinweg. „Es gilt die Regel, dass zumindest bis nach dem Essen nicht über das Elend der Welt oder Tierquälereien gesprochen wird und dass diese Themen auch nachher auf ein Minimum zu beschränken sind. Wir besprechen und organisieren unsere Aktionen in der Regel zweimal wöchentlich, dann müssen natürlich die Fakten und Tatsachen auf den Tisch. Dampf ablassen ist jederzeit erlaubt und manchmal nötig, doch ansonsten achten wir darauf, dass wir oft etwas zu lachen haben und uns selber nicht zu ernst nehmen. Sonst halten wir nicht aus, was wir manchmal hören und sehen müssen. Man kann leicht verbittert und depressiv werden dabei, nur hilft man damit niemandem und man verliert die eigene Kreativität.“
Buddy hatte längst alle begrüsst und war ausführlich getätschelt worden. Nun stellte mich Timo vor. „Die berühmte Wispy“, rief die blonde Frau, „Bud redet ständig von dir. Ich heisse Johanna. Wenn’s schnell gehen muss, nennen sie mich hier Jo.“ Lola nickte mir kurz zu. Der verwunderte Blick, den sie Timo zugeworfen hatte, war mir jedoch nicht entgangen. „Wispy hatte einen Traum – einen der unseren“, erklärte Timo. „Es war ein Hilferuf. Irgendwo in der Nähe muss ein Tier eingesperrt oder gefangen sein. Da sie noch keine Erfahrung damit hat, dachte ich, wir zeigen ihr nach dem Essen, wie wir vorgehen, wenn es uns passiert.“ Die Männer waren aufgestanden und schüttelten mir alle die Hand. Zuerst lernte ich Roman kennen, den sie Panda nannten. Er sah behäbig und gemütlich aus, hatte eine auffallend helle Haut, dazu dunkle, fast schwarze Haare, die ihm von beiden Seiten ins runde Gesicht fielen. Mit ein bisschen Fantasie konnte man tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Panda ausmachen. „Unser männliches Schneewittchen“, frotzelte Lola, „fehlen nur noch die blutroten Lippen.“ „Roman ist unser Computer Spezialist, ohne ihn wären wir verloren“, erklärte Timo. „Wenn er uns mal auf einem Flash begleitet, muss er jedoch eine Kopfbedeckung tragen. Er fällt sonst zu sehr auf.“ Unwillkürlich blickte ich zu Lola, deren schrille Aufmachung mich immer noch etwas irritierte. „Ohne die Piercings“, sagte sie kurz. „Und biedere Kleidung mit langen Ärmeln.“ Neben Roman stand ein nervös wirkender, dünner junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren, Brille und Bart. Er hiess Uwe, sprach Hochdeutsch und drückte meine Hand so kräftig, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. „Romans deutscher Schatten“, kommentierte Lola. Alle lachten, doch niemand klärte mich auf, zumindest in dem Moment nicht. „Du bist nicht wirklich Timos Grossmutter, wie Mona angekündigt hat, oder?“ fragte stattdessen der dritte Mann und stellte sich als Patrick vor. „Sonst müsstest du mir dein Geheimrezept verraten oder die Telefonnummer deines Schönheitschirurgen.“ „Wispy ist nicht meine Mutter und schon gar nicht meine Grossmutter“, bestätigte Timo, „sie ist mir jedoch in den letzten Monaten eine gute Freundin geworden, weil wir viel Zeit zusammen verbracht haben. Mona hat wohl ihren oberzickigen Tag heute.“ Ich spürte förmlich, wie die anderen die Luft anhielten. Dann schauten sie sich an und lachten. „So etwas zu sagen darf sich nur Timo erlauben“, behauptete Lola, „weil Mona in ihn verliebt ist.“ Allgemeines belustigtes Kopfschütteln rundum. „Lola, jetzt spinnst du“, lachte Timo. „Weisst du, wie alt Mona ist? Ich schätze etwa 20 Jahre älter als ich. Auch sie könnte so gesehen meine Mutter sein. Sie betont doch immer, dass sie sich einen Sohn wie mich gewünscht hätte. Wenn sie Gefühle für mich hat, dann höchstens mütterliche.“ „Und ich habe doch Recht“, behauptete Lola. „Achtet nur mal darauf, wie sie ihn anschaut, wenn sie denkt, dass es niemand merkt. Sie beobachtet ihn ständig durch ihre langen Wimpern. Sie hat fast dieselben Augen wie Timo.“ Dies brachte einen neuen allgemeinen Heiterkeitsausbruch. „Lola, wirklich! Mona hat sich extra lange Wimpern wachsen lassen, um Timo wenigsten ein bisschen zu ähneln? Weil sie verliebt ist? Das glaubst du doch nicht im Ernst. Und wenn es so wäre, müsste sie dann nicht auf euch junge Frauen eifersüchtig sein, statt Wispy anzuzicken? Davon haben wir doch noch nie etwas gemerkt?“ fragte Patrick und Lola musste zugeben, dass er da einen Punkt hatte. „Wir dürfen garantiert nur wegen Timo überhaupt hier sein“, schob sie jedoch noch trotzig hinterher und Patrick tätschelte ihren Arm: „Ja Lola, schon gut, wo du Recht hast, hast du Recht!“ Und fuhr dann fort: „Wenn wir von verliebt sprechen, Timo, wann stellst du uns deine Freundin vor? Die Hübsche mit dem dunklen Afrolook?“ Er deutete mit den Händen eine buschige Frisur um seinen Kopf an. „Meint er Helene, die Schmuck herstellt?“, dachte ich verblüfft. Die anderen schauten Timo ebenfalls überrascht und erwartungsvoll an. Lola schnitt sehr konzentriert ein Brot in Scheiben, doch ich hatte ihren schnellen, verletzten Blick in Richtung Timo wohl gesehen. Der war offenbar überrumpelt und sprachlos. „Wie…warum…wie kommst du darauf?“ fragte er schliesslich kopfschüttelnd und Patrick grinste: „Offenbar haben wir denselben Geschmack in Kinofilmen. Da es ein lustiger Film war, nehme ich nicht an, dass sie sich aus Angst so nah an dich gekuschelt hat.“
Genau in dem Moment kamen Mona und Albert aus dem Haus und retteten damit Timo, der verlegen war und offenbar nicht wusste, was er sagen sollte. Mona trug eine riesige Schüssel Salat und Albert ein grosses Serviertablett mit Gläsern und Krügen. Sie stellten alles auf den Tisch. „Das Essen braucht nur noch ein paar Minuten“, berichtete Johanna, die offensichtlich für den Grill zuständig war. Mona warf einen Blick auf das farbenfrohe, liebevoll in mehreren Schalen arrangierte Grillgut, welches langsam Farbe annahm und wunderbar duftete. Mir lief schon lange das Wasser im Mund zusammen. Doch dann stand Mona plötzlich so nah neben mir, dass ich fast erschrak. „Nur Grünzeug heute Abend? Wir sind doch keine Kaninchen“, warf sie in die Runde und legte mir überraschend den Arm um die Schulter. „Ich hole jetzt für mich und Wispy hier ein ordentliches Stück Fleisch zum grillieren. Wir sind schliesslich gestandene Frauen und brauchen etwas Bodenständiges zum Essen, nicht wahr Wispy, oder wie immer du richtig heisst?“ „Nein… was, für mich?!“ stammelte ich überrumpelt. „Nein danke, ich esse kein Fleisch.“ „Oh entschuldige, natürlich isst du kein Fleisch, wie dumm von mir“, sagte Mona übertrieben freundlich und ging ins Haus zurück. „Was war denn das jetzt?“, fragte ich Timo verblüfft, „war das ein Test oder so etwas?“ „Nein“, grinste der, „doch du hast soeben deine einzige Chance zur Verbrüderung mit Mona verpasst. Wenn sie einen schlechten Tag hat, versucht sie uns immer zu provozieren. Obwohl sie weiss, dass wir nichts dazu sagen werden. Man kann die Menschen nicht zur Einsicht zwingen. Man kann ihnen höchstens die Augen öffnen. Ist es letzten Endes nicht so, Patrick?“ Dieser raufte sich gerade theatralisch die Haare und schüttelte den Kopf. „Lästert über Gemüse und hat selber die grössten Tomaten auf den Augen, kein Wunder kann sie nichts richtig sehen“, knurrte er, gerade noch bevor Mona wieder bei uns war und sich eine der leer gewordenen Grillschalen für ihr Fleisch schnappte. Wir anderen setzten uns schon mal an den Tisch und genossen das wunderbare Essen. Zum Dessert gab’s verschiedene Sorbets, die Roman und Uwe aus dem Tiefkühler im Haus geholt hatten, sowie Kaffee und selbstgemachten Eistee. Mona, die mich weitgehend ignoriert hatte, zog ein Paket Zigaretten aus ihrer Tasche. „Lass mich raten: bestimmt rauchst du auch nicht?“ fragte sie wieder in diesem übertrieben freundlichen Ton, bevor sie, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Terrasse zurück ging und sich neben Albert in den anderen Schaukelstuhl setzte. Der Postbote hatte sich gleich nach dem Essen dorthin zurückgezogen, um zu meditieren, wie er scherzhaft sagte. Er war sogleich eingenickt.
Bei den am Tisch zurück gebliebenen kam als nächstes Gesprächsthema nun mein Traum auf. Tagsüber hatte ich ihn fast vergessen gehabt, doch jetzt, wo es langsam eindunkelte, war alles gleich wieder präsent. Als ich das Verlassenheitsgefühl beschrieb, den Durst, die Enge um den Hals, kamen mir wieder die Tränen. Timo legte den Arm um mich: „Lass gut sein Wispy, für den Moment wissen wir genug. Lasst uns überlegen, wo das herkommen könnte. Wir werden dann versuchen, mit dem Tier telepathisch Kontakt aufzunehmen. “ „Vom Bauern Heinrich, ich könnte schwören“, zischte Patrick zwischen den Zähnen hervor. Er ballte die Hände zu Fäusten und knallte sie auf den Tisch. Offenbar hatte er ein hitziges Temperament. Patrick war ein Fels von einem Mann, gross und kräftig. Seine Arme waren von oben bis unten tätowiert. „Mit ihm möchte ich keinen Streit“, dachte ich bei mir, „sieht aus, als ob er sehr ungemütlich werden könnte.“ „Es könnte jedoch auch ein Tier im Wald sein, welches sich irgendwo verheddert hat“, gaben die andern zu bedenken. „Könnte sein“, gab Patrick zu, „doch ihr wisst, wie schlecht Heinrich seine Tiere hält und wie er den Tierschutzverein, den wir ihm auf den Hals hetzten, austrickst. Wenn sie ihn fragen, warum seine Kühe nicht auf der Weide sind, dann waren sie entweder bereits am Vormittag draussen oder dürfen bestimmt am Nachmittag raus, oder der Boden war aufgeweicht vom Regen und rutschig und es war zu gefährlich…er hat immer eine Ausrede. Dabei sieht man seine Tiere kaum einmal im Freien.“ „Ich habe gehört, dass sich dieser Blödmann doch tatsächlich schon wieder einen neuen Hund zugelegt hat“, berichtete Mona, die sich unterdessen wieder zu uns gesetzt hatte. „Das macht jetzt wie viele? Drei, vier oder noch mehr? Wenn man sich dem Hof näherte, geht ein Riesengebell los. Die armen Tiere sind immer draussen, in Hundehütten und meistens an der Kette. Auch da hält der Idiot die Tierschutzvorschriften nicht ein.“ Mona hielt wohl nichts von Takt. „Dann könnte sehr wohl einer von ihnen den Hilferuf senden?“ mutmasste ich. „Mich kennt dieser Bauer nicht. Soll ich morgen wie zufällig vorbei spazieren und mich umschauen?“ „Gute Idee, Schätzchen“, flötete Mona, „am besten reitest du auf deinem Einhorn hin. Das macht den tollen Plan perfekt!“ Ich schaute verwirrt in die Runde und sah, dass alle lachen mussten, obwohl sie gleichzeitig den Kopf schüttelten über Mona. Ich hatte meine Idee toll gefunden und spürte, wie nun Ärger in mir hochstieg. „Was Mona meint“, beschwichtigte Johanna, doch auch sie musste sich ein Lachen verkneifen, „ist, dass Heinrich niemanden in die Nähe seines Hofes lässt. Er wohnt dort nicht allein, sondern mit seinen zwei erwachsenen Söhnen. Diese und die Hunde halten jedermann auf Distanz. Da der Hof zuoberst auf dem Hügel ist, sehen sie alle Leute schon von weitem kommen. Selbst Albert darf nicht in die Nähe des Hofes mit der Post, sondern wird vorher abgefangen. Die Leute vom Tierschutzverein mussten mit der Polizei drohen, bis sie einen Rundgang machen konnten. Alle Tiere waren so gehalten, dass gerade mal die absolut minimalen Bestimmungen eingehalten wurden und man den Halter nicht anzeigen konnte. Sämtliche Hunde waren an der Kette, doch Heinrich behauptete, dies sei nur zum Schutz der Besucher geschehen und sie bekämen mehr als genug Auslauf. Ich traue ihm zu, dass er sie auch in dieser Hitze angebunden und ohne genügend Wasser allein lässt.“
Das Gespräch drehte sich weiterhin um den Bauern und seine Söhne, bis Lola, die im Übrigen ziemlich ruhig geworden war, plötzlich sagte: „Eigentlich macht doch alles keinen Sinn! Warum sollte ein Tier aus dieser Umgebung bei Wispy Hilfe suchen? Wir sind fast jeden Abend hier, zwei oder drei von uns übernachten meistens im Haus. Wäre es nicht logischer, wenn wir den Hilferuf empfangen hätten? Wir sind in Gedanken ohnehin oft bei Heinrichs Tieren. Wenn ich dich richtig verstanden habe, wohnst du mitten in der Stadt, Wispy? Und hast noch keine Erfahrung mit Tierkommunikation? Für mich ergibt das alles keinen Sinn.“ Die anderen mussten zugeben, dass da etwas dran war. „Wir haben uns wohl von unserer Antipathie gegen Heinrich mitreissen lassen und von der Hoffnung, endlich etwas gegen ihn in die Hand zu bekommen. So leid es mir tut, Wispy“, sagte Timo schliesslich, „wir müssen versuchen, mehr Informationen zu bekommen und dazu musst du dich leider nochmals auf dieses Gefühl einlassen. Sag dem Tier, dass wir es suchen werden und bitte es, dir mehr Sinneseindrücke zu schicken. Was riecht es? Was spürt es unter den Pfoten? Was hört es? Was sieht es?“ Ich versuchte es, doch die Welle aus Angst und Verzweiflung, die ich zu spüren bekam, überwältigte mich gleich wieder. Mir wurde übel und ich schüttelte frustriert den Kopf. „Ich hab ihn“, flüsterte plötzlich Lola neben mir, „ich glaube, ich hab ihn!“ Sie war mit geschlossenen Augen da gesessen, ganz ruhig und in sich versunken. „Ich denke, es ist ein Hund. Ich spüre seine Pfoten, sie stehen auf einer Art Gitterboden. Es ist eng, er kann sich nicht umdrehen. Wenn er nach vorne will, zieht sich sein Halsband zu.“ „Lola hat ein Riesentalent zum Orten und Aufspüren von Tieren“, bemerkte Timo bewundernd. Sie ignorierte ihn. „Angst, Durst, Hunger….wie du es erzählt hast, Wispy. Ich versuche nun Gerüche oder Geräusche auszumachen in seiner Umgebung.“ Wir anderen hielten fast den Atem an und wagten uns kaum zu rühren. „Es gibt Häuser in der Nähe und eine vielbefahrene Strasse. Er ist definitiv nicht irgendwo im Wald und auch nicht auf einem einsamen Bauernhof.“ Patrick sah fast enttäuscht aus. „Ich habe ihn gefragt, ob er sich selbst in diese Situation gebracht hatte, ob er vielleicht davon gelaufen oder aus Versehen irgendwo eingesperrt worden war, doch er zeigte mir das Innere eines Autos. Er wurde da hingefahren. Und dann kam wieder diese grenzenlose Verlassenheit. Ich glaube, er wurde ausgesetzt“, berichtete Lola. Sie hatte Tränen in den Augen. „Ich verstehe dich jetzt“, sagte sie, zu mir gewandt, „was da kommt ist heftig.“ Timo wollte sie freundschaftlich umarmen, doch sie wich ihm aus. „Die Frage ist, wie wir nun vorgehen“, sprach Uwe aus, was uns allen im Kopf herum ging. Er stand auf und wandte sich gegen das Haus. „Wer möchte sonst noch ein Bier?“ fragte er über die Schulter. Lola, Patrick und Roman nickten. „Timo?“ „Ich weiss nicht…ich wollte Mona fragen, ob ich Wispy mit ihrem Auto heimfahren darf. Ich bleibe besser beim Eistee.“ „Sie kann mit mir heimfahren“, sagte Johanna. „Wenn sie mutig ist, heisst das! Ich durfte mir Vaters Auto ausleihen.“ Und, zu mir gewandt: „Ich habe den Führerschein noch nicht lange, doch ich verspreche dir, ich fahre vorsichtig. Ich fahre euch alle gern nach Hause, wenn ihr möchtet, ich brauche unbedingt Fahrpraxis“, wandte sie sich an ihre Freunde, was ihr gutmütige Foppereien einbrachte.
Roman startete seinen Laptop auf und holte meine Wohngegend per Satellitenbild auf den Bildschirm. Langsam gingen wir virtuell durch die Strassen und schauten uns die Häuser an. Wir konnten uns nicht vorstellen, wo man einen Hund hätte unbemerkt aussetzen können. „Müssen die nicht ohnehin alle gechipt sein?“, fragte Mona. „Doch, zumindest in der Schweiz“, gab Roman Auskunft. „Ich habe jedoch gelesen, dass Chips unlesbar gemacht werden können. Vor allem muss der Hund zusätzlich registriert sein, sonst kann er nicht zugeordnet werden. Ausserdem könnte er illegal aus dem Ausland eingeführt worden sein.“ „Leider sehen wir auf diesen Bildern nur die Vorderseiten der Häuser, nicht die Höfe und Hintereingänge. Hoffen wir, dass es diese grosse Durchgangsstrasse ist, deren Lärm der Hund hört. Wir können erst morgen nachschauen. In der Dunkelheit haben wir keine Chance und werden höchstens noch verhaftet, wenn wir mit Taschenlampen um die Häuser schleichen“, gab Timo zu bedenken. „Wer hat bereits tagsüber Zeit morgen? Ich werde auf jeden Fall schon früh mit Buddy die ersten Runden durchs Viertel drehen.“ Ich versprach, dass ich ihn begleiten würde. Mona funkelte mich kalt an und ich fragte mich zum X-ten Mal, was ich dieser Frau zuleide getan haben könnte. Sie liess Timo kaum aus den Augen, das hatte Lola richtig beobachtet, doch verliebt war sie nicht in ihn, das spürt man als Frau – zumindest als Frau mit mehr Lebenserfahrung als Lola. „Das mit den langen Wimpern stimmt jedoch“, dachte ich amüsiert und gleichzeitig neidisch. Doch wer weiss heutzutage schon, was echt ist und was nicht. Zu lange und zu genau konnte ich Mona ohnehin nicht anschauen, wenn ich keinen Ärger provozieren wollte. Es stellte sich heraus, dass nur Patrick uns tagsüber begleiten konnte, die anderen würden sich nach der Arbeit melden. Wir sassen noch eine Weile zusammen und redeten von anderem. Heute konnten wir ohnehin nichts mehr unternehmen. Nach dem Aufräumen fuhr Johanna mich, Roman und Uwe nach Hause. Timo und Lola wollten im Haus übernachten und Patrick war mit seinem Roller da. Albert war irgendwann unauffällig in sein Zimmer verschwunden. Als ich mich von Mona verabschieden wollte, hiess es, auch sie sei bereits zu Bett gegangen. Zwar hatte ich sie gerade noch in der Küche sprechen gehört, doch mir sollte es recht sein.
Am nächsten Morgen holten mich Timo und Patrick ab. Wir versuchten, hinter die Häuser in meiner Strasse und meinem Stadtviertel zu sehen, was gar nicht so einfach war. Die meisten Hinterhöfe waren durch Gitter und Zäune gesichert. Spielplätze gab es hingegen einige, wir kontrollierten dort alle Spieltunnels und Röhren. „Gut bist du dabei“, seufzte Timo, „mit deinem Grossmutter Aussehen verhinderst du Misstrauen uns Männern gegenüber.“ Und fügte, als er meinen Blick sah, schnell hinzu: „Du siehst natürlich nicht aus wie unsere Grossmutter! Höchstens wie die Oma eines neugeborenen Säuglings!“ Wir fanden nirgends einen Hund oder sonst ein eingesperrtes Tier, selbst Buddy erschnüffelte nichts. Am Mittag machte ich uns etwas zu essen, dann suchten wir weiter. Die näheren Häuser hatten wir alle kontrolliert, als uns am Nachmittag die jungen Frauen zu Hilfe kamen und wir weitere Quartiere in Angriff nahmen. Ich hätte Timo gern zu Helene befragt, doch ich war nie allein mit ihm. Am späteren Nachmittag waren wir müde, verschwitzt und frustriert. Die Hitze machte uns zu schaffen und unsere Füsse schmerzten. Lola hatte versucht, Kontakt mit dem Tier aufzunehmen, doch sie bekam nur noch schwache Zeichen. „Wir müssen es heute noch finden“, seufzte sie, „es verdurstet sonst.“ In diesem Moment erhielt Timo einen Anruf von Mona. Sie sei auf dem Heimweg von der Arbeit und komme für ein, zwei Stunden vorbei, um bei der Suche zu helfen. „Könnt ihr mich beim Quartierrestaurant treffen?“ fragte sie. „Ich muss erst etwas trinken und Zigaretten habe ich auch keine mehr. Zudem kann ich dort parkieren. Ihr könnt bestimmt ebenfalls eine kleine Pause gebrauchen.“ Damit hatte sie natürlich absolut Recht und wir machten uns auf den Weg. Das Restaurant lag zuoberst an der Strasse, dort hatten wir uns ohnehin noch nicht gross umgeschaut und beschlossen, dies anschliessend in Angriff zu nehmen. Doch erst einmal freuten wir uns auf einen kühlen Drink und waren sehr enttäuscht, als wir das Schild „Wegen Urlaub geschlossen – Closed for Holiday – Chiuso per Ferie“ an der Tür baumeln sahen. Offenbar verkehrte hier eine internationale Kundschaft. „Seit vorgestern geschlossen, so ein Pech!“ jammerte Johanna, „ich habe wirklich Durst.“ „Die Parkplätze sind hinter dem Haus“, wusste Patrick, „warten wir doch dort auf Mona. Vielleicht können wir uns irgendwo in den Schatten setzen, bis sie kommt. Dann suchen wir uns zusammen ein anderes Restaurant oder einen Kiosk, um etwas zu trinken.“ Wir fanden das eine gute Idee und gingen schwatzend hinters Haus. Plötzlich blieb Lola stehen. „Seid bitte ruhig!“ Sie hielt sich den Finger an den Mund. „Ich spüre das Tier plötzlich wieder stärker. Ich dachte sogar, ich könne es hören.“ Still gingen wir weiter und da, am Rande des Parkplatzes, fanden wir es. Beziehungsweise sie, denn es handelte sich um eine offensichtlich trächtige, mittelgrosse Hündin unbestimmter Rasse und, vor lauter Staub und Schmutz, unbestimmter Farbe. Sie war in einer offenen Transportkiste so angebunden, dass sich das Halsband zuzog, wenn sie weglaufen wollte. Offenbar hatte ihr jemand ursprünglich Wasser und Futter hingestellt, doch der Wassernapf schien schon lange leer zu sein, während der Futternapf umgekippt war und das Futter, nun ausser Reichweite der Hündin, in der Sonne verdorben war. Das arme Tier musste Durchfall gehabt haben, sein Fell war verfilzt und verklebt. Als ich näher ging, war da der Geruch, den ich nachts in der Nase gehabt hatte: Nach Fäkalien und verdorbenem Fleisch. Die Hündin zog sich winselnd in eine Ecke der Kiste zurück, sie hatte offenbar gelernt, den Menschen nicht unbesehen zu vertrauen. Lola kniete sich ruhig vor sie hin und hielt lautlos Zwiesprache mit ihr. Mir liefen die Tränen übers Gesicht, aus Mitleid und gleichzeitig aus Erleichterung, dass wir das Tier gefunden hatten. Timo hielt mich fest. „Lola macht das schon“, tröstete er mich. „Schau, die Hündin schnuppert bereits an ihrer Hand.“ In diesem Moment bog Mona in den Parkplatz ein. Patrick ging ihr entgegen. „Vielleicht hat sie eine Decke im Auto“, rief er über die Schulter zurück, „damit könnten wir die Hündin besser transportieren.“ „Und wohin bringen wir sie?“ fragte ich. „Zu Lolas Doktor“, sagten alle fast gleichzeitig, „wohin denn sonst? Ihr Doktor hilft immer.“ „Wartet noch“, rief Mona, die inzwischen von Patrick eingeweiht worden war und gestylt wie für eine Party über den Parkplatz stöckelte, „schiesst Fotos, bevor ihr sie aus der Kiste befreit. Morgen machen wir eine Anzeige bei der Polizei. Ich gehe rasch zu den nächsten Nachbarn, bitte um Wasser für das Tier und frage, ob jemand etwas gehört hat.“ Widerwillig musste ich tief innen zugeben, dass dies gute Ideen waren.
Eine halbe Stunde später lag die Hündin in Lolas Armen, auf zwei aufgeschnittenen Plastiktüten als Unterlage, da Mona keine Decke im Auto gehabt hatte. Sie war zu schwach zum Gehen, doch mit dem Wasser waren ihre Lebensgeister wenigstens teilweise zurückgekehrt. Erst als wir den Transportkorb aufhoben, um ihn als Beweisstück mitzunehmen, sahen wir, dass ein Zettel daran baumelte: „Ich heisse Destiny, nimm mich mit!“ stand da krakelig geschrieben und, als Gipfel des Zynismus, war ein Herz daneben gezeichnet. Lola schnappte entsetzt nach Luft. „Hat hier jemand ein lebendiges Tier mit einem ausgedienten Möbelstück verwechselt?“ fragte sie fassungslos. Sie setzte sich vorsichtig mit Destiny auf den Hintersitz von Monas Auto, während wir den Korb und die Futterschüsseln im Kofferraum verstauten. Ihren Doktor hatte Lola bereits angerufen und auf unsere fragenden Mienen hin gesagt, dass er sie bereits in der Praxis erwarte. Mona hatte nicht mit einer ihrer langen Wimpern gezuckt, als Gestank ihr makelloses Auto erfüllte, weil Destiny die Plastikunterlage bereits wieder neu verschmiert hatte. Doch nun drängte sie zur Abfahrt und fuhr alsbald rasant die Strasse hinunter.
Wir anderen sahen uns an, erleichtert und erschöpft. Jetzt, wo die Anspannung von mir wich, war ich plötzlich todmüde. Wir besprachen kurz die Idee, zusammen irgendwo etwas essen und vor allem trinken zu gehen, merkten dann jedoch, dass wir uns vor allem nach einer Dusche sehnten. So beschlossen wir, uns zu trennen und heim zu gehen. Timo und Patrick nahmen das nächste Tram stadteinwärts. Ich hatte beschlossen, zu Fuss zu gehen. Ich wohnte nicht weit weg und gehen half mir immer, meine Gedanken zu sortieren. Zu meiner Überraschung sagte Johanna, dass sie mich gern ein Stück begleiten würde. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Ich fand die junge Frau erfrischend und sympathisch und hätte unter normalen Umständen gern mit ihr geplaudert, doch jetzt war ich einfach zu müde und sie offenbar auch. Doch als sich unsere Wege an der übernächsten Kreuzung trennten und ich mich verabschieden wollte, schaffte sie es, dass ich mit einem Schlag wieder wach wurde. „Mona ist eine widersprüchliche Person mit schwierigem Charakter“, sagte sie plötzlich. „Doch wie du heute gesehen hast, ist im Notfall auf sie Verlass. Sie hat uns schon oft aus der Patsche geholfen.“ „Ja, das ist schön“, antwortete ich höflich. Ich hatte überhaupt keine Lust, nach diesem langen Tag ausgerechnet über Mona zu sprechen. „Du magst sie nicht, wie?“ fragte Johanna jedoch weiter. „Vor allem mag sie mich nicht, aus welchen Gründen auch immer. Du hast es ja gestern erlebt. Sei mir nicht böse, Johanna, ich möchte jetzt nach Hause gehen.“ „Ja natürlich“, sagte Johanna, blieb jedoch einfach stehen. Dann fing sie an, herum zu drucksen. „Es ist nur so….Mona vertraut mir am meisten. Nun will sie, dass ich dir etwas ausrichte. Es sei sehr wichtig, doch niemand sonst dürfe davon wissen. Ich will es einerseits für sie tun, hasse andererseits den Gedanken, Heimlichkeiten zu haben vor den anderen.“ Johanna seufzte und zog einen Briefumschlag aus ihrer Handtasche. „Was bleibt mir anderes übrig. Hier, Wispy, und gute Nacht!“ Sie eilte über die Strasse und stieg ins nächste Tram ein.
Ich hatte den Briefumschlag entgegen genommen, als ob es heisse Kohlen wären. Auch ich wollte keine Heimlichkeiten haben vor den anderen. Kurz überlegte ich mir, den Brief einfach in einem Abfalleimer zu entsorgen. „Ich werde es Timo so oder so erzählen, dieser Mona schulde ich keine Loyalität“, nahm ich mir stattdessen vor. Erst nachdem ich geduscht, gegessen und meine Bella gefüttert hatte, öffnete ich widerwillig den Umschlag. Darin befand sich nur eine Visitenkarte von Mona. Offenbar war sie Chefredakteurin einer Frauenzeitschrift, was mich nicht sehr verwunderte. Dort passte sie sicher perfekt hin. Ich drehte die Karte um und da stand in enger, zackiger Schrift: „Ruf mich an, ich muss unbedingt mit dir allein sprechen. Sag niemandem etwas davon.“ Die Worte „allein“ und „niemandem“ waren dreimal unterstrichen. „Du kannst mich mal“, dachte ich respektlos und überlegte mir, ob ich sogleich Timo anrufen sollte. Doch dann sah ich mein weiches, bequemes Bett und beschloss, erst mal eine Nacht darüber zu schlafen.