Die Geschichte von Wispy und Timo

  • Wie alles begann

    -1-

    Er wählte die totale Überrumpelung und liess mir so überhaupt keine Wahl. Eben hatte ich noch gemütlich in der hintersten Sitzreihe des Trams meine Pendlerzeitung  gelesen. Nun sass er plötzlich neben mir. Platzte in mein Leben. Hüllte mich ein mit einem Schwall frischer Luft. Pfefferminzaroma. Alles auf einmal da, gepaart mit jener fast elektrischen Energie, die ich noch gut kennen lernen sollte.

    Ich rückte überrascht ein wenig zur Seite, auch weil er einen mittelgrossen, langhaarigen Hund vor sich her in die Sitzreihe schubste, der sich sogleich zufrieden schnaufend auf meine Füsse legte. Zwar liebe ich Tiere sehr, doch auf dieses ziemlich schwere Bündel feuchten Felles in undefinierbarer Farbe auf meinen neuen Schuhen war ich nicht gefasst gewesen.

    Ich erwartete, dass der junge Mann sich entschuldigen und den Hund wegziehen würde, doch er lächelte nur kurz und gab mir die Hand: „Gut treffe ich dich hier, wir haben viel zu tun. Magst du ein Pfefferminz?“ „Wie bitte? Sie verwechseln mich wohl!“ Anders konnte ich mir die Situation nicht erklären. Er schaute mich fast beleidigt an: „Ich weiss, wer du bist und ich weiss immer, was ich tue.“ Seinen Hang zu, sagen wir leichter Arroganz, würde ich auch noch zur Genüge kennen lernen.

    Das Duzen ist ebenfalls so eine Sache in meinem Alter. Ich weiss nie, ob ich mich geschmeichelt fühlen darf. Habe ich das reizlose „Respektsalter“ doch noch nicht erreicht? Oder sollte ich unangenehm berührt sein? Werde ich von den Jungen einfach nicht mehr ernst genommen?

    „Du bist vor kurzem pensioniert worden und wirkst noch ein wenig unsicher in diesem neuen Leben. Manchmal fährst du ohne Ziel mit dem Tram durch die Stadt.“

    „Selten“, wollte ich sagen, „und es ist bestimmt nicht so, dass mein Leben unausgefüllt wäre.“ Hatte dieser Kerl mich möglicherweise beobachtet? Ich habe mehr als genug zu tun und viele Ideen für meinen Lebensabend.

    „Das weiss ich alles“, kam seine ungeduldige Antwort. Warum eine Antwort? Hatte ich etwa laut gedacht? „Nicht nötig, wir verstehen dich auch so.“ „Wir?!“ „Ja“, er deutete auf seinen Hund, „er versteht deine Gedanken und ich verstehe ihn. Ist ja nicht schwierig.“

    Na toll, hatte sich dieser Irre genau neben mich setzen müssen? Ich musterte ihn verstohlen von der Seite. Ein grosser und schlaksiger Typ mit halblangem, ziemlich wirrem Haar unter einer farbigen runden Mütze. Fast wie das Hundefell auf meinen Füssen. Lustig! Wache, aufmerksame Augen. Nicht unattraktiv. Man kann schliesslich auch als ältere Frau nicht immer nur auf die innere Schönheit schauen. Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte fast ein wenig verlegen. Ich stupste den Hund verstohlen: „Verrate ihm doch nicht alles!“ Aber im Grunde glaubte ich gar nicht an diese Telepathie. Vielleicht war der junge Mann ein Trickspieler oder ein windiger Wahrsager.

    „Nein, das bin ich nicht“, unterbrach er meine Gedanken und ich fuhr vor Schreck fast zusammen, „doch mein Hund macht mich verrückt. Er erzählt mir ständig Dinge von den Leuten um mich herum. Oft sind es düstere Gedanken, die er auffängt und manchmal bräuchte es so wenig, um jemanden zu trösten, zu ermutigen oder glücklich zu machen. Die Menschen sehen schnell einmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, sie vergessen ihre Fähigkeiten und Stärken. Innert Sekunden könnten sie sich in eine ganz andere Stimmung bringen, auf neue Gedanken kommen und sich ihr Leben dadurch schöner machen. Manchmal kriege ich diese Geschichten kaum mehr aus dem Kopf, weil ich so leicht hätte helfen können.“

    „Warum reden Sie nicht einfach mit den Leuten?“ Ein „Du“ wollte mir nicht über die Lippen rutschen, zu merkwürdig erschien mir dies alles. Ihn beeindruckten meine diesbezüglichen Hemmungen offensichtlich nicht: „Schau mich doch an! Diese Menschen würden so denken wie du. Sie hätten vielleicht Angst, ich sei ein Taschendieb oder wolle sie anbetteln. Und nicht alle mögen Hunde. Aber du bist perfekt für diese Aufgabe geeignet, du siehst so schön normal und bieder aus.“ „Wie bitte?!“ Es wurde immer besser. „Normal und bieder!“ Ich hätte mich besser hinter meiner Zeitung versteckt, um diese Begegnung zu vermeiden.

    „Ich weiss nicht, was Sie von mir wollen, zudem muss ich ohnehin bald aussteigen.“

    Wir beide steigen bald aus. Dies ist noch nicht deine Haltestelle“, grinste er frech. „Steige dann vorne aus und sage dem Tramfahrer, dass du seine souveräne, sichere Fahrweise bewunderst und seine offenbar unerschütterliche Ruhe. Lächle ihn dabei an, als ob er der attraktivste Mann der Welt wäre. Das braucht er heute dringend. Nur schon deshalb könnte ich es nicht selber erledigen. Das siehst du doch ein.“ Lachend stupste er mich in den Arm.

    Ich schaute ihn entgeistert an. „Warum sollte ich denn so etwas sagen, es stimmt doch alles gar nicht?! Er fährt weder ruhig noch…“. „Richtig! Gut beobachtet!“ Diesmal bekam ich einen herzhaften Klaps auf die Schulter. „Genau, deshalb sollst du es sagen.“

    Ich schaute ihn zweifelnd an und schüttelte den Kopf. „Nein, ich…“ Er unterbrach mich, indem er aufstand und den Hund sanft am Halsband hochzog: „Komm schon, Buddy!“ Ich merkte erst jetzt, dass meine Zehen eingeschlafen waren. „Ganz sicher werde ich nicht …“, setzte ich nochmals an.

    Doch dann beugte sich dieser lange Lulatsch mit einem unglaublich charmanten Lächeln zu mir nieder, küsste mich flüchtig auf die Wange und meinte: „Du siehst eben nicht nur normal und bieder aus, sondern auch lieb. So jemanden brauchen wir. Du wirst schnell lernen. Wir sind jetzt ein Team. Bis morgen. Ich heisse übrigens Timo.“

    „Wie bitte?!“ Ich hatte mich von der unerwarteten Charme-Attacke erholt und wollte nochmals protestieren. Doch schon waren die beiden draussen und verschwanden ohne sich nochmals umzusehen in der Menge.

    „Bis morgen?“ Wohl kaum.

    Wie hätte ich auch ahnen können, dass mein Abenteuer gerade erst begonnen hatte.

  • Und wer ist Wispy?

    -2-

    Als ich den eigenartigen jungen Mann am nächsten Tag tatsächlich nicht sah – und auch nicht am übernächsten –  schwankte ich zwischen Erleichterung und, komischerweise, leiser Enttäuschung.

    Nicht dass ich ihn gesucht hätte! Allerdings schaute ich mir die Leute im Tram und unterwegs anders an als früher und machte mir meine Gedanken. Ich versuchte ihre Geschichten zu erraten und glaubte hinter den Alltagsmienen Sorgen und Ängste, erfüllte wie enttäuschte Hoffnungen, Liebe und Freude oder Einsamkeit und Frust zu entdecken.

    „Was bräuchten diese Menschen wohl, um glücklich zu sein? Was würde sie zum Lächeln bringen? Was würde ihre Sorgenfalten glätten und ihre Augen leuchten lassen?“ fragte ich mich und war so vertieft in meine Vermutungen, dass ich einmal fast meine Haltestelle verpasst hätte. Die  Gratiszeitung blieb in diesen Tagen ungelesen.

    Obwohl ich dachte, ich müsse verrückt sein, hatte ich damals beim Aussteigen dem Tramchauffeur ziemlich unbeholfen die Art Komplimente gemacht, die mir dieser Timo aufgetragen hatte. Die Erinnerung an seine Reaktion liess mich schmunzeln. Seine Miene wechselte von mürrischem Misstrauen zu einem ungläubigen kleinen Lächeln, als er mein Strahlen bemerkte. Daraufhin nahm er sein Mikrofon, räusperte sich und wünschte allen Fahrgästen einen schönen Tag, bevor er bedeutend sanfter als zuvor von der Haltestelle wegfuhr, noch immer lächelnd.

    Am dritten Tag nach der seltsamen Begegnung kam ich eben aus der Drehtür eines Einkaufszentrums, als mein Mantel auf einer Seite kräftig vollgespritzt wurde durch einen Hund, der soeben energisch das Regenwasser aus seinem Fell schüttelte. Es schien in diesem Frühjahr nur zu regnen. Ich schaute mir das Tier genauer an: Undefinierbare Rasse, undefinierbare Farbe des lockigen Fells…. und ein Stück weiter entdeckte ich auf einer Bank eine geringelte farbige Mütze mit fast  identischem Wuschelhaar  darunter. Unverkennbar.

    Neben der Bank stand eine über und über tätowierte junge Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren. Viel zu offenherzig angezogen für diese Jahreszeit  – in meinen Augen eigentlich für jede Jahreszeit – wohl damit man ihre Körperkunstwerke bewundern konnte. In der Nase einen dieser Ringe, die meine Freundin Türklopfer nennt. Mich erinnern sie eher an ein bestimmtes Grossvieh… Alles versteht man in unserem Alter halt nicht mehr. Die Jugend möge uns verzeihen.

    Die junge Frau kickte sichtlich aufgebracht mit ihren klobigen, hockhakigen Schuhen in den Kies. Timo und sie waren offenbar in eine lebhafte Diskussion verwickelt, jedenfalls wurde viel gestikuliert. Ich blieb einen Moment lang unsicher vor der Drehtüre stehen. Sollte ich zu ihnen hingehen? Würde er sich überhaupt an mich erinnern?

    Als ich versuchte, mit der Hand Schmutz und Wasser von meinem Mantel zu wischen, bemerkte ich, dass sich der Hund Buddy ein paar Meter entfernt hingesetzt hatte. Er wuffte ein einziges Mal und wedelte träge mit dem Schwanz. Dann schaute er mich aufmerksam an, freundlich, doch irgendwie höflich distanziert, wenn man das von einem Hund so sagen kann. Fehlte nur noch ein unverbindliches Lächeln für mich, die unverbindliche Bekanntschaft.

    Timo blickte sich um und entdeckte uns bei der Türe. Ach ja richtig, dieser Hund konnte bekanntlich seine Gedanken nicht für sich behalten. Sein Halter stand von der Bank auf und kam zu uns rüber. Er tätschelte Buddy den Kopf. „Du solltest sie nur finden, nicht abduschen“, versuchte er zu tadeln, doch ich sah das Lächeln auf seinen Stockzähnen.

    „Der Tierarzt nennt Buddy einen „netten“ Hund“,  sagte Timo statt einer Begrüssung, „ein netter Hund, ich bitte dich! Ich wollte einen wachsamen, mutigen, Respekt einflössenden Beschützer und nun habe ich einen „netten“ Hund!“ „Ein netter Hund und ein netter junger Mann, das passt doch…. und mich nennst du bieder…!“ konnte ich mir nicht verkneifen. Diese Beschreibung hatte mich ziemlich in meinem Stolz getroffen. Timo grinste und versuchte mich in die Seite zu knuffen.

    Die junge Frau war langsam hinter ihm hergegangen und stand nun neben uns. Sie war offensichtlich frustriert und verärgert. Ich sah, wie Timos Lächeln  verschwand. Er seufzte und nahm sie beim Arm. Ich sah erst jetzt, dass sein rechtes Handgelenk eingebunden war. Er warf sich mit der linken Hand ein Pfefferminz in den Mund und zerbiss es.

    „Lola,  das ist Wispy“, stellt er mich vor. Ich schüttelte erstaunt den Kopf. „ Wispy?! Nein, ich heisse –“ doch Timo unterbrach mich und zupfte rund um meinen Kopf an den schneeweissen Haaren, die in solch feuchtem Wetter leider immer zipflig und kraus auf alle Seiten abstanden. „Wispy passt gut zu dir. Du brauchst zwar keinen Tarnnamen wie wir. Du bist ja sozusagen im Aussendienst.“

    „Unsere Tarnnamen haben uns gestern viel genützt“, fiel die junge Frau sarkastisch ein. Sie zog die linke gepiercte Augenbraue hoch und funkelte Timo an, der wiederum seufzte. „Du weisst, dass so etwas passieren kann. Wir alle wissen es. Falls sie eine Busse bekommt, teilen wir die uns natürlich, wie immer. Ich hoffe nur, dass sie nicht zu viel geplaudert hat.“

    „Vor allem ist sie jetzt registriert, so ein Mist!“ Lola kickte noch einmal eine Ladung Kies und Dreck knapp an unseren Füssen vorbei und wandte sich  zum Gehen mit der Bemerkung, ihre Pause sei nun vorüber. „Isst du heute Abend mit uns, Bud?“ fragte sie noch missmutig über die Schulter. Timo nickt. „Ich denke schon. Wo soll ich sonst hin im Moment? Ist sowieso besser, wenn dies hier nirgends auffällt in den nächsten Tagen.“ Er zeigte auf sein eingebundenes Handgelenk und liess es wieder unter dem Jackenärmel verschwinden.

    „Bud, huh?!“ fragte ich als erstes, doch ich wollte noch viel mehr wissen. Ich fand als seine „Aussendienstlerin“, was immer er darunter verstand, hatte ich ein Recht auf Information. „Ist das dein Deckname? Dein sogenannter Tarnname? Was ist mit deiner Hand passiert? Hast du dich geprügelt? Seid ihr kriminell?“  Eine Weile lang hörte ich nur das geräuschvolle Zerknacken eines weiteren Pfefferminzes.  Timo kraulte seinen Hund im Nacken und sah mich nicht an. Ständig drehte er sein Smartphone in der Hand herum und hätte wohl gern darauf geschaut, doch er beherrschte sich.

    „Kriminell sind wir nicht“, sagte er schliesslich. „Nicht wirklich jedenfalls. Oder nur ein bisschen. Hm….es kommt wahrscheinlich darauf an, von welcher Seite her du es anschaust. Wir sehen unsere Aktionen als gute Taten und hoffen etwas zu erreichen damit.“ Er schaute mich nicht an, sondern blickte gedankenverloren auf die Sihl. „Doch offenbar kann man uns auch als Sachbeschädiger und Hausfriedensbrecher betrachten.“ Dies kam etwas leiser, jedoch eher stolz als verlegen oder beschämt. „So eine Art moderner Robin Hood mit Smart Phone?“ Es klang spöttischer, als ich gewollt hatte. Das ständig präsente Telefon irritierte mich langsam und das Sprechen in Rätseln ebenfalls. Doch Timo grinste: „So edel dann doch wieder nicht. Mehr will ich dir nicht erzählen. Du nützt uns nur etwas, wenn du so wenig wie möglich weisst.“

    „Toll…! Hast du mich je gefragt, ob ich euch überhaupt nützlich sein will? Warum sollte ich?“ Das „du“ kam mir jetzt leicht über die Lippen. Ich hatte eher das Gefühl mit einem schlecht erzogenen Halbwüchsigen zu reden, als mit einem etwa 27 jährigen Mann. „Ich habe mich nicht um einen Job bei dir beworben, soweit ich mich erinnern kann. Und wer ist überhaupt „wir?“ War das vorhin deine Freundin oder deine Schwester?“ „Wie kommst du denn darauf?“ Den ersten Teil der Frage ignorierte er geschickt. „Weil ihr zusammen esst am Abend….“ „Ach so, das ist am Waldrand. Unser Haus am Waldrand. Wir alle leben teilweise dort, bei Mona. So gesehen ist Lola vielleicht eine Art Schwester – Wahlschwester sozusagen.“

    Ich musste unwillkürlich lächeln. Meine weibliche Intuition sagte mir, dass diese Definition der jungen Frau nicht gefallen würde. Ich hatte ihren Blick gesehen. Und mal ganz ehrlich – wenn sie so wütend war auf Timo, wieso war ihr wichtig, wo er zu Abend essen würde? Eben. Männer merken – Ich brach meinen Gedankengang schnell ab, als ich sah, dass Timo die Stirn runzelte und verwirrt den Kopf schüttelte. Du meine Güte, war das anstrengend mit einem Gedankenleser. Wie machte er das überhaupt? Sein Hund war mittlerweile am Flussufer unten und schnüffelte begeistert in der Wiese umher. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Buddy hatte Wichtigeres zu tun, als zu Übersetzen.

    „Himmel, Timo, ich kann keine Gedanken lesen! Und ich will dir nicht alles aus der Nase ziehen müssen. Also nochmals, was macht ihr genau? Wer ist „wir“? Und was meinst du eigentlich mit Aussendienst?!“

    „Mein Spitzname Bud kommt natürlich von Buddy“, erzählte er mir stattdessen. Endlich schob er das Handy in die Hosentasche. „Als ich etwa 9 Jahre alt war, fand ich auf dem Dachboden unter den alten Kinderbüchern meiner Mutter eines mit dem Titel: „Buddys Augen sahen für mich.“ Es war eine rührende Geschichte um einen Blindenhund. Ab sofort wünsche ich mir, blind zu werden. Nicht völlig blind natürlich!“ – ich hatte ihn wohl ziemlich entsetzt angeschaut –  „nur so viel, dass meine Eltern mir aus lauter Sorge und Mitleid sofort einen solchen Blindenhund kaufen würden. Ein Hund war schon lange mein sehnlichster Wunsch, doch den wollten meine Eltern mir nicht erfüllen. Ich hatte es mir schön ausgemalt. Langsam würde ich wieder richtig sehen können, dies jedoch für mich behalten, bis ich sicher sein konnte, dass meine Eltern Buddy fest ins Herz geschlossen hatten. Erst dann würde ich sie in die glückliche und wundersame Genesung einweihen, natürlich nicht ohne klar zu stellen, dass ich ohne Hund sogleich wieder blind werden würde. Nun, ich behielt zum Glück mein Augenlicht, doch war mir von da an klar, dass ich nach dem Ausziehen von zuhause einen Hund namens Buddy haben würde.“

    Ich schwieg. Soll er doch meine Gedanken selber lesen, dachte ich trotzig. Was er dann auch tat. „Dies ist nicht die Geschichte, die du hören wolltest.“ Gut, das war nicht schwierig zu erraten. „Nein.“ Wir starrten uns an. Nicht blinzeln, hatte ich gelernt, wenn man überzeugend wirken will. Doch offenbar wusste er das auch.

    Erst jetzt bemerkte ich seine fast lächerlich langen Wimpern. „Was für eine Verschwendung für einen Mann“, dachte ich neidisch. Er schmunzelte und zuckte bedauernd mit den Schultern.

    Nichts kann man mehr in Ruhe zu Ende denken. Frustrierend.

    Ich hielt seinem Blick stand und er meinem. Wenn dieser junge Schnösel dachte, dass ich nachgebe, hatte er sich geschnitten. Ich kenne die englische Sprache gut genug um zu wissen, dass Timo mit „Wispy“ wahrscheinlich nicht nur meine zipfligen, feinen Haarbüschelchen gemeint hatte, sondern meine ganze eher kleine und vielleicht zerbrechlich wirkende Erscheinung. Man könnte mich wegblasen. Denkt er vermutlich.

    Junger Mann, auf dich wartet ja vielleicht eine Überraschung.

    „Du erinnerst mich an den kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry“, sagte er schliesslich. „Der hat auch nie auf eine Frage verzichtet, die er einmal gestellt hatte.“ „Danke gleichfalls, er selber hat bekanntlich auch nie eine Frage beantwortet.“

    Gleichstand. Doch ich lächelte.

    Auf meiner Seite waren Zeit, Ausdauer und eine gewisse Alterssturheit.

  • Begegnung mit David

    -3-

    „Also gut“, seufzte Timo schliesslich, „ich gebe auf. Die Geschichte auf Seite 17 der heutigen „Pendler-News“, das waren wir. Ganz so wie beschrieben hat es sich jedoch nicht abgespielt.“

    Da ich mich durch Timos Vorbild neuerdings auf die anderen Fahrgäste im Tram  konzentriert hatte, statt wie früher die Neuigkeiten zu lesen, wusste ich von nichts. „Ach komm“, spöttelte er, „als ich dich das erste Mal sah, bist du fast in die Zeitung gekrochen. Ich dachte, du willst sie auswendig lernen. Wobei diese oberflächlichen News Häppchen im Übermass ungesund und nutzlos, sogar gefährlich sein können. Du musst sie nicht alle lesen. Ich konnte an deinem Energiefeld sehen, dass dir gerade etwas als viel einseitiger, dramatischer und drohender verkauft wurde, als es in Wirklichkeit ist. Ich habe dich also sozusagen gerettet.“ Er grinste stolz auf seine unverschämte und dennoch sympathische Art.

    „Nun, ich muss doch wissen, was so läuft auf der Welt….“ versuchte ich mich zu rechtfertigen.  „Oh, da mach dir keine Sorgen, das Wichtige findet den Weg von selbst zu dir“, meinte Timo. „Du lebst ja nicht unter einer Glasglocke. Pass einfach auf, dass du die negativen Ereignisse der Welt nicht noch verstärkst durch deine Energie und Aufmerksamkeit.“

    „Uns geht es hier so gut, wir können doch nicht einfach alles andere ignorieren und nur für uns schauen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, machst du das auch nicht?“ fragte ich etwas irritiert. „Das stimmt allerdings“, pflichtete mir Timo bei. „Ungerechtigkeiten kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Wie ich auch nicht einfach wegschauen kann, wenn Menschen oder Tiere in Not geraten, ich muss etwas unternehmen.  Leider schiesse ich dabei gern übers Ziel hinaus, so wie gestern. Die Anleitungen zu meinen Aktionen finde ich allerdings nicht in der Zeitung.“

    „Hm….“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sticheln, „diese Seite 17 von heute, wurde sie dir etwa gegen deinen Willen telepathisch übermittelt?“ „So ähnlich“, schmunzelte Timo, zog eine zerknitterte Zeitungsseite aus seiner Jackentasche und schlug mir damit spielerisch auf den Arm. „Wenn man selber in der Zeitung kommt, gilt das Lesen als Recherche. Um etwas über den Stand der Ermittlungen heraus zu finden zum Beispiel.“ Er zeigte mit dem Kopf auf eine Bank: „Komm, setzen wir uns dorthin. Du kannst den Artikel lesen und ich erzähle dir, was wirklich passiert ist.“

    Der Platz hatte sich mit Jugendlichen gefüllt, die offenbar ihre Mittagspause nützten, um nach langer Regenzeit mal wieder im Freien zu essen. Es waren meist jüngere Schüler, etwa 12- bis 13-jährig. Sie waren laut in ihrer pubertären Unsicherheit, in ihrer Suche nach sich selber und nach ihrem Platz in der Gruppe. Einer der Jungs zeigte etwas auf seinem Smartphone herum. Es provozierte Geschrei und lautes Gelächter. Die Mädchen drückten sich in Gruppen zusammen, tuschelten und kicherten, auch von ihnen hatte fast jedes ein Smartphone in der Hand.

    Wir gingen an ihnen vorbei und setzten uns auf die Bank. Timo wollte mir soeben die Zeitungsseite geben, als er plötzlich aufmerksam auf etwas zu lauschen schien. „Nein…oh nein, das machst du nicht!“ stiess er hervor und sprang auf. Er zog mich hoch und sagte eindringlich: „Komm mit, ich brauche jetzt eine Frau. Ich brauche dich.“ Und erklärte auf meinen mehr als nur irritierten Blick hin, dass er sonst womöglich in ein schiefes Licht komme.

    „Wie, was , warum denn?“ wollte ich wissen, doch Timo zog mich schnell zum Sihl Ufer hin, an den Jugendlichen vorbei. Dort sass ein etwas übergewichtiger Junge ganz allein auf einem grossen Stein und fütterte geistesabwesend die Spatzen mit seinem Sandwich.

    Als wir fast bei ihm waren, wurde Timo langsamer und spazierte wie zufällig über den Platz. Er liess meinen Arm los und pfiff Buddy zu sich. Flüsterte ihm etwas ins Ohr, schubste ihn in Richtung Stein und blieb dann beobachtend stehen. Buddy ging in seiner gemütlichen Gangart zum Jungen hin, stupste ihn mit der Schnauze an und legte ihm den Kopf aufs Knie. „Mein netter Hund“, flüsterte Timo zufrieden. Er schlenderte auf den Jungen zu. „Hi, ich bin Timo und dies ist mein Hund Buddy. Hat er dich etwa belästigt?“ „Nein nein“, der Junge schüttelte den Kopf, „ich mag Hunde. Ich wünschte, wir hätten einen.“

    Ich war abwartend stehen geblieben, doch Timo winkte mich heran. „Komm her zu uns, damit ich nicht wie ein Kinderbelästiger wirke. Du siehst zum Glück aus wie eine Bilderbuch-Oma. Siehst du, wie nützlich du bist!“ Seine Worte weckten widersprüchliche  Gefühle in mir. Grossmutter sein ist ein heikles Thema in meinem Leben, doch das konnte Timo nicht wissen und ich wollte lieber nicht zu sehr darüber nachdenken.

    „Wie heisst du?“ fragte Timo den Jungen, „und wie lange hast du noch Pause?“ „David“, antwortete dieser, und nach einem Blick auf seine Uhr: „Noch etwa 20 Minuten, wieso?“ Timo überlegte kurz. Dann kauerte er sich vor David hin. „Dann haben wir nicht viel Zeit. Bitte vertrau mir David. Ich weiss, du wirst jetzt lachen, doch mein Buddy hier weiss recht gut, was in einem Menschen vorgeht. Er hat mir verraten, dass es dir heute ziemlich mies geht. Er will unbedingt, dass ich dir helfe – darf ich?“ David beobachtete intensiv die Spatzen, um uns nicht ansehen zu müssen. Dann zuckte er mit den Schultern: „Es ist heute nicht schlimmer als sonst“, meinte er schliesslich, doch seine Stimme klang ziemlich unsicher.

    Timo schien zu überlegen. Er biss sich auf die Lippen und schaute einen Moment lang auf die fliessende Sihl, die hohes, schmutziges Wasser führte nach all diesen Regenfällen. Dann sagte er zu David: „Es gibt manchmal so Sätze, die man ein Leben lang immer wieder zu hören bekommt. Bis man sie nicht mehr loswird, bis man sie sich sogar selber sagt – und schliesslich daran zu glauben beginnt, obwohl man eigentlich genau weiss, dass sie gemein und unfair sind und überhaupt nicht wahr. Fast jeder kennt solche Sätze. Was viele nicht wissen, ist jedoch, dass diese nicht in Stein gemeisselt sind. Man kann sie zerstören. Man kann sie lächerlich machen und ihnen jegliche Kraft nehmen. Ich weiss wie das geht, ich kann es dir zeigen.“  David schwieg. Er kaute an seinen Nägeln herum und sah uns nicht an.

    Timos Stimme wurde ganz sanft und weich. „‚Du wirst es nie zu etwas bringen‘ ist dein Satz, nicht wahr? Du hast ihn schon viel zu oft hören müssen in deinem Leben.“ David packte seinen Rucksack und wollte abrupt aufstehen. Ein kleiner Wink von Timo genügte und Buddy legte David mit einem leisen Winseln die Pfote aufs Knie. Der Junge war offenbar hin- und hergerissen zwischen Gehen und Bleiben. „David“, fragte Timo, „wie wäre es, wenn du von jetzt an jedes Mal lachen müsstest, wenn du diesen Satz hörst? Komm, wir machen ihn ein für alle Mal kaputt.“ „Findest du das wirklich lustig?“ stiess David wütend hervor und schickte ein paar wüste Schimpfworte hinterher.

    Timo liess sich nicht beirren. „Ich verstehe deine Wut sehr gut. Niemand sollte einen solchen Satz hören müssen. Ich möchte ihn dir jedoch noch ganz viele Male vorsagen jetzt, auf alle möglichen Arten. Und bald wirst du ihn wirklich lustig finden, ich verspreche es dir. Du darfst gern mitmachen. Komm, ich zeige es dir vor.“

    Timo sprach ganz langsam und langgezogen: „D-u   w-i-r-s-t   e-s   n-i-e  z-u  e-t-w-a-s  b-r-i-n-g-e-n.“ Dann wiederholte er den Satz ganz schnell. Daraufhin mit einer hohen, näselnden Falsettstimme. Als nächstes piepste er ihn wie ein Mäuschen. David blieb der Mund offen stehen. Timo parodierte Homer Simpson und seine Tochter Lisa. Er trompetete den Satz wie ein Elefant. Sagte ihn mit Micky Maus Stimme und anschliessend mit schwerem französischem Akzent. Er trillerte ihn, flüsterte ihn, jaulte ihn als Hund. Miaute ihn als Katze. Schlug mit der Faust auf den Stein und sagte jedes Mal eines der Worte dazu, schwer und gewichtig. David und ich hielten uns bereits die Bäuche vor Lachen. Timo fing an, jedes Mal ein anderes Wort des Satzes zu betonen. „Du“, sagte er bedeutungsschwer als ob er uns die ganze Wahrheit der Welt verraten wollte, „DU wirst es nie zu etwas bringen. Du WIRST es nie zu etwas bringen. Du wirst es NIE zu etwas bringen. Du wirst es nie zu ETWAS bringen. Du wirst es nie zu etwas BRINGEN.“ Das Ganze untermalte er mit so dramatischen Gesten, dass David und ich uns die Lachtränen abwischen mussten.

    Der Satz verlor zusehends seine Kraft und Macht. Wir lachten ihn gemeinsam aus. Timo fing ihn an zu singen mit Melodien aus Kinderliedern wie Pippi Langstrumpf, Hänschen Klein und Biene Maja. Er sprühte nur so vor Ideen und war sehr witzig. „Was magst du denn für Musik?“ fragte er David. Und zusammen sangen sie eine Rock n Roll, eine Techno und eine Hip Hop Version von „Du wirst es nie zu etwas bringen“. Buddy winselte dazu, als ob er mitsingen wollte. Die drei waren so köstlich, dass ich bereits Muskelkater im Bauch spürte vor Lachen.

    „Was denkst du, David“, fragte Timo schliesslich mit einem Blick zur Uhr, „wird dieser Satz dich je wieder deprimieren und dir dunkle Gedanken in den Kopf setzen können?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich werde meinem Vater…und hier in der Schule…“ Seine Stimme brach ab, doch er wirkte eher erstaunt und überrascht als traurig. Timo atmete erleichtert auf. „Dann suchen wir doch noch eine coole Antwort für dich, wenn du wieder provoziert wirst. Der blöde alte Satz und alle, die ihn dir an den Kopf werfen wollen, lassen dich von nun an sowieso kalt.“

    Obwohl ich sehr gern noch zugehört hätte, verabschiedete ich mich und beschloss, nach Hause zu fahren. Meine Katze Bella machte mir Sorgen, sie schien diese Tage nicht richtig gesund zu sein. Ich wollte sie nicht zu lange allein lassen. Timo lief mir ein paar Schritte nach, nahm mich in den Arm und hauchte mir: „Du wirst es nie zu etwas bringen“ mit dieser erotischen ‚Ruf-mich-an‘ Stimme der Spätprogramme ins Ohr. Dazu klimperte er verführerisch mit seinen blödsinnig langen Wimpern. „Die Erwachsenen-Version, funktioniert immer“, grinste er zufrieden, als ich mir eine weitere Lachträne aus dem Auge wischte.

    Erst im Tram kam mir in den Sinn, dass ich noch immer nichts über Timos Hausfriedensbruch Aktion von gestern wusste. Der Zeitungshalter war leer, doch drei Sitze weiter vorne lag ein ziemlich schmutziges und zerknittertes „Pendler-News“ Exemplar. Eine innere Stimme flüsterte mir zu, dass ich unbedingt diese Seite 17 lesen sollte. „Du musst schliesslich wissen, was los ist.“ „Er wollte es dir ja ohnehin erzählen.“ „Vielleicht ist er trotz allem einfach nur kriminell.“ „Dass noch eine Zeitung da liegt, ist schliesslich ein Zeichen.“  Ich pflichtete allem bei und blieb dennoch einfach sitzen. Das Tram war halb leer um diese Tageszeit. Genau bei der Haltestelle, die mir vor drei Tagen so überraschend Timo und Buddy ins Leben gebracht hatte, stieg ein alter Mann ein und schnappte sich die Zeitung.

    Dies war nun mein echtes Zeichen. Ich würde den Artikel auch nicht online lesen. Ich musste nicht mehr alles wissen. Zufrieden schaute ich aus dem Fenster und merkte plötzlich, dass ich die zuvor bei Timo nach langer Zeit wieder einmal gehörte Pippi Langstrumpf Melodie vor mich hin summte. Wie lautete schon wieder der Text? Ah richtig: „Ich mach‘ mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt…hey…Pippi Langstrumpf – die macht was ihr gefällt. -“

    Ich streckte meine Beine aus und überlegte mir, wie diese wohl in bunt geringelten Socken aussehen würden.

  • Das blaue Band

     – 4 –

    Es war reiner Zufall, dass ich einige Tage später doch eine Ahnung von Timos Doppelleben bekam.

    Ich hatte mir angewöhnt, ihn um die Mittagszeit vor dem Shopping Center an der Sihl zu treffen. Meistens fand ich ihn mitten unter den Leuten, die er fasziniert beobachtete und deren Gedanken und Träume er auf telepathische Art zu empfangen versuchte. „Spannender als jedes Buch und jede TV Show“, behauptete er jeweils. Er liebte es, traurige oder mutlose Menschen aufzuheitern und zu trösten. Meistens schickte er mich hin, um ihnen mit der richtigen Bemerkung oder einem unerwarteten Kompliment genau die Freude und Zuversicht zu schenken, die sie in dem Moment brauchten. Mit verrückten Ideen und viel Spass planten wir, wo und wie ich diese sozusagen massgeschneiderten Aufmunterungen scheinbar spontan an den Mann oder an die Frau bringen konnte. Wir lachten viel und teilten uns bei diesen Brainstormings oft fast eine ganze  Rolle Pfefferminzbonbons. „Du wirst eine richtige Schauspielerin“, lobte Timo. Ehrlich gesagt, merkte ich selber wie ich aufblühte. Mein Leben war spannender und farbiger geworden. Ich lächelte nun oft vor mich hin beim Gedanken, dass ich eine Art Glücksfee geworden war, plötzlich und unerwartet.

    Dies lenkte mich auch von meinen eigenen Sorgen um meine geliebte Katze ab. Timo wusste davon und versuchte uns zu helfen. Er hatte mich um ein Foto von Bella gebeten, nahm täglich telepathisch Kontakt mit ihr auf und tat alles, um sie zum Fressen zu bewegen. Ihre Nierenfunktion war beeinträchtigt und wie es diese Krankheit leider mit sich bringt, hatte sie fast keinen Appetit mehr. Da jeder Tag ohne Futter ihr enorm schadete, brauchte es ein ständiges Bitten, Betteln und Locken meinerseits, damit sie wenigstens ein paar Bissen zu sich nahm. Ich versuchte ihr jedes erhältliche Futter schmackhaft zu machen. Oft war es für mich eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich schwankte zwischen Hilflosigkeit und Frust an einem Tag und Hoffnung und Freude am nächsten.

    Dass Timo keinen Hund mit Superkräften brauchte, um Gedanken zu lesen, war mir längst klar geworden. „Konntest du das schon immer?“ hatte ich gefragt und zu meinem Erstaunen erfahren, dass alle Menschen als kleine Kinder diese Fähigkeit haben und auch mit Tieren kommunizieren können. Später geht dies meistens verloren und vergessen zugunsten der gesprochenen Sprache. Das heranwachsende Kind lernt schnell, dass diese viel effektiver ist in Familie und Umfeld. Bei vielen Urvölkern war und ist Gedankenübertragung auch unter Erwachsenen seit jeher völlig normal.

    „Man kann sich diese Fähigkeit wieder zurück holen“, versicherte Timo, „es ist, als ob man sich an eine vergessene Fremdsprache erinnert. Es braucht am Anfang jedoch viel Übung. Ich hatte das Glück, dass mein hoffnungslos romantischer und philosophischer Vater sich mit diesen Themen beschäftigte und sie mir schon als Kind nahe brachte.“

    „Und wie holt man dieses Wissen aus der Versenkung?“ fragte ich skeptisch. „Ich selber liege meistens falsch, wenn ich versuche herauszufinden, was jemand denkt.“ „Es ist nicht schwierig“, sagte Timo langsam und mit bedeutungsvoller Stimme, „allerdings musst du dafür einen Mord begehen.“ „Wie bitte?!“ Zu Timos Erheiterung blieb mir der Mund offen stehen. Er lachte laut auf und drückte mich kräftig. „Nur sinnbildlich gesprochen natürlich – du musst dein Ego und deine eigenen Gedanken, das, was die Buddhisten Affengeschnatter im Hirn nennen, zum Schweigen bringen. Ach, ich liebe es, dich auf den Arm zu nehmen, du aufrechte und gesetzestreue Schweizerin.“

    Bevor ich protestieren konnte, redete er weiter. „Wenn du dich mit einem Menschen oder Tier innerlich verbinden willst, geht es nur um diese und nicht um dich. Deine Gedanken und Ansichten sind für den Moment schlicht nicht gefragt. Je leerer und ruhiger dein Geist ist, desto offener und empfänglicher bist du für fremde Gefühle. Ich persönlich komme am schnellsten in diesen Zustand, indem ich mich nur noch auf die Geräusche meiner Umgebung konzentriere. Erst achte ich auf die leisen, nahen, dann auf die weiter entfernten Töne und schliesslich versuche ich das fast Unhörbare aufzufangen. Auf diese Art wird alles ruhig in mir und es öffnet sich quasi ein leerer Raum für die andere Seele. Deren  Ansagen kommen daraufhin so klar, als ob sie auf eine Tafel geschrieben würden. Ich muss nur noch lesen. Doch wie gesagt: es braucht Übung. Das Ego mag es gar nicht, wenn es übergangen wird; und nicht zu werten, sind wir uns einfach nicht gewöhnt.“

    Ich holte tief Luft und beschloss, ihm die Frage zu stellen, die mir schon lange im Kopf herum ging. Nicht, dass es mich etwas anging! Doch dieser intelligente und offenbar gesunde junge Mann vertrieb sich die Tageszeit vor einem Shopping Center. Arbeitete er denn nicht? Seine Kleidung war immer sportlich und leger, dazu sauber und ohne diese grässlichen Löcher und Risse, die heutzutage offenbar dazu gehören. Sein Hund war ebenfalls gut genährt und gepflegt. Obdachlos waren die beiden ganz sicher nicht. So gern mir Timo aus dem Leben anderer erzählte, mit Details aus seinem eigenen geizte er.

    Und so schwieg er erst einmal, als er realisierte, worauf ich mit meiner vorsichtig gestellten Frage hinaus wollte. Dann seufzte er traurig und schaute weg. „Ach weisst du Wispy, es ist nicht einfach, Arbeit zu finden. Buddy könnte ich sowieso nicht den ganzen Tag allein lassen. Meistens kommen wir mit dem Arbeitslosengeld durch. Doch oft bleibt mir nichts anderes übrig, als an den Bahnhöfen zu betteln. Wenn ich sage, dass ich Geld für Hundefutter brauche, sind die Leute meistens spendabel. Es ist trotzdem sehr demütigend.“ Ich wollte ihm ins Gesicht schauen, zu oft hatte er mich schon auf die Schippe genommen. Doch er biss sich auf die Unterlippe, wandte abrupt den Kopf ab und streichelte intensiv Buddys lockiges Fell. Täuschte ich mich oder bebte sein Rücken ein wenig? Er würde doch nicht…? Ich legte ihm den Arm um die Schultern. Sie zuckten tatsächlich ein wenig. Hilflos schaute ich Buddy an und zischte schliesslich: „Mach doch etwas! Ich dachte, Hunde spüren, wie es ihrem Meister geht?!“

    Buddy gähnte, streckte sich ausgiebig und legte sich dann flach auf den Boden. Von da blinzelte er zu mir hoch. Lachte er mich etwa aus?! Er lachte mich aus! Nun richtete sich auch Timo auf und schaute mich an. Er hatte tatsächlich Tränen in den Augen – vor lauter unterdrücktem Lachen. Er prustete los und nahm mich fest in den Arm. „Es tut mir so leid Wisp“, japste er, „ich konnte einfach nicht widerstehen. Was hast du mir nicht alles zugetraut, als wir uns das erste Mal getroffen haben! Vom Taschendieb über den Trickbetrüger bis zum psychisch gestörten Sozialfall war alles dabei. Dies war meine kleine Rache.“ Er amüsierte sich königlich auf meine Kosten.

    „Ach komm, nicht beleidigt sein“, schmeichelte er ein paar Minuten später, „ich erzähle dir dafür jetzt die Wahrheit. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich dreisprachig aufgewachsen bin. Mein Vater stammt ursprünglich aus Italien, meine Mutter aus England. Unsere Familiensprache ist zwar Schweizerdeutsch, doch wenn ich mit einem der beiden allein bin, reden wir seit jeher in der entsprechenden Muttersprache. Später habe ich den Bachelor of Arts bestanden und arbeite nun als freiberuflicher Übersetzer. So kann ich meine Arbeitszeit selber einteilen und zu Buddy zu schauen, ist auch kein Problem. Abgabefristen und Zeitdruck kenne ich allerdings zur Genüge. Doch ich werde zum Glück anständig bezahlt für meine Arbeit. Hey, ich bin natürlich auch super gut. Das Szenarium mit dem Bettelplakat um den Hals kann noch warten.“ Und wieder schüttete er sich aus vor Lachen.

    „Und wo wohnst du, wenn du nicht gerade in dem geheimnisvollen Haus am Waldrand zu finden bist, von dem du mir erzählt hast?“ Ich wollte seine unerwartete Offenheit nutzen. Tatsächlich lenkte er nicht wie üblich ab. „Ich durfte die Einliegerwohnung meiner Eltern mieten. Früher haben die Grosseltern dort gewohnt. Für mich ist es perfekt so, ich habe ein eigenes Bad, eine eigene Küche und zwei kleine Zimmer. Wenn ich mal ohne Buddy weg will, wird für ihn gesorgt. Meine Eltern haben mir dieses Angebot nach dem Tod der Grosseltern vor zwei Jahren gemacht, weil sie möglichst keine fremden Leute im Haus wollten. Es gibt nur einen Hauseingang. Korridor, Balkon und Garten werden gemeinsam benutzt. Eine Win-Win Situation, wenn du so willst. Und nun wohnt tatsächlich ein Hund namens Buddy bei uns! Meine Eltern lieben ihn mindestens so sehr wie in meinen Tagträumen. Mein sehnlichster Kinderwunsch ist fast 20 Jahre später doch noch in Erfüllung gegangen.

    Es hat noch etwas Gutes. Meine Familie unterstützt meine Aktionen zwar nicht, doch Mutter und Vater sind loyal genug um mich zu decken, wenn ich wieder einmal für ein Weilchen verschwinden muss. Manchmal fragt die Polizei nach mir. Meine Eltern erzählen dann, dass ich wohl für ein paar Tage weggefahren sei, zum Wandern, Bergsteigen, Skifahren oder zu einer Freundin. So genau wüssten sie es nicht. In meinem Alter müsse ich ja nicht mehr Rechenschaft ablegen und aufs Handy anzurufen bringe erfahrungsgemäss nicht viel, da ich es meistens nicht einmal dabei hätte. Zu ihrer Erleichterung müssen sie überhaupt nicht lügen dabei. Sie sind wie du“, lachte Timo, „immer schön auf dem rechten Weg bleiben.“

    „Deine Familie, sagst du? Hast du denn Geschwister?“ wollte ich die Gunst der Stunde nutzen, doch Timo schaute schon seit einiger Zeit immer wieder auf die Uhr und hatte bereits mehrere Telefonanrufe weggedrückt. Nun wurde er unruhig und erklärte, dass er noch etwas vor habe und erst Buddy nach Hause bringen müsse. Ich bekam einen flüchtigen Kuss auf die Wange und von Buddy einen feuchten Stupser gegen die Hand, als ob er sich fürs Auslachen entschuldigen wollte. Und weg waren sie.

    Ich hätte gern noch etwas Weiteres gefragt. Als Timo vorhin mit seinem Smartphone herumgespielt hatte, war mir eine Art Armband aufgefallen, welches unter seinem linken Ärmel hervorblitzte. Kobaltblau und Magentafarben. Als ehemals begeisterte Zeichnerin erkannte ich diese beiden Farben sofort und wusste um ihre mystische Bedeutung.

    Ich nahm mir vor, beim nächsten Treffen danach zu fragen. Es war Mitte Nachmittag und nachdem ich eine weitere Auswahl an Katzenfutter Säckchen für Bella eingekauft hatte, fuhr ich zum Hauptbahnhof, um mein Tramabonnement erneuern zu lassen. Wie üblich musste ich mich hinter einer langen Reihe Wartender anstellen. Gelangweilt sah ich mich um und beobachtete die Leute. Da fiel mir ein stämmiger junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren auf, der ein paar Meter von mir entfernt hin und her gehend in sein Telefon sprach. Er war ganz schwarz gekleidet und fuhr sich ständig mit der linken Hand über den Kopf. Er hielt dabei sein Handgelenk so gedreht, dass man die Innenseite von überall her gut sehen konnte. Er trug ein kobaltblaues Armband mit magentafarbenen Mustern, welches auf seiner Arminnenseite zu einem breiten „V“ wurde.

    Ich wühlte umständlich in meiner Tasche, als ob ich etwas suchen würde, trat aus der Kolonne aus und versuchte in die Nähe des Mannes zu gelangen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich versuchen wollte, etwas von diesem Gespräch mitzubekommen. Doch der Mann achtete darauf, dass er immer frei stand. Er schaute sich aufmerksam um. Immer mehr meist junge Leute blieben in seiner Nähe stehen und schienen auf etwas zu warten. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich nicht oder nicht gut kannten, doch offenbar gehörten sie trotzdem zusammen. Sie standen in mehreren kleinen Gruppen herum und redeten nicht viel. Doch alle trugen das blaue Armband, meistens von der Kleidung fast verborgen. Es schien ein Kennzeichen zu sein.

    Durch Timo hatte ich bekanntlich schauspielern gelernt. Ich suchte mir eine nett aussehende junge Frau am Rande der Gruppe aus, stolperte gekonnt neben ihr und liess meine Tasche mit so viel Schwung fallen, dass all meine Katzenfuttersäckchen weitum verstreut lagen. Sie bückte sich sofort und half mir auflesen, dabei rutschte ihr Pulloverärmel nach hinten und ich sah das schöne Band mit den satten Farben und dem breiten „V“ auf der Handgelenkinnenseite. „Oh, was für ein schöner Schmuck“, rief ich entzückt aus. „Wo kann man denn so etwas kaufen?“ Die junge Frau presste die Lippen zusammen und zog schnell den Ärmel bis fast über die Hand. „Es tut mir leid, ich muss nun gehen“, sagte sie hastig und wirklich, die Gruppe machte sich bereits auf den Weg zu den Tramhaltestellen. Die Leute gingen betont unbeteiligt und mit Abstand nebeneinander her, als ob sie sich nicht kennen würden.

    Nur der Schwarzgekleidete war noch da. Er schien auf einen jungen Mann zu warten, der vom Gleis her geeilt kam und achtete nicht auf mich. Ich stellte mich hinter ihn und wühlte schon wieder suchend in meiner Handtasche. Ausser Atem traf der offenbar letzte der eigenartigen Gruppe ein. „War Bud hier?“ fragte er keuchend. „Nein“, sagte der erste, „er koordiniert alles und trifft uns vor Ort.“ Und damit machten sie sich ebenfalls auf den Weg.

    Nun ärgerte mich meine Futterbeutel Aktion ein wenig. Einige der Jungen hatten mich und die junge Frau beim Aufsammeln beobachtet. Wenn ich nun dicht hinter ihnen hergehen würde, in der Hoffnung mehr zu erfahren, würde dies sicher auffallen. Der Grossteil der Gruppe war sowieso bereits verschwunden. Und hatte ich nicht erst noch beschlossen, dass ich gar nichts von Timos geheimen Aktionen wissen wollte?

    „Erst Pippi Langstrumpf und jetzt wirst du Miss Marple, oder was?!“ schimpfte ich innerlich ein bisschen mit mir selber. Doch ich schmunzelte den ganzen Heimweg über vor mich hin.

    Später am Abend fasste ich einen plötzlichen Entschluss. Ich stand von der Couch auf, schaltete den Fernseher aus und ging auf den Dachboden. Eigentlich hatte ich nur meine Zeichenutensilien holen wollen, die da seit Jahren unbenutzt Staub angesetzt hatten. Ich hatte Lust bekommen, das geheimnisvolle Armband mit den schönen Farben zu malen, welches mir nicht aus dem Kopf ging. Zwei Stunden später sass ich immer noch auf dem Dachboden und wühlte in Fotos, Briefen und Zeichnungen, überwältigt von all den Erinnerungen. Ich hatte so vieles versucht zu vergessen und und zu verdrängen und dies mit einer latenten Melancholie bezahlt, für die ich glaubte, keine Erklärung zu haben. Nun war ich bereit für eine Konfrontation. Was konnte mir schon passieren?

  • Erinnerungen

     –  5-

    Als ich Paul kennen lernte, war es in unserem Kanton noch verboten im Konkubinat zu leben – etwas, was sich die heutigen Jungen kaum mehr vorstellen können. Ich war jung und hungrig nach Abenteuer, ich wollte alles erleben und alles erfahren. Paul war ein ganzes Stück älter als ich. Ich fand ihn unheimlich lebenserfahren und war stolz darauf, dass er sich mit mir abgab. Als Mittlere von fünf Kindern fühlte ich mich zuhause immer übergangen und ungerecht behandelt. Ging es um Verantwortung und Pflicht, gehörte ich garantiert zu den Grossen. Durften die ausgehen, länger wegbleiben oder ausnahmsweise einmal ins Kino, gehörte ich bestimmt zu den Kleinen, die zu Hause bleiben mussten.

    Ich hatte keinen Platz für mich allein und absolut keine Privatsphäre. Wir drei Mädchen teilten uns ein Zimmer, die beiden Brüder ebenfalls. Unsere Eltern waren nicht auf Rosen gebettet. Wir wohnten in einem bescheidenen Haus. Anja war ein Jahr älter als ich und Rosie fast zwei Jahre jünger. Meine Schulsachen, meine Kleider, meine Bücher, meine Malsachen….alles verschwand regelmässig, nichts fand ich dort wieder, wo ich es hingelegt hatte. Meine ältere Schwester war clever und schlau, ich konnte ihr nicht das Wasser reichen. Die jüngere war verträumt und gefühlvoll, dafür mit einem Charme gesegnet, dem niemand widerstehen konnte. Ich hatte zwar ein gewisses künstlerisches Talent, doch dies zählte nicht viel in meiner Familie. Ich war die normale, unauffällige Tochter. Wir Schwestern mochten uns zwar und hatten oft Spass zusammen, doch mit drei Mädchen auf so engem Raum gab es auch regelmässig Konflikte, Streit und Tränen. Dies wurde nicht besser, als wir uns zu jungen Frauen mit Geheimnissen und dem Wunsch nach mehr Privatsphäre entwickelten.

    Wenn ich mit Paul ausging, genoss ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich konnte mit ihm reden und diskutieren, ohne dass ständig jemand anderes das Gespräch an sich riss wie bei uns zuhause. Er war ernsthaft, ruhig und zuverlässig und hatte einen sicheren Job bei einer Versicherung. Und vor allem war er verliebt in mich! Endlich hatte ich einmal etwas für mich. Ich schwebte im siebten Himmel.

    Meine Mutter machte ständig halb bittende, halb drohende Andeutungen in der Richtung „Komm uns bloss nicht mit einem Kind nach Hause.“ Damals redete man in vielen Familien noch nicht offen über Verhütung und schon gar nicht über Sex. Computer und Google gab es bekanntlich ebenfalls noch nicht. Unser Wissen war dementsprechend zusammen geschustert und lückenhaft. Dies war wohl allen Müttern bewusst, dennoch konnten die meisten nicht über ihren Schatten springen und ihre Kinder umfassend aufklären.

    In den Städten zogen mehr und mehr unverheiratete junge Leute zusammen und 1972 wurde das Konkubinatsverbot im Kanton Zürich aufgehoben. Bei uns auf dem Land kam eine wilde Ehe noch länger nicht in Frage, also drängten meine Eltern auf Heirat. Ob wirklich aus Angst, dass ich schwanger werden könnte, oder mit dem Gedanken an mehr Platz im Haus und eine Esserin weniger am Tisch im Hinterkopf, weiss ich nicht. Wohl beides.

    Wir zogen in die Stadt, nach Zürich. Am Anfang schwelgte ich im Luxus einer schönen, eigenen Wohnung. Ich breitete meine Malsachen aus und freute mich, wenn sie am nächsten Tag immer noch so schön ordentlich da lagen. Ich war 20 Jahre alt, hatte soeben meine Lehre als Grafikerin bestanden und freute mich aufs Berufsleben. Doch Paul wollte, dass ich zuhause bleibe. Damals war eine Vollzeithausfrau viel üblicher als heute, selbst wenn keine Kinder da waren. Nachwuchs wünschten wir uns sowieso. „Dann kommt auswärts arbeiten ohnehin nicht mehr in Frage“, argumentierte Paul. „Die Leute sollen nicht denken, dass ich so wenig verdiene, dass meine Frau arbeiten gehen muss.“ Auch dieses Denken war damals weit verbreitet.

    Doch ich wurde nicht schwanger. Die erste Euphorie beim Gedanken daran, wie erwachsen ich jetzt war, mit Mann und eigenem Haushalt, wich langsam der Ernüchterung. Bald schon sehnte ich mich nach der Sorglosigkeit des Elternhauses zurück. Waren verschwundene Gegenstände, ständig besetzte Badezimmer und zu wenig Platz wirklich einmal meine grössten Sorgen gewesen? Wenigstens hatte ich immer jemanden zum Reden und Lachen gehabt. Niemand verbot mir wegzugehen und mich mit meinen Freundinnen zu treffen. Genau das mochte Paul nämlich nicht. „Du kannst mit mir reden, am Abend“, meinte er, „ich bin ja früh zu Hause.“ Das war er meistens, doch seine Pingeligkeit und Genauigkeit gingen mir schon bald auf die Nerven. In unserem Haus hatte es keine Rolle gespielt, ob eine halbe Stunde früher oder später gegessen wurde. Das benötigte Geschirr und Besteck musste ohnehin meistens vorher in den verschiedensten Räumen zusammen gesucht und erst noch abgewaschen werden. Wir sahen das nicht so eng.

    Paul hingegen war ein Einzelkind. Er mochte keine Überraschungen. Spontanität jeglicher Art war ihm ein Gräuel. Am Anfang hatten wir noch Geduld miteinander und scherzten, Kinder würden unser Leben sowieso nochmals total verändern. Mit der Zeit wurde es still zwischen uns. Paul war befördert worden und fühlte sich nicht ernst genommen von seinem neuen Team. Die jungen Angestellten hatten in seinen Augen zu wenig Respekt vor seiner Autorität und machten sich über seine Kleinkariertheit lustig. Sie ärgerten ihn absichtlich, indem sie die Gegenstände auf seinem Pult verschoben oder versteckten und sich dann über seinen Wutausbruch amüsierten.

    Je weniger sich Paul im Geschäft durchsetzen konnte, desto mehr bestand er zu Hause auf seinen Regeln. Er wollte wenigstens über mich die Kontrolle haben. Da ich ausser meiner Familie und den Freundinnen von früher wenig Aussenkontakte hatte, wusste ich mich nicht zu wehren. Heute findet man im Netz für jede Lebenssituation Rat und Hilfe, kann das Herz bei Leidensgenossinnen ausschütten oder sich Tipps holen. Damals geriet man schnell in die Isolation. Paul wurde bitter, über die Jahre bildeten sich tiefe Linien in seinem Gesicht und seine Lippen wurden schmal. Niemand wunderte sich, als er erst Magenschmerzen und später ein Magengeschwür bekam. Je weniger er sich akzeptiert fühlte, desto pingeliger bestand er auf absurd strikten Regeln und Vorschriften. Auch er war auf seine Art einsam und isoliert, doch wir konnten uns in unserer Enttäuschung gegenseitig nicht helfen. Statt das fröhliche Familienleben zu haben, von dem wir geträumt hatten, lebten wir nach Jahren fast wortlos aneinander vorbei. Die gemeinsamen Mahlzeiten wurden zur Qual. Paul vertrug dies und jenes nicht mehr, verzog oft fast angewidert das Gesicht und mäkelte ständig am Essen herum. Egal wie viel Mühe ich mir gab, ich hatte immer zu wenig magenfreundlich gekocht. Oder, falls dieser Punkt wirklich nicht zutraf, war es ihm zu fad und zu trostlos. Schliesslich fingen wir an, getrennt zu essen, ich möglichst bevor er nach Hause kam, er später allein vor dem Fernseher.

    Paul musste Medikamente schlucken, die nicht viel halfen, jedoch seinen Mund austrockneten. Er fing an, aufs Fürchterlichste zu schnarchen nachts. Ich brauchte Monate, bis ich den Mut hatte, ihn darauf anzusprechen und zu bitten, ins Gästezimmer zu ziehen. Wir nannten es Gästezimmer, obwohl nie Gäste bei uns übernachteten. Es Kinderzimmer zu nennen, war irgendwann zu schmerzhaft geworden. Paul wurde wütend und bissig und behauptete, er schnarche ganz sicher nicht, dies sei eine reine Schikane von mir. Er unterstellte mir sogar einen heimlichen Freund und kontrollierte mich noch engmaschiger. Erst als ich vor Erschöpfung durch die vielen schlaflosen Nächte jeweils am Tisch einschlief, gab er nach.

    Als ich dreissig geworden war, hatten wir unsere Kinderlosigkeit abklären lassen. Die Ursache lag zu etwa gleichen Teilen bei beiden. „Es ist nicht ganz hoffnungslos“, tröstete uns der Arzt, „allerdings ziemlich unwahrscheinlich. Wenn Sie sich ein Leben ohne Kinder nicht vorstellen können, sollten Sie anfangen, über Adoption nachzudenken.“ Dies wie auch Fruchtbarkeitsbehandlungen schloss Paul jedoch vehement aus. Er nahm den unerfüllten Kinderwunsch so persönlich, als ob er vermutete, dass sich der Himmel und das ganze Universum über ihn lustig machen wollten. Noch ein Plan, der nicht eingehalten worden war, nur um ihn zu ärgern. Er wollte ein Kind erzwingen und fing an, meinen Zyklus zu kontrollieren, um sich die beste Zeit für eine Befruchtung auszurechnen. Wir schliefen nur noch dann zusammen, wenn er es zeitlich passend fand. Er legte eine so wilde Entschlossenheit an den Tag bzw. die Nacht, dass ich unser Zusammensein zu fürchten begann. Unser Leben war freudlos geworden. Ich atmete auf, als er ins Gästezimmer zog und war den Magentabletten sehr dankbar für sein Schnarchen. Natürlich hörte ich es immer noch, doch was für ein Luxus, allein im Bett liegen zu können. Oft las oder zeichnete ich die halbe Nacht hindurch und war dennoch nie mehr so müde wie zuvor.

    Dass sich meine Laune gebessert hatte, verdankte ich auch einer guten Freundin. Sie hatte ebenfalls ziemlich früh geheiratet und war in ein kleines Haus gezogen. Dazu gehörte eine Garage, doch da sie und ihr Mann als überzeugte Umweltschützer nur per Fahrrad unterwegs waren, benutzten sie sie nicht. Ich durfte sie mir als Zeichenatelier einrichten und manchmal sogar den Kindern in der Umgebung  Malstunden geben. Statt Miete zu bezahlen, putzte ich regelmässig das Haus und pflegte den Garten. So war allen geholfen. Leider musste ich dies vor Paul geheim halten, was mich belastete. Solange er am Morgen in der Wohnung war, trug ich Morgenmantel und Pantoffeln. Kaum hatte er das Haus verlassen, stürzte ich unter die Dusche, zog mich an und sauste aus dem Haus. Zum Glück konnte ich mich darauf verlassen, dass er jeden Tag auf die Minute genau zur gleichen Zeit zur Arbeit fuhr. Wann er am Abend zurück sein würde, konnte ich jedoch nicht vorher sehen, dies kam auf seine Arbeitslast an. Deshalb achtete ich darauf, dass ich vom frühen Nachmittag an wieder zuhause war. Eine Weile lang besuchte Paul jeweils am Samstagmorgen einen Weiterbildungskurs. Dies war meine glücklichste Zeit. Ich bot einen Malkurs für Anfänger an und hatte grossen Erfolg. Das verdiente Geld versteckte ich zwischen meinen Malsachen, ein eigenes Konto zu eröffnen, hätte ich nicht gewagt.

    Ich war etwa 37 Jahre alt und Paul bereits 45, als sich das Blatt zu wenden schien. Er hatte eine Lohnerhöhung und nochmals eine Beförderung erhalten und fing nun plötzlich an, Positiveres von der Arbeit zu erzählen. Zwar war dieser Aufstieg nicht einfach und er hatte viel Neues zu lernen. Doch statt sich zu ereifern und aufzuregen, wie all die Jahre zuvor, lächelte er jetzt öfters über Pannen und Missgeschicke. Manchmal ärgerte er seine Untergebenen sogar zurück, wenn sie ihm Streiche spielten. Seine tiefen Falten schienen sich etwas zu glätten. Sein Mund wurde wieder weicher. Mit diesem neuen Mann hätte ich gern wieder etwas unternommen, wir waren zum Beispiel ewig nicht mehr im Urlaub oder auch nur auswärts essen gewesen. Doch er war nur noch selten zu Hause. Am Abend hatte er nun oft Weiterbildung. Ferien, so vertröstete mich  Paul, würden wir nehmen, wenn er sich richtig eingearbeitet hätte. Dafür schlief er ab und zu wieder in unserem Bett. „Ich schnarche nicht mehr“, behauptete er, „ich brauche nur noch die Hälfte der Medikamente. Mein Magen hat sich erholt.“ Wirklich ruhig waren unsere Nächte zwar nicht, doch ich wollte den neuen Frieden nicht gefährden und fand mich damit ab.

    Während der freudlosen Jahre hatten wir unsere Geburtstage nicht gross gefeiert. Gratulation und ein Verlegenheitsgeschenk, das war’s meistens. Mit den Jahren war Paul knausrig geworden. Dennoch wollte er weiterhin auf keinen Fall, dass ich arbeiten ging. Als meine beruflichen Kenntnisse mit der Zeit mehr und mehr in Vergessenheit gerieten, hätte ich es mir irgendwann auch nicht mehr zugetraut. So kam ich mit dem knappen Haushaltungsgeld aus und leistete mir hin und wieder heimlich eine kleine Freude mit dem Geld aus den Malstunden. Da meine Schwestern wie auch meine Freundinnen alle zumindest Teilzeit arbeiteten, geriet ich immer mehr in die Isolation.

    Am Abend vor meinem 38. Geburtstag fuhr ich nochmals in mein Atelier. Paul war wieder an einer Schulung. Ich hatte beschlossen, uns am nächsten Tag etwas besonders Feines zu kochen und wollte sogar wieder einmal einen Kuchen backen. Langsam hatte sich die Hoffnung auf ein etwas schöneres Eheleben eingeschlichen und ich wollte meinen Teil beitragen. Doch ich hatte am Morgen vergessen, etwas von meinem Extrageld mitzunehmen und so kam es mir gelegen, dass Paul gesagt hatte, ich müsse am Abend nicht auf ihn warten. Es könne sehr spät werden.

    Ich sass im Tram und schaute gerade träumend aus dem Fenster, als ich plötzlich Paul entdeckte – er betrat soeben ein Restaurant. Es regnete. Er hatte seinen Schirm ausgeschüttelt, drehte sich nun um und verschwand in der Tür. Ich war verwirrt. War die Schulung ausgefallen? War sie früher fertig? Warum kam er dann nicht nach Hause? Restaurants hielt Paul doch für eine Geldverschwendung. Dass er eine Affäre haben könnte, kam mir im Traum nicht in den Sinn. Zumindest nicht jetzt, wo wir es doch endlich wieder ein wenig schöner hatten miteinander.

    Doch so war es. Ich war an der nächsten Station ausgestiegen und langsam zurückgegangen. Die Strasse war von Bäumen gesäumt, ich konnte mich problemlos hinter einem dicken Stamm verstecken und ins Restaurant schauen. Paul sass am Fenster, an einem Zweiertisch. Noch fragte ich mich, was los sei, ob er vielleicht auf einen Arbeitskollegen wartete, da sah ich sie kommen. Und wusste es intuitiv. Sie wirkte weder jünger als ich, noch schöner oder schlanker – nur viel gelöster und fröhlicher. Ich realisierte mit klopfendem Herzen und aufsteigenden Tränen in den Augen, dass sie so aussah wie ich früher, bevor mich diese Ehe so müde, hoffnungslos und deprimiert werden liess. Die Begrüssung im Restaurant war herzlich, mit viel Umarmen und Küssen. Paul war wohl ein klein wenig zugänglicher geworden in der letzten Zeit, doch so ein Strahlen hatte ich jahrelang nicht mehr auf seinem Gesicht gesehen. Wenn überhaupt.

    Während ich mit brennenden Augen hinter dem Baum stand und überlegte, was ich tun sollte, winkte Paul fröhlich dem Kellner. Er hatte die Hand der Frau nicht mehr losgelassen, seit sie sich gesetzt hatten und streichelte sie ununterbrochen. Ich fuhr mir mit meiner eigenen Hand übers Gesicht und durch die mittlerweile nassen Haare, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte. Diese Frau war also seine Medizin gewesen, für sie hatte er sich geändert, nicht für mich.

    Man muss sich vielleicht in mich und mein Leben versetzen können, um zu verstehen warum das, was dann geschah, mir so völlig den Rest gab. Für mich war nicht einmal die Tatsache, dass Paul eine Freundin hatte, das Schlimmste. Ich liebte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr wirklich. Doch als er eine Flasche Champagner zum Tisch bringen liess, war es für mich zu viel. Es war meine Lieblingsmarke, bloss gab es den bei uns seit vielen Jahren nicht mehr. Nicht einmal Prosecco leisteten wir uns noch- wir hatten ja auch kaum etwas zu feiern. Paul hatte zudem behauptet, Alkohol verursache ihm unerträgliches Magenbrennen. Er vertrage eigentlich nur noch Wasser. Ab und zu  ein feiner Wein zum Essen, wie am Anfang unserer Ehe, kam ebenfalls nicht mehr in Frage. „Es war dir wohl alles zu teuer“, dachte ich bitter, denn nun hob Paul strahlend sein Glas, um mit der Frau anzustossen.

    Ich hatte genug gesehen und fuhr wieder nach Hause. Ich konnte nicht schlafen, versuchte es erst gar nicht. Im Kopf erlebte ich all die Jahre unserer Ehe nochmals. Von  der Euphorie und Verliebtheit der Anfänge über die schleichende Entfremdung , die gegenseitigen Anschuldigungen, die Missverständnisse, die ersten Tränen und Zurückweisungen bis zur Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit der späteren Jahre. Dann stand mein Entschluss fest.

    Paul kam sehr spät heim. Ich ging ihm im Korridor entgegen, was ihn offensichtlich ärgerte und irritierte. Er roch nach viel Wein und Zigaretten. Ich machte es kurz: „Ich habe dich mit deiner Freundin gesehen. Such dir eine andere Wohnung, ich werde sofort die Scheidung einreichen.“ Er starrte mich ungläubig an. Dann, es war wohl der Alkohol, wurde er ausfallend. Er beschimpfte mich in den wüstesten Worten. Ich sei selber schuld, dass er fremd gehe, prüde und kompliziert wie ich in gewissen Dingen sei und vieles mehr. Plötzlich kippte er ins Weinerliche. Scheidungen waren damals noch nicht so an der Tagesordnung wie heute. Paul fürchtete um seinen Ruf im Geschäft und um sein Ansehen. Zudem werde er diese Wohnung ganz bestimmt nicht mir überlassen, das könne ich mir gleich aus dem Kopf schlagen. Ich wollte nichts mehr hören und packte meinen Wohnungsschlüssel, um draussen frische Luft zu schnappen, allein zu sein, vielleicht ein paar Minuten laufen zu gehen. „Wo willst du hin?“ schrie Paul, nun wieder aggressiv. Als er versuchte, mir den Schlüssel aus der Hand zu reissen, geschah es: er traf mich mit seinem Ellbogen hart unter dem Auge. Ich schrie auf und weinte vor Schreck und Schmerz. Er hätte mich nie absichtlich geschlagen, das weiss ich, doch nun glaubte ich einen Anflug von Genugtuung in seinem Gesicht zu sehen. Ich kehrte mich um, ging ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür mit dem Schlüssel ab.

    Als ich am nächsten Morgen hörte, wie er sich im Wohnzimmer die Schuhe anzog, ging ich bereits angekleidet ins Treppenhaus. Mit dem Rücken zu ihm hielt ich die  Autoschlüssel, die ich in der Nacht an mich genommen hatte, klimpernd über meinen Kopf: „Ich fahre dich ins Geschäft und hole dich am Abend wieder ab.“ „Wieso denn das?!“ fuhr Paul auf. Ich durfte sein Auto nur in Notfällen benutzen. Ich drehte mich zu ihm um, so dass er die grosse, blutunterlaufene Stelle unter meinem Auge sah. „Ich muss zum Arzt. Vielleicht ist das Jochbein gebrochen. Ich habe Schmerzen.“ Als er kopfschüttelnd und dickköpfig stehen blieb, sagte ich: „Ich kann natürlich auch das Tram nehmen und die Fragen meiner Nachbarinnen beantworten.“ Ich kannte niemanden im Haus oder in der Umgebung so gut, dass sie mich darauf angesprochen hätten, doch das wusste Paul nicht. Er zuckte mit den Schultern und gab nach. Seine Augen waren gerötet und er war offenbar verkatert. Auf der Fahrt ins Geschäft wechselten wir kein einziges Wort.

    Ich hatte die ganze Nacht Zeit gehabt, um mir einen Plan zu recht zu legen. Als erstes fuhr ich in die ärztliche Permanence am Bahnhof. Ich wollte nicht zu meinem Hausarzt; je unpersönlicher, desto besser. Das Jochbein war nicht gebrochen, doch die Verletzung nun offiziell festgehalten, auch wenn ich den Hergang nicht wahrheitsgemäss erzählt hatte. Als nächstes machte ich Farbfotos in einem der Automaten, die es damals noch überall gab. Mein Auge sah übel aus, es war unterdessen halb zugeschwollen und blau-rot. Schmerzen hatte ich keine mehr vor lauter Adrenalin im Blut. Die Schmerztabletten der Ärztin blieben unangetastet. Ich fuhr nach Hause und holte Koffer und Schachteln vom Dachboden. Es gab noch viel zu tun.

    Mitte Nachmittag rief ich Paul an. Er war offenbar wieder nüchtern und entschuldigte sich für den unbeabsichtigten Schlag ins Gesicht. Die Affäre erwähnte er mit keinem Wort, doch er gratulierte mir immerhin zum Geburtstag. „Was das betrifft“, sagte ich, „ ich möchte dich zur Feier des Tages heute Abend zum Essen ins Restaurant neben eurem Büro einladen. Um 18.30 Uhr? Dann können wir in Ruhe über alles sprechen. Kann sein, dass ich gestern überreagiert habe.“ „Und woher hast du das Geld dazu?“ fragte er misstrauisch und, knapp wie ich gehalten wurde, zu Recht. Doch ich hatte mich auf die Frage vorbereitet. „Ich konnte eine Zeichnung von früher verkaufen, ganz zufällig. Ich erzähle es dir am Abend.“

    Alles lief nach Plan. Ich rief um 18.30 Uhr im Restaurant an und liess Paul ausrichten, ich müsse noch tanken und werde mich ein klein wenig verspäten. Er soll uns beiden doch bereits einen Drink bestellen. „Es wird wohl ein Wasser sein und nicht Champagner wie gestern“, dachte ich zynisch. „Umso besser für dich, du Geizhals. Diese Rechnung wirst du nämlich selber bezahlen müssen.“ Ich wollte nur sicher sein, dass er nicht sofort aus dem Restaurant stürmen konnte. Nicht mal im Traum dachte ich daran, den Tank aufzufüllen, im Gegenteil. Dass der Zeiger fast auf „Leer“ stand, gab mir eine Art trotzige Genugtuung.

    Ich machte es kurz und souverän. Schliesslich hatte ich den ganzen Tag über geübt. Ich stellte mich vor seinen Tisch, legte die Autoschlüssel und das Parkticket darauf und sagte: „Dein Wagen steht im Parkhaus Opéra“.  Dieses war ziemlich teuer und viele Strassen entfernt von hier. Paul riss ungläubig die Augen auf. „Warum denn das?“ „Weil du dir eine andere Bleibe suchst. Deine Kleider und die persönlichen Sachen sind alle im Auto. Rasierapparat und Zahnbürste liegen zuoberst.“  Dann zeigte ich auf mein blutunterlaufenes Auge. „Wenn du eine Kampfscheidung willst, zeige ich dich an. Eine Ärztin hat Fotos und den entsprechenden Bericht. Ich werde aussagen, dass du mich seit Jahren schlägst und betrügst. Du hast keine Chance auf die Wohnung. Mach’s gut.“ Er sprang auf und wollte mich am Arm packen, doch ich schüttelte ihn ab, drehte mich um und sagte über die Schulter: „Nur damit du es weisst….das Schloss zu unserer Wohnung ist ausgewechselt. Du kannst deine Schlüssel wegwerfen.“

    Draussen vor der Tür wurden meine Beine schwach und ich musste mich kurz an die Hauswand lehnen. Den ganzen Tag über war mir so flau gewesen im Magen. „Kein Wunder“, dachte ich. „Ich esse seit Tagen nicht mehr richtig. Mir ist immer ein wenig übel.“ Dann gab ich mir einen Ruck und eilte aufs Tram, damit Paul mich nicht noch einholen konnte. Dort sank es langsam in mein Bewusstsein. Ich hatte tatsächlich schon länger keinen Appetit mehr und vor allem am Morgen fühlte ich mich oft sterbenselend. Ich starrte durchs Tramfenster in den Regen und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit: Ich war nicht nur 38 Jahre alt und hatte mich soeben von meinem Mann getrennt. Ich war auch schwanger.

  • Auf eigenen Beinen

    -6-

    Als ich nach der Trennung  völlig aufgewühlt nach Hause gekommen war, erlaubte ich mir endlich, meine Gefühle mit voller Wucht zu spüren. Ich weinte die ganze erste Nacht hindurch. Ich weinte um unsere Ehe, um unsere Träume von einem glücklichen Familienleben, um unseren unerfüllten Kinderwunsch und die Ironie des Schicksals, dass er sich ausgerechnet jetzt noch erfüllen sollte. Ich weinte beim Gedanken daran, wie viele Abende ich allein oder in schlechter Stimmung mit Paul zusammen in dieser Wohnung verbracht hatte, statt auszugehen und Spass zu haben wie meine Freundinnen. Wie wenig hatte ich in den letzten Jahren gelacht, wie sehr hatte ich mich verloren. Unsere gegenseitige Lieblosigkeit machte mich tieftraurig, wie auch die Tatsache, dass ich nicht entschlossener für meine eigene Selbständigkeit gekämpft hatte. „Wir hätten uns mehr streiten sollen, ich hätte zumindest auf einer Teilzeitarbeit für mich bestehen müssen“, dachte ich, doch ich wusste, dass Paul Konfrontationen und Beziehungsgespräche jeglicher Art hasste und jedes Mal ausgewichen oder davongelaufen war. Zu jener Zeit war es noch üblich, dass man Eheprobleme gegen aussen tunlichst versteckte und überspielte. Niemand hatte gewusst, wie es bei uns aussah, nicht einmal meine Familie und schon gar nicht meine Freundinnen.

    Es war absolut nicht so, dass ich Paul allein die Schuld am Scheitern unserer Ehe gab. Ich hatte mir ebenfalls keine Mühe mehr gegeben und mich mit Dingen abgefunden, die man nicht anstehen lassen darf, wenn eine Beziehung Zukunft haben soll. Genau genommen hatte ich, mit meinen Malstunden und dem verheimlichten Geld, ebenso ein Doppelleben geführt wie er.

    Die Schwangerschaft änderte meine Einstellungen von Grund auf. Als es Tag wurde, versprach ich meinem ungeborenen Kind, dass ich in Zukunft kompromisslos zu mir, zu uns zwei, stehen würde. Leider würde ich von Paul finanzielle Hilfe verlangen müssen, zumindest für die ersten Jahre. Ich hätte es so gern allein geschafft, doch wie, ohne eigenes Geld? Nie wieder, so schwor ich mir und meinem ungeborenen Kind, während es draussen langsam hell wurde; nie wieder würde ich mich in eine solche finanzielle Abhängigkeit begeben.

    Sobald am nächsten Morgen die schlimmste Übelkeit nachgelassen hatte, holte ich Geld in meinem Atelier und ging zu einem Coiffeursalon, an dessen Türe ich das Schild „Ohne Voranmeldung“ bemerkt hatte. Ein junger Mann bediente mich. Er fasste mit beiden Händen in meine langen Haare, hob sie vom Gesicht weg und drehte die Locken um seine Finger. Ich hatte eigentlich schönes Haar, damals noch aschblond, doch leider war es schon immer fein, fisselig und schlecht frisierbar gewesen. „Du könntest sowieso erst am Nachmittag arbeiten“, scherzte Paul jeweils, „schliesslich brauchst du den Vormittag für deine Frisur.“ Und doch liebte er meine langen Haare so sehr, dass ich es jeweils kaum wagte, auch nur die Spitzen schneiden zu lassen. „Was kann ich heute für Sie tun?“ fragte der junge Haarkünstler. Ich holte tief Luft und sagte mit fester Stimme: „Schneiden bitte. Ganz kurz.“ Er schaute mich erstaunt an. „Sind Sie sicher?“ Ich nickte, hielt jedoch die Augen geschlossen als er, nach nochmaliger Rückfrage, die Schere ansetzte. Er hatte mir ein Frisurenmagazin angeboten, damit ich einen Haarschnitt aussuchen könne, doch ich hatte versichert, ich überlasse es ganz ihm. „Ich möchte stark und selbstbewusst aussehen“, war alles, was ich ihm als Instruktion gab und er hatte genickt.

    Nun, ich sah zumindest sehr verändert aus. Am Anfang erschrak ich jedes Mal, wenn ich mich zufällig in einem Schaufenster oder Spiegel entdeckte. Da ich klein bin, hatte ich mit den langen Haaren eher püppchenhaft ausgesehen. Nun wirkte ich ganz anders, jungenhaft, fast androgyn. „Gut, zumindest dies wird sich ändern“, dachte ich amüsiert und versuchte, meinen Bauch weit heraus zu strecken. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie ich mein Leben jetzt auf die Reihe kriegen sollte, doch ich versprach dem Winzling in mir, dass ich es schaffen würde und dass es ihm an nichts fehlen sollte.

    Ich sah Paul erst am Tag der Scheidung wieder. Er hatte mich kaum erkannt mit der neuen Frisur, starrte mich an und öffnete und schloss seinen Mund ein paar Mal, bevor er offenbar entschied, gar nichts zu sagen.  Seine Freundin war bei ihm und wartete später im Korridor. Wir zwei würdigten uns keines Blickes. Paul trat sehr selbstbewusst auf. „Nur damit du es weisst“, zischte er mir zu, als wir vor dem Zimmer warten mussten, „wenn dies hier vorüber ist, gehe ich mit ihr auf eine Weltreise. Ich lege ein Sabbatical Jahr ein. Falls du Unterhaltszahlungen erwartest, kannst du ja versuchen, mich zu betreiben. Wenn du mich findest, heisst das. Geh besser gleich arbeiten, das wolltest du doch schon immer.“ Nun kam mein Moment. Den hatte ich mir trotz aller Selbstkritik verdient. „Ach weisst du“, sagte ich harmlos lächelnd, „ zumindest die Kinderalimente bekomme ich von der Gemeinde bevorschusst. Die haben ihre Wege, das Geld von dir zurück zu fordern, da muss ich mir überhaupt keine  Gedanken machen. Sehen wir also zu, dass diese Abfindung schön grosszügig ausfällt. Vielleicht überlegst du dir eine Einmalzahlung, damit du ohne Schulden auf deine Weltreise gehen kannst?“ Er rollte mit den Augen, schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Kinderalimente?! Guter Versuch. Du schreckst wohl vor nichts zurück. Willst du etwa eine Schwangerschaft vortäuschen? Und was machst du in ein paar Monaten, willst du dann ein Kind vortäuschen? Oder stiehlst du eines? Was sind deine Pläne? Da hast du wohl etwas nicht bis zum Ende durchgedacht.“ Genau in dem Moment wurden wir in den Raum gerufen. Ich ging vor Paul durch die Türe und schwenkte noch kurz ein Couvert vor seiner Nase. „Arzt Attest“, sagte ich kurz. Er packte mich am Arm und sah nun gar nicht mehr selbstsicher, sondern richtiggehend erschüttert aus. „Willst du mir etwa ein Kind unterschieben? Bist du wirklich schwanger? Von wem?“ Ich schaute ihm in die Augen. „Du darfst jederzeit gern einen Vaterschaftstest machen“, sagte ich knapp, „ auf deine Kosten natürlich.“

    Daraufhin wurden wir schnell und ohne grosse Diskussionen geschieden. Paul war bleich und ruhig geworden. Im Jahr 1990 musste man als Kläger oder Klägerin noch Gründe für den Scheidungswunsch angeben und sozusagen öffentlich schmutzige Wäsche waschen, damit der „schuldige“ und der „unschuldige“ Ehepartner ermittelt werden konnte. Als ich nach meinen Gründen gefragt wurde, sagte ich: „Unüberbrückbare Differenzen“ und schaute Paul dabei unverwandt an. Er verstand, was ich ihm wortlos sagen wollte, nämlich: „Sag ja zu grosszügigen Alimenten und mach‘ mir keine Schwierigkeiten, dann lasse ich die Fotos von meinem blauen Auge in der Tasche und die Freundin bleibt unerwähnt.“ Er senkte seinen Blick und stimmte mehr oder weniger jedem Vorschlag des Richters zu. Als die Verhandlung fertig war, ging er schnell aus dem Zimmer, legte den Arm um seine Freundin und verliess mit ihr das Gebäude, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich ging langsam hinterher, strich über die noch kaum fühlbare Wölbung meines Bauches und flüsterte: „Das haben wir nicht schlecht hingekriegt, mein Kleines.“

    Ein paar Monate später brachte ich einen wunderschönen kleinen Jungen mit ernstem Engelsgesichtchen zur Welt. Ich nannte ihn Cedric, ein Name, den Paul verabscheut hätte. Er hatte sich immer einen Paul Junior gewünscht, das war so Tradition in seiner Familie und hätte garantiert zu viel Streit geführt, hätten wir während der Ehe einen Sohn gehabt. Timo war jedoch nicht der einzige, der einen Wunschnamen, in seinem Fall für Buddy, in einem Kinderbuch gefunden hatte. Mir hatte die Hauptfigur in „Der kleine Lord“, Cedric Fauntleroy, immer riesig Eindruck gemacht. Als Kind wünschte ich ihn mir sehnlichst als Bruder. Der Name gefällt mir heute noch und ein anderer wollte mir partout nicht in den Sinn kommen.

    Mein Sohn ist mein Licht, mein Leben, mein Stern; doch nicht einmal ich hätte ihn früher je „Sonnenschein“ genannt. Er war ein kluges Kind, genauer gesagt, ein ziemlich altkluges. Man konnte wunderbar mit ihm diskutieren und früh schon philosophieren. Er wälzte bereits als kleiner Junge wichtige Gedanken in seinem Kopf und schaute oft ernsthaft und nachdenklich in die Welt. Ich fand ihn bezaubernd. Doch wenn ich die anderen Kinder beobachtete, wie sie spielten und tobten, lachten und Blödsinn machten, war mir klar, dass mein kleiner Ceddie viel zu ernst war für sein Alter. Es war nicht mal so, dass ihn die  Kinder nicht gemocht hätten, er wurde weder gehänselt noch gemobbt. Die andern schauten im Gegenteil eher zu ihm hoch. Dennoch gehörte er nie richtig dazu.

    Ich versuchte oft, etwas Spass und Freude in unser Leben zu tragen, doch mein Sohn war nur schwer zum Lachen zu bringen. Spontane Heiterkeit erlebte ich bei ihm selten. Die erfolglosen Versuche machten mich müde, vor allem, als ich nach den Babyjahren eine Teilzeitstelle angenommen hatte. Sein höfliches, distanziertes Lächeln, wenn ich versucht hatte, lustig oder gar albern zu sein, beleidigte mich und machte mich traurig. Eine alleinerziehende Mutter zu sein war ohnehin viel, viel schwieriger, als ich es mir ausgemalt hatte. Ohne die Hilfe meiner Familie hätte ich es nicht geschafft. Auch wenn ich zumindest am Anfang keine finanziellen Schwierigkeiten hatte, hätte ich alles darum gegeben, die unvermeidlichen Ängste und Sorgen spontan mit jemandem teilen zu können. Oder sich in durchwachten Nächten, wenn Ceddie zahnte oder krank war, abwechseln zu können. Auch die vielen schönen Momente hätte ein anwesender, stolzer Vater bestimmt noch schöner gemacht, oder so dachte ich zumindest manchmal sehnsüchtig. Nicht dass ich die Scheidung je bereut hätte. Paul hatte kommentarlos seine Unterhaltszahlungen geleistet, bevor er auf Weltreise ging. Seither hatten wir keinen Kontakt mehr.

    Wenigstens konnte ich meiner Mutter und den Schwestern von Cedrics Besessenheit von Architektur, Häusern und Bauten erzählen. Während seine Kollegen Fussball spielten, streifte mein Sohn durch die Stadt und bewunderte alte Gebäude. Von klein auf zeichnete er fantasievolle Pläne für neue Städte und Gartenanlagen. Als er in die Pubertät kam, lag er mir monatelang in den Ohren wegen eines Computers, die damals noch nicht so selbstverständlich zu jedem Haushalt gehörten wie heute. Schliesslich legten wir alle zusammen und schenkten ihm einen auf Weihnachten. Für einmal sah ich Cedrics Augen leuchten, er tanzte sogar vor Freude. Dann setzte er sich vor die Kiste und, so scheint es mir rückblickend, bewegte sich kaum mehr davon weg in den nächsten Jahren. Wenn ich mit ihm reden wollte, liess er mich immer spüren, dass ich ihn gerade bei etwas sehr Wichtigem störte. Natürlich hing dies auch mit seinem Alter zusammen. Doch mich erschreckte es bis aufs Mark. Hatte ich früher neben meinem Mann her gelebt ohne richtige Gespräche, lebte ich jetzt auf die gleiche Art neben unserem Sohn her.

    Fast über Nacht war Cedric in die Höhe geschossen, er, der immer der Kleinste und Dünnste seiner Klasse gewesen war. Noch mit 10 Jahren hatte er mir sehr geglichen mit seinem zarten Körperbau, den aschblonden Haaren und den grauen Augen. Nun wurde er immer mehr zum Abbild seines Vaters, was mich sehr irritierte. Seine Haare und sogar seine Haut wurden dunkler. Sein Gesicht bekam einen härteren Ausdruck, die Augen verloren die kindliche Arglosigkeit und schauten jetzt oft misstrauisch in die Welt.

    Es hatte niemanden überrascht, dass Cedric Hochbauzeichner werden wollte. Er ging auf in seinem Beruf, doch privat wurde er immer mehr zum Eigenbrötler. Ich hatte den Zugang zu ihm verloren. Die Tatsache, dass ich mich mit Computern nicht auskannte, machte mich in seinen Augen zur ungeeigneten Gesprächspartnerin. Natürlich war ich froh, dass mein Sohn sich nicht herumtrieb, keine Drogen nahm und offenbar keinen Alkohol trank, dennoch machte ich mir Sorgen um ihn. Meine ältere Schwester hatte vorsichtig angedeutet, dass Cedric homosexuell sein könnte, da er offenbar auch kein Interesse am Ausgehen mit Mädchen zeigte. Zwar kamen wirklich ab und zu Kollegen auf Besuch, doch die Zimmertür stand immer offen und die intensiven Diskussionen drehten sich offenbar stets um Computerprobleme. „Alles Nerds“, hatte  Anja schulterzuckend gesagt und ich hatte mich nicht getraut zu fragen, was sie damit meinte.

    Meine Arbeit in einem Laden für Zeichenbedarf machte mir Spass. Doch durch die langen Stunden und das viele Stehen war ich oft sehr müde. Ich verstaute meine eigenen Malsachen im Estrich. Wenn ich den ganzen Tag lang über Stifte, Farben und Papier geredet hatte, wollte ich wenigstens am Abend an etwas anderes denken. Gern hätte ich Cedric von meinem Arbeitstag erzählt, von unserem cholerischen Chef zum Beispiel und der Zeichensprache, die wir Mitarbeiterinnen untereinander benutzten, um uns gefahrlos austauschen zu können. Doch Cedric hatte sich unterdessen ein Handy gekauft und war ständig damit beschäftigt. Als ich dies bei Tisch verbot, ass er trotzig, ohne ein Wort zu sprechen und ohne einmal den Blick vom Teller zu heben. Ich schob solche Vorkommnisse noch auf die Pubertät, als Cedric, genau betrachtet, längst aus diesem Alter heraus war. Vielleicht sagte ich es mir aus Selbstschutz. Nach Abschluss der Lehre blieb er, wohl aus Bequemlichkeit, weiterhin bei mir wohnen. Ich wollte ihn nicht wegschicken, obwohl er unterdessen ganz gut verdiente. Doch als mir eines Tages ein bitterer Zug um seinen Mund auffiel, sank mein Herz.

    Ich hatte nicht nur Pauls kalte, distanzierte Art noch gut in Erinnerung, sondern auch seine wundersame und plötzliche Veränderung später. Als Cedric 23 Jahre alt wurde, passierte dasselbe über Nacht bei ihm. Ich erkannte die Anzeichen sofort wieder. Entspannte Gesichtszüge, häufiges Lächeln, selbst längere Gespräche waren wieder möglich. Am Anfang hielt ich jedes Mal die Luft an, wenn ich ihn heimkommen hörte, und atmete auf, wenn er immer noch gut gelaunt war. „Es hält, was immer es ist“, jubelte ich innerlich. Eines Abends, ich war gerade beim Kochen, fing mein Sohn doch tatsächlich an zu pfeifen, während er aus eigenem Antrieb den Tisch deckte. Ich fasste Mut.  „Und wann stellst du mir deine Freundin vor?“ fragte ich, ohne ihn anzusehen. Das Spaghetti Wasser benötigte genau in diesem Moment zwingend Beobachtung. Erst blieb es ruhig im Raum. Ich bereute mein Vorpreschen bereits, als Cedric zu lachen begann. „Ich weiss nicht, wie Mütter das machen. Ist dies die berühmte weibliche Intuition? Gut, ich bringe sie am Wochenende mit nach Hause, damit ihr euch kennen lernen könnt.“

    So trat Angelita in mein Leben. Eine grosse, fröhliche, laute und liebevolle Italienerin mit langem, lockigem Haar, die für ein Jahr als Austauschstudentin in Zürich war. Unsere Wohnung füllte sich schlagartig mit Lachen und mit Leben. Da Angelita in einem kargen Studentenzimmer wohnte, war sie bald fast nur noch bei uns. Cedric und ich liebten sie gleichermassen. Sie brachte alles mit, was uns beiden gefehlt hatte. Mit ihr war es einfach, fröhlich und übermütig zu sein. Ich nannte sie Engel und sie mich Mamita. Mit Angelita im Haus war es unmöglich, trüben Gedanken nachzuhängen. Wenn ich müde heimkam, drehte sie die Musik auf und wirbelte mich durch die Zimmer. Sie war mein Sonnenschein, meine Wahltochter, meine Freundin. Wir gingen zusammen einkaufen und kochten zusammen. Wir machten uns gegenseitig die Haare und die Nägel. Angelita hinterliess überall kleine Zettel für Cedric und für mich. So klebte zum Beispiel ein Post- it mit  „Ciao Mamita, hab‘ schönen Tag“, am Badezimmerspiegel, oder eines mit „Gute Nacht, sogni d’oro“ auf meinem Kopfkissen. Einmal öffnete ich die Zuckerdose und da lag ein kleines Kärtchen obenauf: „Du bist so süss wie Zucker, Mamita.“

    Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Cedric war aufgeblüht, ich erkannte meinen Sohn nicht wieder. Hätte ich Angelita nicht so sehr geliebt, wäre ich vielleicht ein wenig eifersüchtig oder verletzt gewesen beim Gedanken, dass alles, was ich versucht hatte, um ihn glücklich zu machen, mehr oder weniger an ihm abgeprallt war. Doch so freute ich mich, dass ich seine liebevolle, entspannte Seite überhaupt erleben durfte und war Angelita sehr dankbar. Ich dachte an Paul und das strahlende Lächeln, mit dem er damals die Freundin begrüsst hatte im Restaurant. Doch diese Wunde war verheilt und schmerzte nicht mehr wirklich.

    Es dauerte nur ein paar Monate und Angelita war schwanger. Sie konnte es nicht lange geheim halten, denn sie musste sich von Anfang an sehr häufig übergeben. Ich war bestürzt. Hätte ich mit diesen jungen Erwachsenen etwa noch über Verhütung sprechen müssen?! Doch beide versicherten mir, dass sie sich Kinder gewünscht hätten, allerdings sei es ein bisschen früher passiert als geplant. „Ich will viele Kinder, wie meine Schwestern und Cousinen“, versicherte Angelita, obwohl die Schwangerschaft sie sehr mitnahm. Sie konnte nicht mehr zur Schule gehen. Das Erbrechen hörte nicht auf und wurde schliesslich unstillbar. Angelita musste ein paar Tage im Spital bleiben und bekam Infusionen. Wie ich nach und nach hörte, lag nicht nur der Wunsch nach vielen Kindern in ihrer Familie, sondern auch die Tendenz zu schwierigen Schwangerschaften.

    „Meine Mama kennt sich mit jeder Komplikation aus, das ist doch gut für mich und das Baby“, sagte mein Engel drei Tage später am Telefon. „Bitte Mamita, sei nicht traurig. Komm uns ganz oft besuchen.“ Da war sie bereits unterwegs nach Rom mit ihrer Mutter, die kurzerhand beschlossen hatte, ihre Tochter nach Hause zu holen. Ich wusste, dass dies das Beste war für Angelita und gönnte ihr die Pflege und Aufmerksamkeit von ihrer grossen Familie, doch ich vermisste sie so sehr. Cedric liess sich intern versetzen und bekam Aufgaben, die er grösstenteils übers Internet erledigen konnte. Bald reiste er ebenfalls nach Italien. „Mein Kind soll auf gar keinen Fall ohne Vater aufwachsen wie ich“, sagte er, wahrscheinlich, ohne mich bewusst verletzen zu wollen. Wenn ich nun abends nach Hause kam, setzte ich mich meistens aufs Sofa und lauschte ungläubig der Stille. Es war alles so schnell gegangen. Ich fand weiterhin kleine Zettelchen, die Angelita für mich versteckt hatte. Im Bad lagen noch ihre Haarspangen. Ich glaubte, überall ihr Parfum zu riechen. Natürlich vermisste ich auch meinen Sohn, der in letzter Zeit so zugänglich gewesen war. Beide fehlten mir sehr. Doch wenn ich allzu traurig wurde, bekam ich umgehend ein schlechtes Gewissen. Ich wollte ja das Beste für die kleine Familie und dies war sicher die optimale Lösung.

    7 Monate später kam Sofia zur Welt. Sie war gesund und, wie ich auf den Fotos sehen konnte, wunderschön. Angelita war dünn geworden im Gesicht, doch sie strahlte. „Alles gut gegangen, Mamita“, sagte sie am Telefon, „komm uns bald besuchen!“ Zwei Monate später flog ich nach Rom. Vorher hatte ich keinen Urlaub bekommen im Geschäft. Es war Sommerferienzeit und alle Kolleginnen mit Schulkindern hatten Priorität. Nach der Kälte der Flugzeug Klimaanlage  erschlug mich die Hitze in Italien fast. Cedric holte mich mit dem Familienauto ab.  Er war braun geworden und sprach recht gut italienisch. Ich staunte, wie sicher und ruhig er durch diese Riesenstadt fuhr, trotz Stau, dichtestem Verkehr und viel Huperei. Es schien mir alles sehr laut hier.

    Die Castanos wohnten in einem grossen, malerischen, wenn auch leicht herunter gekommenen Haus mit riesigem Garten. Ich weiss bis heute nicht, wie viele Personen dort eigentlich lebten. Jedenfalls viele! Und wer nicht dort wohnte, kam täglich zu Besuch. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, fröhlich, laut, chaotisch. Wir verbrachten viele Stunden am Esstisch, die Mama trug Gang um Gang auf. Leider verstand ich nur wenig Italienisch. Angelita und Cedric gaben sich Mühe, deutsch mit mir zu sprechen, doch im allgemeinen grossen Palaver vergassen sie es immer wieder und fielen zurück ins Italienische. Alle waren sehr herzlich zu mir, doch mich ermüdeten der Lärm und das viele Reden und Lachen, da ich meistens nichts verstand und nur schweigend daneben sitzen konnte.

    Meine kleine Enkeltochter durfte ich kaum einen Moment für mich allein geniessen. Wenn ich sie endlich auf dem Arm hatte, zupfte mich garantiert schon bald jemand aus der grossen Familie am Ärmel: „Posso?“ Und ich konnte nicht einmal erklären, dass ich die Kleine so gern noch etwas länger festhalten wollte. Ich versuchte mir alles einzuprägen: ihren Duft, ihr feines flaumiges Haar, ihr süsses Gesichtchen. Ich war hingerissen von ihr und wollte sie nie mehr loslassen.

    Am letzten Abend beobachtete ich das fröhliche Treiben im Esszimmer vom Garten aus. Da wurde viel geneckt und gelacht, die Kinder rannten um den Tisch herum und die Erwachsenen diskutierten lauthals, was für mich immer wie Streiten tönte. Alle halfen irgendwie beim Kochen mit oder standen zumindest im Weg herum. Angelita lehnte mit Sofia im Arm am Türrahmen, Cedric hielt beide liebevoll und beschützend fest. Mama referierte gerade aufgeregt über irgendetwas, gestikulierte wild dazu und schwenkte den Kochlöffel. Sie kleckerte schwungvoll über den ganzen Tisch. Alle lachten.

    Da war sie, die Familie, die ich mir immer gewünscht hatte. Nur gehörte ich nicht wirklich dazu.

    Ich war bereit gewesen für die Konfrontation mit meinen Erinnerungen, doch nun wurde ich von den widersprüchlichsten Gefühlen überwältigt. Ich packte alles bis auf meine Malsachen wieder in die Kartons. Dann griff ich nochmals hinein und wühlte herum, bis ich es gefunden hatte, das kleine Kärtchen. Ich nahm es mit in die Wohnung und klebte es an den Spiegel im Bad: „Du bist so süss wie Zucker, Mamita.“

  • Lolas Geschichte

    -7-

    Nun war mir auch klar geworden, weshalb ich an dem jungen Timo so den Narren gefressen hatte. Er war nur wenig älter als mein Sohn, doch die Art wie er mich behandelte, schmeichelte mir und tat mir gut. Er sprach, scherzte und lachte offensichtlich gern mit mir, war ein guter Zuhörer und respektierte meine Meinung. Noch nie in meinem ganzen Leben war jemand so auf mich eingegangen; noch nie hatte ich von jemandem so viel gelernt.

    Nach meinem gedanklichen Abstecher in die Vergangenheit mit all den aufwühlenden Gefühlen, freute ich mich heute besonders darauf, ihn zu sehen. Nach einigem Suchen entdeckte ich ihn unten beim Sihl Ufer. Er beobachtete Buddy, der konzentriert in der Wiese schnüffelte. Ich hatte Timo zuerst fast nicht erkannt. Es war endlich warm geworden, ein sonniger Frühsommertag. Timo trug zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, keine Mütze mehr und seine Haare waren ein ganzes Stück kürzer. Ich musste unwillkürlich lächeln. Die neue Frisur passte nicht mehr so sehr zu Buddys lockigen Seitenpartien, dafür sahen nun die  dichten Haarbüschel auf Timos und Buddys Kopf recht ähnlich aus.   Erst als ich schon fast neben den beiden stand, bemerkte ich, dass Timo mit einer jungen Frau sprach, die am Boden kauerte und die Enten und Schwäne mit ihren Jungen beobachtete. Ich sah sie zuerst nur von hinten, doch die schulterlangen, schwarzen Haare und die schlanke Gestalt kamen mir bekannt vor. Lola?! Doch als sie aufstand und sich umdrehte, sah ich, dass ihre dünnen Arme ohne Tätowierungen waren. Es war das Gesicht von Lola, doch ohne Piercings und Nasenring. Ich blieb verwirrt stehen. Lola hatte taff ausgesehen, ihre Tätowierungen waren bestimmt nicht Aufklebebilder aus dem Kaugummi Automaten gewesen. Buddy entdeckte mich und kam begeistert, wenn auch gemütlich, angetrottet. Unterdessen hatte er mich ins Herz geschlossen. Vielleicht auch nur die Hundekekse, die ich jetzt immer in der Tasche hatte.

    „Komm“, rief mir Timo zu, „ich möchte dir jemanden vorstellen!“ Nein, es war definitiv nicht Lola. Wenn sie noch irgendwie ihre Tattoos hätte verschwinden lassen können, ein so aufrichtig freundliches und offenes Lächeln hätte sie bestimmt nicht zustande gebracht. Diese junge Frau war zudem etwas kleiner als Lola. „Bist du Lolas Zwillingsschwester?“ fragte ich dennoch als erstes, nachdem wir uns die Hand gegeben hatten. Sie lachte. „Das werde ich oft gefragt. Nein, wir sind weder vom Geburtsdatum, noch von der Gesinnung oder Einstellung her Zwillinge. Ich bin ihre jüngere Schwester Lilly. Es wundert mich nicht, dass sie dir nichts von mir erzählt hat. Sie ignoriert mich so gut wie möglich.“ „Wispy und Lola haben sich nur flüchtig getroffen“, erklärte Timo, „und gerade du solltest eigentlich hinter die coole Fassade deiner Schwester sehen können. Glaub mir, niemand dürfte dir, ihrer kleinen Schwester, auch nur ein Haar krümmen. Sie hat sich fürchterlich aufgeregt als du letzthin“….er zögerte mit einem Blick auf mich, „unseretwegen mit der Polizei zu tun hattest.“ „Sie nennt mich „ Die Lilie vom Felde“, schüttelte Lilly den Kopf, „und glaub‘ mir, das ist nicht als Kompliment gedacht. Sie hält mich für naiv und dumm und lässt mich das bei jeder Gelegenheit spüren.“ „Lola kann unglaublich schnippisch und verletzend sein, da hast du Recht“, stimmte Timo zu, „doch mir gefällt, wie bedingungslos sie alle Tiere liebt. Irgendwo tief in ihr muss ein guter, weichherziger Kern sein.“ „Wenn das so ist, hat sie ihn gut versteckt. Ich hoffe nur der Winzling stirbt nicht einen einsamen Tod in der Kälte um sich herum.“ Doch Lilly lächelte. Sie hatte offenbar ein sonniges Gemüt. „Es ist mir schon klar…wenn ich ein Hund oder eine Katze wäre, könnte ich nichts falsch machen.“ Timo schmunzelte ebenfalls. „Da ist etwas Wahres dran. Doch du musst zugeben, Lilly, ihr Doktor wäre verloren ohne sie. Seine neue Bekanntheit und Beliebtheit hat er grösstenteils ihr zu verdanken. Sie lässt ihn dies jedoch nie spüren und erzählt es niemandem.“ „Ja, das stimmt“, lachte Lilly hellauf, „hast du gehört was gestern in der Praxis passiert ist?“ Wir hatten uns unterdessen auf eine Bank gesetzt. Ich räusperte mich und unterbrach Lilly. „Lola arbeitet bei einem Arzt?“, fragte ich ungläubig. Ich stellte sie mir in einem tief ausgeschnittenen weissen Kittel vor, mit ihren wilden, farbigen Mustern auf Armen und Schultern, dem Nasenring und den Piercings im Gesicht. In einer Arztpraxis?! Wirklich?! „Beim Tierarzt hier um die Ecke“, berichtigte Lilly, „deshalb findet man diesen jungen Mann hier so oft in dieser Gegend“,  schubste sie Timo lachend in die Seite. Dieser schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf, rollte mit den Augen und stöhnte: „Frauen!“ Da er mich dabei ansah, entging ihm Lillys Blick. Doch ich wusste nun, dass die Schwestern sehr wohl etwas gemeinsam hatten.

    Das Bild in meinem Kopf änderte sich nur wenig. Tiere haben zum Glück keine Vorurteile, doch wie ist es mit ihren Menschen? „Lola ist fürs Putzen zuständig“, unterbrach Lilly meine Gedanken,  „zugleich ist sie unersetzlich, wenn es um Diagnose und Behandlungen geht.“ „Wie denn das?! Warum ist sie nicht die Assistentin des Tierarztes, wenn sie sich so gut mit Krankheiten auskennt? Das will ich jetzt aber genau wissen“, bat ich.

    Und so erfuhr ich die Geschichte von Lola, abwechslungsweise (und manchmal gleichzeitig) erzählt von Lilly und Timo.

    Vor einem guten Jahr wurde Lola wieder einmal arbeitslos. Sie war danach im Streit bei den Eltern ausgezogen und wohnte bei einer Freundin. Zu deren Haushalt gehörte Mephisto, der schwarze Kater. Lola liebte ihn abgöttisch. Eines Tages, kurz vor Mittag, hörte sie Reifen quietschen auf der Strasse vor der Tür. Dann war es erst ruhig, bevor mehrere Kinder, die von der Schule kamen, anfingen zu schreien. Lola hörte eine Autotür zuknallen und gleich darauf eine Männerstimme über einen schwarzen Teufel fluchen. „Mephisto!“ schoss es ihr durch den Kopf. Sie rannte nach draussen. Und wirklich, am Strassenrand lag regungslos der kleine, drahtige schwarze Kater. Etwas Blut tröpfelte aus seinem Mund. Lola kniete sich weinend neben ihn und prüfte seinen Puls. „Er lebt noch“, schluchzte sie, „er muss sofort zum Tierarzt!“ Der Fahrer kratzte sich am Kopf. „Er ist mir direkt vors Auto gelaufen“, knurrte er, „und ich bin ohnehin spät dran. Ins Tierspital kann ich jetzt nicht noch fahren.“ Doch Lola hatte Mephisto bereits auf dem Arm und wickelte ihn in ihre Jacke. „Unser Tierarzt hat seine Praxis nicht weit von hier. Fahren Sie uns hin, das ist das Mindeste was Sie tun können! Sonst zeige ich Sie an!“versuchte sie den Mann anzufauchen, doch sie wurde von Schluchzern geschüttelt. Der Mann seufzte resigniert und öffnete die Beifahrertür. „Also gut, zeigen Sie mir den Weg.“

    Der Tierarzt war nicht begeistert. Seine Praxis war klein und er kämpfte seit der Eröffnung mit finanziellen Schwierigkeiten. Es war nicht einfach. Die Leute gingen lieber in grössere Kliniken, die über ein eigenes Labor und ein Ultraschallgerät verfügten. Dies konnte er sich beides nicht leisten. Obwohl er seine ganze Energie, Zeit und sein Herzblut in die Praxis steckte, kam er nicht wirklich aus den roten Zahlen heraus. Zwar hatte er unterdessen einen kleinen Kundenstamm, doch die Zahlungsmoral der Leute war schlecht geworden. Es widerstrebte dem Tierarzt, gleich zu Anfang Geld von den Leuten zu verlangen, doch wenn seine Rechnungen nicht oder erst nach mehreren Mahnungen bezahlt wurden, beschloss er Mal für Mal, in Zukunft strikter zu sein.

    „Ihre Katze hat offenbar innere Verletzungen. Ich muss sie röntgen, sehr wahrscheinlich braucht sie eine Operation. Das kann sehr teuer werden. Kommen Sie für die Kosten auf? Denn, bitte entschuldigen Sie meine Offenheit, Mephistos Besitzerin glänzt nicht gerade durch eine hervorragende Zahlungsmoral.“ „Sie wird bezahlen, oder ich bezahle…versprochen! Bitte retten Sie Mephisto! Er ist doch erst 8 Jahre alt. Ich bin ohne Tasche aus dem Haus gerannt, doch Sie bekommen Ihr Geld, ganz bestimmt“, bettelte Lola. Der Tierarzt schaute sie einen Moment lang schweigend an. Er blickte in schmerzerfüllte Augen, aus denen eine Flut von Tränen über die Wangen rann und vom Kinn auf die Kleidung tropfte. Mit ihrer laufenden Nase und den zitternden Lippen sah Lola wie ein kleines Mädchen aus und nicht wie die taffe junge Frau, die zu sein sie vorgab. Der Tierarzt glaubte ihr kein Wort, was das Bezahlen anging. Sie sah nicht aus wie jemand, der ein paar Tausend Franken aus dem Ärmel schütteln konnte. Dennoch gab er sich geschlagen. „Sie haben Glück, dass ich gerade Mittagspause machen wollte. Die ist nun wohl gestrichen.“ Er wickelte den bewusstlosen Mephisto behutsam in ein Tuch. „Ich nehme ihn mit in den Nebenraum. Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer auf dem Schreibblock dort drüben, ich rufe Sie später an.“ Lola konnte nicht mehr sprechen. Sie nickte nur. Als sich die Türe hinter den beiden geschlossen hatte, schrieb sie unter ihre Telefonnummer ein grosses „Danke“ auf den Zettel und zeichnete eine Blume darunter.

    Mephisto hatte mehrere Verletzungen davon getragen, doch er überlebte. Was nicht überlebte, war die Freundschaft zwischen den zwei Frauen, deren Wohnungspartner Mephisto gewesen war. Susanne hatte ihn von der Vormieterin übernommen, weil er nicht am neuen Ort bleiben wollte, sondern immer wieder vor ihrer Tür stand. Doch Mephisto machte klar, dass er der Chef im Haus war. Er liess sich nicht aus der offenen Küche vertreiben. Wenn Susanne am Kochen war,  stolperte sie Mal für Mal über ihn. Mephisto weigerte sich, die Katzentüre zu benutzen, er  bestand darauf, dass man ihm die Türe öffnete, wenn er raus wollte. Und nachher wieder rein. Und wieder raus. Und so weiter. Wenn es sein musste, unterstrich er seinen Wunsch oder besser gesagt Befehl durch Heulen und  Kratzen an der Türe, so lange wie es eben dauerte, bis ein entnervter Zweibeiner nachgab.

    Wenn ihm Gäste nicht passten, konnte er dies deutlich zeigen, indem er ständig herumtigerte und laut schrie. Einmal passierte es sogar, dass er in ein Paar besonders verhasste Schuhe im Korridor urinierte. Bei Lola und ihm hingegen war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Beide waren zumindest gegen aussen gleich stark und selbstbewusst. Wenn diese beiden schwarzhaarigen Seelenverwandten abends zusammen auf dem Sofa kuschelten, konnte man Lolas Haare und Mephistos Fell nicht mehr unterscheiden. Sie schnurrten, beziehungsweise flüsterten sich gegenseitig Liebesbezeugungen ins Ohr und sahen beide aus, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten.

    Susanne hatte überhaupt nicht im Sinn, für Mephisto so viel Geld auszugeben. Es war nicht so, dass sie ihn nicht auch gern gehabt hätte, doch sie kam aus einer Bauernfamilie und war nicht zimperlich Tieren gegenüber. Katzen gab es schliesslich wie Sand am Meer, oder nicht?! Susanne war zwar ein wenig älter als Lola, doch auch nicht auf Rosen gebettet. Und ihr gesamtes Erspartes zu opfern für diesen lauten, frechen Kater, kam ihr im Traum nicht in den Sinn. Falls sie wieder eine Katze wollte, würde sie sich jederzeit eine vom Bauernhof holen können. „Zwei junge, lustige Kätzchen, das wäre doch schöner als so ein missmutiger, eingebildeter schwarzer Kater“, schwärmte sie einer fassungslosen Lola vor und verstand nicht, warum diese augenblicklich explodierte und ausfallend wurde.

    Als der Tierarzt meldete, man dürfe Mephisto am nächsten Tag abholen, hatte Lola eine schlaflose Nacht. Schliesslich schluckte sie ihren Stolz hinunter, etwas, das ihr sehr, sehr schwer fiel. Wahrscheinlich hätte sie dies nur für die allerengsten Familienmitglieder getan. Oder, in diesem Fall, für einen wirklich sehr geliebten, schwarzen Vierbeiner. Sie hatte nur eine einzige Lösung gefunden und wusste nicht einmal, ob sie funktionieren würde. Als erstes musste sie zuhause zu Kreuze kriechen und darum bitten, wieder einziehen zu dürfen. Sie konnte und wollte nicht mehr mit Susanne zusammen wohnen nach diesem Vorfall. Zudem war ihr klar, dass sie in Zukunft ihr ohnehin nicht üppiges Arbeitslosengeld sparen musste. Die Eltern nahmen ihr das Versprechen ab, sich besser an die Hausregeln zu halten und sich einen anständigeren Umgangston anzugewöhnen. Und sich natürlich so schnell wie möglich eine Arbeit zu suchen. Eigentlich wollten sie ihrer Tochter eine ausführliche Standpredigt halten; doch Lola war ungewohnt ruhig und verständnisvoll. Sie sah durch die Ereignisse der letzten Tage und die schlaflose Nacht erbarmungswürdig aus. Die Eltern gaben schliesslich nach, machten ihrer Tochter jedoch klar, dass sie sich nichts mehr gefallen lassen würden. Diese versprach alles, was Vater und Mutter hören wollten und holte danach sofort ihre Siebensachen aus Susannes Wohnung. In der Küche liess sie Geld für die laufende Miete und einen Zettel, auf dem stand: „Ich bezahle den Tierarzt, dafür gehört Mephisto jetzt mir. Viel Spass mit den neuen Kätzchen. Wir sind dann mal weg.“

    Dann kam der schwierigste Teil. Mit Herzklopfen stand Lola etwas später vor dem Tierarzt, holte tief Luft und sagte: „Ich habe das Geld für Ihre Rechnung im Moment nicht.“ Er schaute sie schweigend an. Nicht, dass es ihn besonders überraschte, doch er hatte gehofft, sein Gefühl täusche ihn. Er war mehr resigniert als wütend, er hätte es ohnehin nicht fertig gebracht, ein verletztes Tier nicht zu behandeln. „Ich habe einen Vorschlag“, fuhr Lola rasch fort, „während ich spare und jeden Monat abstottere was ich kann, könnte ich doch bei Ihnen arbeiten. Gratis natürlich. Zwar habe ich keine Ausbildung in Tiermedizin, doch ich könnte Ihnen abnehmen, was es sonst zu tun gibt. Ihr Telefon beantworten, Ihre Rechnungen schreiben, putzen…was immer Sie wollen. Ich bin im Moment gerade arbeitslos.“ Sie hatte bemerkt, dass der Tierarzt offenbar nicht einmal eine Assistentin hatte. Er sah müde und überarbeitet aus. So fühlte er sich auch, doch einer völlig Fremden Zugang zu seinen Kundendaten zu geben, kam für ihn trotzdem nicht in Frage. Nach Feierabend jeweils noch die ganze Praxis zu putzen, fand er insgeheim jedoch auch zunehmend mühselig. Lolas Angebot reizte ihn, doch, wie er ihr später gestand, allzu viel traute er ihr nicht zu. Lola kannte diesen Blick. „Ehrlich, Doktor, ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie Mephisto gerettet haben. Es tut mir sehr leid, dass ich die Rechnung nicht sofort bezahlen kann. Geben Sie mir doch eine Chance, etwas gut zu machen.“ Schliesslich einigten sie sich auf eine Probezeit. Gratisarbeit kam für den Tierarzt jedoch nicht in Frage, doch Lolas Lohn würde bescheiden sein.

    Am Anfang durfte sie nur in den Nebenzimmern putzen, wenn es Leute in der Praxis hatte. Im einen Raum waren oft Tiere zur Überwachung oder Erholung nach Operationen untergebracht. Lola kümmerte sich sehr liebevoll und zuverlässig um sie, was dem Tierarzt nicht entging. Sie hielt seine Praxis tadellos sauber und war sich für nichts zu schade. Jeden Monat beglich sie einen kleinen Anteil der Rechnung. Als sie einmal im Praxisraum putzen musste, weil ein kleiner Hund vor Aufregung seine Blase nicht mehr unter Kontrolle hatte, bat der Tierarzt sie, zu bleiben und das Hündchen während der nachfolgenden Behandlung zu beruhigen. Er hatte bemerkt, dass Lolas Stimme eine fast magische, besänftigende Wirkung auf Tiere hatte.  „Was er nicht realisiert hatte“, lachte Timo, der mir diesen Teil der Geschichte erzählte, „ist, dass Lola wie ich mit den Tieren kommunizieren kann. Sie ist ein Naturtalent. Oft musste sie sich am Anfang auf die Lippen beissen, wenn sie merkte, dass der Tierarzt eine falsche Diagnose stellte. Oder dass die Tierbesitzer ihn anlogen. Dies war der schwierigste Teil für sie. Sie wollte niemanden mit ihrem Wissen erschrecken, doch sie hielt es manchmal fast nicht aus. Innerlich entschuldigte sie sich laufend  bei den Tieren dafür, dass sie sich nicht für sie einsetzte.“

    Immer öfters war Lola nun während den Untersuchungen im Raum. Bereits ihre Anwesenheit schien die Tiere zu beruhigen, selbst wenn sie  im Hintergrund mit Putzarbeiten beschäftigt war. Niemand ahnte, dass die Vierbeiner und sie in ständige, telepathische  Gespräche vertieft waren . Den Tierarzt nannte Lola nur „Doktor“. Er hatte ihr nach ein paar Wochen das „Du“ angeboten. Sie nahm zwar an, doch sie erzählte ihm, dass sie ein grosser Fan der britischen Science Fiction Serie „Dr. Who“ sei; und sich schon immer gewünscht hatte, jemanden einfach mit „Doktor“ ansprechen zu können. Zwischen den beiden entwickelte sich eine eigenartige, jedoch höchst effektive Art der Zusammenarbeit. Zwar fiel dem Doktor auf, dass seine neue Hilfskraft stets im Voraus zu wissen schien, was er gleich sagen würde, oder was zu tun war. Er fand das sehr angenehm, machte sich jedoch keine weiteren Gedanken darüber. Hatten die Tierbesitzer in der ersten Zeit noch den einen oder anderen schiefen Blick auf Lola geworfen, so war sie unterdessen bei allen sehr beliebt geworden. Sie blickte deren verängstigte und  nervöse Lieblinge einfach ruhig an und wie durch Zauberei beruhigten sich diese und liessen sich danach meistens widerstandslos behandeln. Im Wartezimmer kursierten viele lustige Geschichten darüber. Lola hätte es nichts ausgemacht, den Leuten die Tierkommunikation zu erklären und vorzuführen, doch sie wollte nicht, dass ihr verehrter Doktor in ein schiefes Licht kommen könnte.

    Sie fand es jedoch zunehmend schwierig, ihr Wissen für sich zu behalten. Die Tiere realisierten sofort, dass sie sie verstehen konnte. Sie erzählten Lola von langen Tagen allein in der Wohnung, von zu kurzen Spaziergängen und zu strengen Disziplinarmassnahmen. Sie schickten ihr telepathisch Bilder von zu selten geputzten Katzenklos, liessen sie billiges, fast ungeniessbares Futter schmecken und riechen, zeigten ihre Angst, wenn sie  durch Kinder oder gedankenlose Erwachsene geplagt wurden. Lola war jedoch auch immer wieder überwältigt von der bedingungslosen, riesigen Liebe, die alle Tiere zu ihren Menschen fühlten. Ihre schnelle Bereitschaft zu verzeihen, ihre Geduld und ihr Verständnis erfüllten sie mit grossem Respekt.

    Eines Tages putzte sie gerade den kleinen Kühlschrank, in welchem sie Insulin und Impfstoffe lagerten, als sie ein Gespräch zwischen dem Doktor und einer Hundebesitzerin mithörte. Der kleine Beagle Ronny kam zum wiederholten Male mit Magen-Darmbeschwerden in die Praxis. Bisher hatte keine Behandlung für längere Zeit geholfen. Nun wurden weitere Tests und eine Ultraschallkontrolle in Betracht gezogen, obwohl beide Gesprächspartner nicht völlig überzeugt waren von dieser Idee. Die Frau scheute den Aufwand und die Kosten, denn sie hätte Ronny dazu ins Tierspital bringen müssen. Der Doktor hingegen hatte das diffuse Gefühl, er könnte etwas übersehen haben. Hatte er wirklich alles abgeklärt? Vergiftung, Nahrungsmittelunverträglichkeit, zu viel Magensäure… “Zu kalt!“ signalisierte Ronny, als Lola ihn fragend anblickte. „Sie gibt mir eiskaltes Futter! Das schlinge ich sofort herunter, ich kann nicht langsam fressen. Ich bin ein Hund. Nachher tut mir jedes Mal der Magen weh.“ Lola hörte auf zu putzen und überlegte, was sie tun könnte. „Sag’s ihm, sag’s ihm…!“ drängte der Hund. „Ich weiss nicht wie ich das unauffällig tun könnte, Ronny, sie sind ja beide im Raum“, seufzte Lola, doch dann hatte sie eine Idee. Sie holte einen Beutel Hundefutter aus dem Nebenraum, legte ihn in den Kühlschrank und rief ihrem Doktor zu: „Es tut mir sehr leid wenn ich störe, doch ich muss dich ganz dringend etwas zur letzten Lieferung Impfstoff hier fragen. Könntest du rasch kommen?“ Der Doktor war irritiert und erstaunt, denn Lola hielt sich sonst sehr diskret im Hintergrund, wenn sie ihm nicht assistierte. „Muss das gerade jetzt sein?“ fragte er ungeduldig.  „Ich glaube schon“, sagte Lola und hielt zum Schein kleine Fläschchen gegens Licht. Die Kundin meinte: „Gehen Sie ruhig, ich muss sowieso noch einen Moment nachdenken.“ Als der Doktor verständnislos und kopfschüttelnd vor Lola stand, zeigte diese auf das Hundefutter im Kühlschrank. „Ist dies nicht viel zu kalt gelagert? So ist es doch bestimmt schädlich?“ Mit dem Kopf zeigte sie auf Ronny. „Viel zu kalt“, sagte sie eindringlich, und nun verstand der Doktor. „Ja, diese Impfmittel dürfen keinesfalls so kalt gelagert werden“, sagte er laut. „Danke für deine Aufmerksamkeit.“ Und fragte, während er zum Behandlungstisch zurückging, die Kundin: „Wenn wir gerade von „zu kalt“ sprechen, da kommt mir etwas in den Sinn – Sie geben ihrem Hund das Futter doch nicht etwa eiskalt, direkt aus dem Kühlschrank?“ Damit löste sich das Rätsel und eine erleichterte Hundehalterin mit ihrem nicht weniger erleichterten Hund verliessen Minuten später die Praxis. „Wie bist du darauf gekommen?“ fragte der Doktor später, „ich kann es nicht fassen, dass ich vor lauter Symptomen und Therapiemöglichkeiten etwas so Elementares ausser Acht gelassen hatte.“ „Ach, das war Zufall“, winkte Lola ab, „der Hund einer Nachbarin hatte einmal ein ähnliches Problem und als ich den Kühlschrank putzte, kam es mir plötzlich wieder in den Sinn.“

    Der Doktor liess es im Moment auf sich beruhen. Doch von da an ertappte er sich dabei, wie er  Lola jeweils einen schnellen Blick zuwarf, wenn er vor einem Rätsel stand bei der Diagnosestellung. Sagte er dann, während er ein Tier abtastete, anscheinend nur so vor sich hin: „Es könnte mit den Nieren zusammenhängen“, sah er Lola fast unmerklich nicken oder den Kopf schütteln. Es war eine kaum sichtbare Bewegung und er war nie ganz sicher, ob er richtig gesehen hatte. Doch wenn er danach handelte, war es immer korrekt.

    Eines späteren Nachmittags kam eine Nachbarin ganz aufgelöst in die Praxis. Sie hatte Handzettel dabei und fragte, ob sie ein paar davon im Wartezimmer aufhängen dürfe. Ihre Katze Princess sei seit zwei Tagen verschwunden. Sie käme sonst jeden Abend zur gleichen Zeit nach Hause. Man könne fast die Uhr nach ihr stellen. „Darf ich mal sehen?“ fragte Lola und schaute sich das Bild der prächtigen, weissen Katze mit den langen Haaren genau an. „Haben Sie sie irgendwo gesehen?“ fragte die Nachbarin hoffnungsvoll, doch Lola schüttelte den Kopf: „Leider nicht.“ Dann wandte sie sich an den Doktor und fragte, ob sie etwas früher gehen könne am Abend. „Ich muss noch in die Autogarage, bevor sie dort schliessen.“ „Aber du hast doch gar kein Auto?“ fragte der Doktor erstaunt. „Du kannst ja nicht einmal fahren.“ Lola blickte schnell zur Nachbarin, doch diese war mit dem Aufhängen der Zettel beschäftigt und hatte nicht zugehört. Lola zuckte mit den Schultern. „Man findet nicht nur Autos in einer Garage. Es gibt auch Überraschungen.“ Der Doktor sah sie nachdenklich an. Dann wandte er sich an die unterdessen leise weinende Frau und fragte: „Haben Sie überall nachgesehen? Auch in der Garage?“ „In jedem Keller der Nachbarschaft und auch in den Garagen. Unsere eigene benutzen wir nicht mehr, seit wir kein Auto mehr besitzen. Dort kann sie nicht eingeschlossen worden sein.“ „Die Garage hat doch sicher ein Fenster“, meinte der Doktor, doch die Frau schüttelte den Kopf: „Nur ein kleines ganz hoch oben, es ist zudem vergittert. Ich weiss nicht einmal mehr, wo der Schlüssel zur Türe ist, ich war schon lange nicht mehr drin. Mein Mann auch nicht.“ Lola wandte sich an den Doktor: „Du hast Recht, ich sollte Fahrradfahren lernen. Als ich klein war, kosteten gute Räder noch ein Vermögen und ich hatte nie eines. Heute fährt jeder Schuljunge damit herum. Besitzt hier auch jedes Kind ein Velo?“ wandte sie sich an die Nachbarin und verkniff sich ein Schmunzeln, als sie sah, wie diese sich an den Kopf schlug: „Das Fahrrad unseres Nachbarjungen! Mein Mann hatte ihm erlaubt, es während den Ferien in unsere Garage zu stellen. Die Familie fuhr in den Urlaub und der Kleine hatte Angst, es werde ihm gestohlen oder beschädigt. Natürlich! Mein Mann öffnete kurz die Garagentüre für ihn….“ Und schon war sie aus dem Haus gerannt.

    „Ich muss wohl nicht raten“, sagte der Doktor, „die Katze ist in der Garage?“ „Ich denke schon“, sagte Lola. „Sie hat mir Bilder aus einem muffigen, staubigen, fast dunklen Raum mit kaltem Boden geschickt. Nur von hoch oben kommt etwas Tageslicht herein. Es riecht nach Öl, Benzin und alten Putzlappen. Als ich sie nun genauer befragte, konnte sie mir die Umrisse von alten Autoreifen und einem Fahrrad beschreiben. Beides kennt sie von  der Strasse her. Sie hat Hunger und Durst, es ist gut, wenn sie bald gefunden wird.“

    Der Doktor schaute auf die Uhr. „Für heute haben wir keine Patienten mehr. Ich müsste Büroarbeiten erledigen und ich weiss, dass du die Böden feucht aufwischen wolltest. Stattdessen“ – er setzte sich auf einen Stuhl im Wartezimmer, zog einen zweiten zu sich heran und klopfte mit der Handfläche drauf – „setz dich hierhin, junge Lady. Jetzt will ich wissen, wie du das machst. Die ganze Story, bitte.“

    Später am Abend ging die Katzenbesitzerin von Tür zu Tür, um alle Nachbarn glückstrahlend darüber zu informieren, dass sie ihre weisse Prinzessin zwar schmutzig, hungrig und durstig, jedoch wohlbehalten in der Garage gefunden hatte. Sie wunderte sich, dass beim Tierarzt immer noch Licht brannte. „Sicher ein Notfall. Der junge Mann arbeitet viel zu viel“, dachte sie bei sich und überlegte, ob sie es wagen sollte, um die Zeit noch zu läuten. Sie wollte ihm so schnell wie möglich von der glücklichen Rettung erzählen und ihm für den Tipp danken. Als sie noch unentschlossen im Flur stand, wurde sie von einem jungen Mann überholt, der zwei grosse, weisse Schachteln im einen Arm trug und eine Flasche Wein im anderen. Während er laut:  “Pizzaservice!“ rief, klingelte er Sturm beim Tierarzt. Offenbar war er erwartet worden. Ware und Geld wechselten unter der halb offenen Türe so schnell den Besitzer, dass die erstaunte Frau nur einen kurzen Blick auf den Tierarzt erhaschte. Doch bemerkte sie sofort, dass er bedeutend entspannter, gelöster und glücklicher wirkte, als sie ihn je gesehen hatte.

  • Bella und Lilly

    -8-

    Lilly und Timo hatten mir noch viele lustige Anekdoten aus der Tierarztpraxis erzählt. Lola und der Doktor hatten eine eigene Art der Kommunikation entwickelt, die hauptsächlich aus Halbsätzen, einzelnen Worten, Gesten und Blicken bestand. Es erinnerte ein wenig an das Durchgehen der Checklisten von Flugkapitän und Copilot.  Dies ging jedoch so schnell, dass die Tierhalter es gar nicht richtig mitbekamen. Sie fanden es schön, dass der Doktor so liebevoll mit ihren Tieren sprach während den Untersuchungen und sie nach ihren Schmerzen und Problemen fragte, als ob sie antworten könnten. Auf Lolas fast unverständlich gemurmelte, einsilbige Bemerkungen und Handbewegungen dazu, achteten sie weniger.

    Ich fühlte mich wohl mit Lilly. Sie hatte etwas kindlich-argloses, freundliches an sich. Timos schnelle Scherze verstand sie nicht immer, doch war sie stets bereit zu lächeln und zu verzeihen, wenn er sie deswegen foppte. Sie löste in mir einen grossen Beschützerinstinkt aus und ich hoffte, dass ihre Gutmütigkeit nicht zu oft ausgenutzt werden würde.

    So fuhr ich in guter Stimmung nach Hause, doch diese sollte kippen, sobald ich in der Wohnung war. Bella blieb in ihrem Bettchen liegen und kam mir nicht entgegen gelaufen wie sonst. Das für sie bereit gestellte Fressen war, wieder einmal, unberührt geblieben. Ihre Nierenkrankheit war letztlich unheilbar, ich konnte nur versuchen, mit Medikamenten und Spezialfutter so viel Zeit wie möglich herauszuschinden. Ich hatte Bella zum ersten Mal gesehen, als in unserer Strasse gebaut wurde und Pfosten und Schranken den Weg versperrten. Während ich mich aufs Balancieren über den schmalen Durchgangspfad konzentrierte, pfiff neben mir ein Bauarbeiter leise durch die Zähne und rief: „Ciao Bella!“ Ich schüttelte innerlich den Kopf. Schön fühlte ich mich schon lange nicht mehr, die Wechseljahre nahmen mich damals gerade sehr mit. Ich fühlte mich manchmal in die Pubertät zurück versetzt mit all den gefühlsmässigen Höhenflügen und Abstürzen dieser Lebensphase. Dazu kamen unausweichlich die ersten Altersanzeichen, die Falten, die grauen Haare, die hartnäckigen paar Pfunde Übergewicht. Wie in der Pubertät wusste ich plötzlich nicht mehr so genau, wer ich eigentlich war und was ich wollte im Leben. Wenn ich mich am Morgen im Spiegel sah, starrte ich mir oft lange und fragend in die Augen, als ob ich da eine Antwort finden könnte. Es war die Zeit, als ich noch allein lebte mit Cedric. Ich führte viele Selbstgespräche, fühlte mich oft  allein und verloren.

    „Hey, Bella, wie geht’s dir denn heute?“ doppelte der Bauarbeiter nach und ich drehte mich irritiert um. Sah man mir die Einsamkeit etwa an? Doch zu meiner Überraschung beachtete mich dieser ältere Mann gar nicht, sondern hatte mir den Rücken zugewandt. „Hast du heute überhaupt schon etwas gefressen, mia piccina?“ fragte er soeben liebevoll, „Pause haben wir erst in einer Stunde.“ Erst jetzt sah ich, dass er eine magere, dreifarbige Katze streichelte, die auf einem Haufen Pflastersteine herumturnte. Schamröte schoss mir ins Gesicht. Zum Glück hatte ich nicht auf das Pfeifen reagiert, es hatte offenbar nicht mir gegolten. Nun drehte sich der Arbeiter um und nahm seinen Spaten wieder in die Hand. Dabei entdeckte er mich. Ich bemerkte, dass die Katze ausgehungert aussähe. „Gehört sie denn niemanden?“ fragte ich den Mann und hoffte bereits, er möge nein sagen. Bella sass wie eine Sphinx auf dem obersten Pflasterstein und schaute mich unverwandt an. Ich hörte, dass sie jeden Tag hier auftauche. Die Männer, alle italienischer Herkunft, hätten sie Bella getauft und teilten ihre belegten Brote mit ihr. Sie machten sich Sorgen, wer zu ihr schauen würde, wenn die Arbeiten hier in etwa 2 Wochen beendet sein würden. „Ich nehme sie“, sagte ich spontan. Nie hatte ich auch nur mit dem Gedanken gespielt, mir ein Haustier zuzulegen, doch Bella hatte mich während dem Gespräch keinen Moment aus den Augen gelassen, als ob sie gespannt auf meine Reaktion wartete. Nun nickte ich ihr zu. „Ich will jedoch zuerst abklären, ob sie niemandem gehört. Solange werde ich täglich Katzenfutter hierhin bringen. Falls sich niemand meldet, bringe ich sie zum Tierarzt, vielleicht ist sie gechipt. Wenn die Strasse hier fertig saniert ist, hat Bella auf jeden Fall ein Zuhause.“

    Niemand schien Bella zu vermissen. Einen Chip fand der Tierarzt nicht bei ihr, dafür stellte er bei der Untersuchung fest, dass sie leicht erhöhte Nierenwerte hatte. Mit dem richtigen Futter könne ich diese noch lange in Schach halten, tröstete er mich. Leider mochte Bella, ganz Katze, dieses fade Futter nicht besonders und ich musste es  mit normalem Katzenfutter mischen, damit es gefressen wurde. Und so stiegen die Nierenwerte zwar langsam, jedoch stetig an. Unterdessen machte ich mir echte Sorgen. Ich konnte mir ein Leben ohne mein vierbeiniges, verschmustes Mädchen gar nicht mehr vorstellen. An diesem Abend brachte ich ihr etwas Futter ans Bettchen und fütterte sie langsam mit kleinen Stückchen von Hand. „Bitte, bitte friss“, flüsterte ich, „damit du noch lange bei mir bleibst. Jeder Tag ohne Futter macht deine Krankheit noch schlimmer.“

    Die nächsten Tage wagte ich mich nur für die nötigsten Botengänge aus dem Haus. Bella frass bloss wenig aufs Mal, dafür trank sie auffallend viel Wasser. Am dritten Tag läutete es an der Tür. Ich war völlig überrascht, Lilly davor stehen zu sehen. „Timo gab mir deine Adresse, ich hoffe das ist in Ordnung“, sagte Lilly fröhlich, „ da ich Ferien habe, dachte ich, ich schau mal bei euch vorbei.“ Ich hatte am ersten Tag mit Timo telefoniert, damit er Bella gut zureden konnte, was das Fressen betraf. Leider half es nicht viel, meine Katze konnte sehr eigensinnig sein. Der unerwartete Besuch von Lilly freute mich sehr. Es tat gut, ein wenig abgelenkt zu werden. Als wir am Kaffee trinken waren, stieg selbst Bella aus ihrem Bettchen und schnupperte neugierig an Lillys Hosenbeinen. Die junge Frau bückte sich und kraulte das schön gezeichnete Katzenköpfchen. „Was bist du für ein prächtiges Tier“, schmeichelte sie, „mehrfarbige Katzen wie du sind selten und gelten als ganz besondere Glücksbringer. Weisst du eigentlich, wie absolut perfekt du bist?“ „Ist sie, doch leider…“ wollte ich Bellas Krankengeschichte erzählen. Doch Lilly legte den Finger an den Mund: „Psst! Sieh in ihr nur das Schöne, Gesunde, Ganze… oder sprich zumindest nur davon, wenn du mit ihr redest. Lobe sie, bewundere sie. So sendest du ihr positive Heilenergie statt Angst und Sorge. Schmeichelei bringt dich immer weit bei Tieren. Bella weiss selber, dass sie krank ist. Wenn du sie jedoch an ihre Schönheit und Kraft erinnerst, wird sich alles in ihr bemühen, wieder gesund zu werden. So ähnlich funktioniert es übrigens auch mit Kindern.“ Ich lernte, dass Lilly in einer Kinderkrippe arbeitete und dort spasseshalber Kinderflüsterin genannt wurde. Wenn sie Dienst hatte, wurden die grössten Rowdys zu Lämmchen und die scheuen Kinder blühten auf. „Machst du das wie vorhin mit Bella?“ fragte ich und sie schmunzelte: „Ähnlich! Ich erinnere sie lieber an ihre Stärken und Begabungen anstatt zu schimpfen. Ich beobachte sie genau und höre gut zu, so finde ich in jedem Kind etwas Einzigartiges und Lobenswertes. Wir haben zum Beispiel zwei starke Jungs, die beide die Nummer eins sein wollten und sich früher oft prügelten. Als es zum ersten Mal während meiner Schicht passierte, sagte ich zu ihnen: „Hm, das überrascht mich nun sehr, dass gerade ihr zwei den einfachsten Weg wählt, um eure Streitigkeiten auszutragen. Ihr seid beides so ausgesprochen kreative, kluge Köpfe und ich staune immer wieder, zu welch cleveren Gedanken ihr fähig seid, was für tolle, fantasievolle  Lösungen ihr für alles findet. Und das in eurem Alter, Hut ab!  Mann, müsst ihr heute einen schlechten Tag gehabt haben.“ Seither versuchen sie mich mit immer neuen Einfällen zu beindrucken und keiner will mehr der erste sein, der einfach drauflos prügelt. Echte und ernst gemeinte Komplimente bringen dich auch bei Kindern weit.“

    Zu Lillys Aufgaben gehörte es auch, mit ihren Schützlingen zusammen das Mittagessen einzunehmen. Deshalb hatte ich sie bisher nicht beim Shoppingcenter angetroffen. „Über Mittag bin ich nur dort, wenn ich frei oder Ferien habe“, bestätigte sie. „Du magst Timo sehr, nicht wahr?“ wagte ich zu fragen. Lillys Offenheit machte es mir einfach. Sie lächelte: „Wer nicht! Es ist schön mit ihm zusammen zu sein, man würde nicht denken, wie zerrissen er innerlich ist.“ Dies erstaunte mich sehr, denn ich hatte Timo immer als besonders ausgeglichen und fröhlich erlebt und ihn dafür bewundert. „Er ist ein Empath, wie Lola“, erklärte Lilly, „das kann sehr herausfordernd sein.“ Als sie meinen fragenden Blick sah, fuhr sie fort: „Dies sind Menschen, die sich nicht nur in andere hineinversetzen können, sondern deren Gefühle, Ängste und ihren gesundheitlichen Zustand direkt am eigenen Leib spüren. Es ist schwierig für sie, ihr eigenes Energiefeld von dem anderer zu unterscheiden. Man wird mit dieser Besonderheit geboren, wie mit Linkshändigkeit. Als Kinder denken Empathen, dass alle Leute so sind wie sie und sind fassungslos, wenn ein Mensch oder Tier leidet und sie merken, dass dies andere kalt lässt. Sie können das nicht begreifen, weil dieser fremde Schmerz sie selbst mit Wucht trifft. Telepathie fällt Empathen natürlich besonders leicht. Sie sehen direkt durch die äussere Maske der Menschen hindurch, spüren die Unsicherheit hinter der Arroganz, die Angst hinter der Wut, Die Einsamkeit hinter der Redseligkeit.“ „Was für eine Begabung“, sagte ich beeindruckt. „Segen und Fluch zugleich“, relativierte Lilly. „Timo muss täglich sehr viel Energie aufwenden, um fremde Gefühle und Emotionen auf erträglichem Abstand zu halten. Manchmal gehen ihm die Nerven durch, dann, wenn es zu schrecklich wird für ihn. Wenn im Tram jemand in seiner Nähe echten Pelz trägt zum Beispiel, steigt in ihm, ohne dass er sich dagegen abgrenzen kann, das Gefühl von Panik, Eingesperrt sein, Schmerz und Angst auf. Er spürt harten, kalten Gitterboden unter den Füssen, riecht die Furcht vieler Tiere, Männerschweiss, er hört Schreie und Lärm, spürt Hoffnungslosigkeit… und vor allem eine fürchterliche, unerträgliche Enge und herzzerreissende Sehnsucht nach Freiheit. Ob diese Emotionen im Pelz geblieben sind, oder ob sichTimo unwillkürlich mit einem noch lebenden Tier irgendwo in einem Käfig verbindet beim Sehen des Pelzes, kann er nicht sagen. Doch dieses hautnah miterlebte Leiden lässt ihn manchmal ausrasten.  Letzen Winter hat er einer Frau im Nerzmantel angeboten, aus ihrem Hündchen einen Muff machen zu lassen, der würde doch schön zum Mantel passen. Er hat ihr sehr genau geschildert, was in den Farmen mit den Pelztieren geschieht. Die Frau wurde fast ohnmächtig. Eindruck hat es auf jeden Fall gemacht.“ Lilly hatte nun Tränen in den Augen und ich spürte ebenfalls einen Kloss im Hals. „Deshalb wollen die meisten Empathen viel allein sein, sie brauchen das“, erklärte Lilly weiter, als sie sich wieder gefasst hatte, „dies ist auch der wahre Grund für Timos Berufswahl. In einem Team  würde er zu viele Emotionen aufs Mal wahrnehmen müssen, das wäre sehr anstrengend und belastend für ihn.“

    Ich stand auf und nahm aus meiner Malmappe die Zeichnung des kobaltblauen Bandes, welches ich an Timos Handgelenk und später bei den Leuten am Bahnhof gesehen hatte.  Ich legte sie schweigend vor Lilly auf den Tisch. Sie lächelte überrascht. „Das Flashband! Machst du auch mit bei Aktionen? Ich habe dich nie gesehen! Ich werde allerdings für eine Weile nicht mehr dabei sein, ich kann es mir mit meinem Beruf nicht leisten, nochmals von der Polizei befragt zu werden.“ Ich erklärte ihr, dass Timo mich nicht dabei haben wolle. „Es sind Flashmobs, nicht wahr?“ fragte ich. Soviel hatte ich mir bereits selber zusammen reimen können und dass Lilly von Flashband sprach, bestätigte meine Vermutung. „Ja, er organsiert sie über eine geheime Facebook Gruppe. Unterdessen machen viele Leute mit. Je nach Aktion tauchen 20, 30, 50 oder 100 plötzlich an einem Ort auf.“ Jetzt erinnerte ich mich dunkel an Berichterstattungen in der Zeitung.  „Und was machen diese Leute?“ „Je nachdem, was sich Timo ausgedacht hat. Als ich erwischt wurde, war es eine Blitzaktion in der  Delikatessenabteilung eines grossen Warenhauses. Praktisch alle ihrer sogenannten Gourmet Produkte waren unter ausgesprochen tierquälerischen Bedingungen hergestellt worden. Timo hatte bei einem Kollegen im Grafikgewerbe Kleber drucken lassen. Sie zeigten herzige Haustiere: junge Kätzchen, Hundewelpen, Wellensittiche, Goldfische, all die Favoriten. Einzelne Körperteile waren mit Leuchtstift markiert und daneben stand zum Beispiel: „Heute frisches Hundeherz!“ „Katzenbrüstchen“, „Aktion Hundeschenkel“,  „Goldfischragout“,   „Papageiengeschnetzeltes“, „Marinierter Wellensittich“ und so weiter. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass unsere sogenannten Nutztiere oft gedankenlos konsumiert werden, als ob deren Fleisch auf Bäumen wachsen würde. Dies auch von Menschen, die sich tierlieb nennen und ihren Haustieren nichts Böses zustossen lassen würden, im Gegenteil, diese werden manchmal richtiggehend verhätschelt und verwöhnt.

    Unsere Aufkleber sind nur schwer zu entfernen. Dies nehmen uns die Geschäftsführer sehr übel, die meisten zeigen uns wegen Sachbeschädigung an. Jeder Flashmobber klebt  blitzschnell 6 Stück davon irgendwo hin. Nie direkt auf die Lebensmittelpackungen, wir wollen nicht, dass diese vernichtet werden müssen. Timo, oder einer von uns, schaut sich das Geschäft vorher schon mal an und zeichnet danach einen Plan von den geeignetsten Flächen, damit die Kleber schön sichtbar sind. Das Ganze darf nicht mehr als 3 Minuten dauern. Es geht uns mit dieser Aktion nicht nur ums Fleisch essen an und für sich, sondern auch um die Tatsache, dass diese Tiere oft so viel Schreckliches durchmachen müssen in ihrem Leben. Meist sind sie noch Babies, wenn sie ihren verzweifelten Müttern weggenommen werden. Ihre kurze Lebenszeit  ist oft alles andere als schön, sogar in der Schweiz. Bevor sie einen beileibe nicht immer schnellen und schmerzlosen Tod sterben, werden sie oft noch auf qualvolle, lange Transporte geschickt. Daran macht man sich vor allem mitschuldig, wenn man Fleisch aus dem Ausland kauft. Ich sage dir, jeder Horrorfilm ist harmlos gegen das, was ich schon auf Videos und Fotos mit ansehen musste. Wir könnten diese schrecklichen Bilder auf die Kleber drucken lassen, doch dann sieht jeder so schnell wie möglich weg. Mit den herzigen Haustieren bringen wir die Leute vielleicht zum Hinschauen und Nachdenken. Es ist allerdings nicht immer einfach für Timo, sich damit bei den Flashmobbern durchzusetzen. Es machen auch radikale Tierfreunde mit, die gern eine härtere Tour fahren würden. Etwas selber zu organisieren, wäre ihnen jedoch zu viel Aufwand. Timo zu drangsalieren und kritisieren ist einfacher.“

    Lilly schwieg gedankenverloren. Bella, die sich sonst von fremden Leuten zwar streicheln, jedoch nicht aufheben liess, war von selbst auf ihre Knie gesprungen und lag nun, friedlich zusammengerollt, schnurrend auf ihrem Schoss. Jetzt hob sie wie fragend den Kopf. „Nein mein Schatz, keine Angst, dir passiert so etwas nicht“, versicherte ihr Lilly. „Du solltest das Geschrei hören, wenn bekannt wird, dass jemand Hunde oder Katzen isst. Als ob Schweine, Lämmer, Zickchen und Kälbchen weniger leiden würden. Gehätschelte Lieblinge die einen, reines Verbrauchsmaterial die anderen…“. Sie schluckte. Für eine Weile war es ruhig in der Wohnung, man hörte nur Bella schnurren. Ich hatte noch nie viel Fleisch gegessen und ganz damit aufgehört, als ich Timo kennengelernt hatte. Doch allmählich war mir klar geworden, dass auch die Milch – und Eierproduktion im heutigen Ausmass nicht ohne beträchtliche Grausamkeit möglich war.

    Als ob sie meine Gedanken lesen könnte – oder konnte sie es etwa? sagte Lilly: „Zum Glück ist es heute so einfach, vegan oder wenigstens vegetarisch zu leben und trotzdem wunderbar zu essen, wenn man mit solchen Machenschaften nichts mehr zu tun haben will. Folglich wählen seit Jahren immer mehr Leute  diesen Weg. Doch es ist bereits viel erreicht, wenn sich auch die Fleisch- und Fischkonsumenten anfangen Gedanken zu machen, wie und wo diese Tiere gelebt haben, wie sie gehalten wurden und wie sie gestorben sind. Wenn immer mehr Leute nicht mehr möglichst billiges Fleisch einkaufen und allgemein ihren Konsum drosseln, vielleicht ab und zu einen fleischlosen Tag einlegen, müssen die Fleischproduzenten und Händler irgendwann umdenken.“

    Lilly war damals im Laden erwischt worden, weil sie zu perfektionistisch war – sie brachte ihre Aufkleber schön ausgerichtet an und strich sie sogar noch glatt. So brauchte sie länger als die 3 Minuten, die pro Flash, wie sie es nannte, eingeplant waren. Die meisten Geschäfte hätten interne Security Leute, die blitzschnell vor Ort seien. „Jeder von uns muss für sich schauen“, erklärte sie mir, „den Job machen und sofort wieder verschwinden. Doch Timo achtete auf mich und schaute nochmals zurück. Prompt wurde ihm von den ersten Sicherheitsmännern der Weg abgeschnitten. Er sprang über eine Reihe Einkaufswagen, stürzte und verstauchte sich das Handgelenk. Doch er konnte fliehen. Mich hatte jedoch bereits ein Security Mann am Arm gepackt.“ „Und wie ging es weiter?“ fragte ich und hätte das zarte Persönchen am liebsten in den Arm genommen beim Gedanken, dass sie grob behandelt worden sein könnte. „Ich behauptete, nichts mit dem Flashmob zu tun zu haben. Ich sei eine zufällig anwesende Kundin und hätte die Kleber nur lesen wollen. Da ich kurzsichtig sei, das bin ich wirklich, hätte ich ganz nah rangehen müssen. Sie nahmen meine Personalien auf und stellten viele Fragen, auch zu meinem blauen Armband. Sie hatten dies an mehreren Personen entdeckt, klar, es ist unser Erkennungszeichen. Doch ich drehte mein Handgelenk um und zeigte auf das „V“: „So eins tragen viele Veganer. Es ist wie ein Abzeichen. Gut möglich, dass es welche unter dem Flashmob hatte. Es würde zum Thema passen.“ Lilly musste unwillkürlich lachen. „Sie glaubten mir kein einziges Wort. Doch sie konnten mir nichts beweisen; und ich kann sehr harmlos und unschuldig schauen. Die Lillie vom Felde halt. Meine tätowierte Schwester hätte es vielleicht schwerer gehabt. Ich glaube, sie hielten mich für ein bisschen beschränkt. Jedenfalls kam ich mit einer Verwarnung davon.“

    Lilly schaute auf die Uhr: „Ich erzähle dir ein anderes Mal mehr. Nun muss ich gehen, ich will noch einkaufen, bevor die Läden schliessen.“ Sie musste die protestierende Bella richtiggehend von ihren Knien schubsen. Ich traute meinen Augen nicht. Fast war ich ein wenig eifersüchtig. Später richtete ich mein Nachtessen und wählte für Bella ohne grosse Hoffnung ein besonders feines Futter aus meiner umfassenden Auswahl. Sie hatte an dem Tag noch so gut wie nichts  gefressen, was gefährlich war für sie und ihre Krankheit noch verschlimmerte. Ich hatte ihr dies immer und immer wieder versucht zu erklären. Timo bestätigte, dass sie mich verstanden hatte. Dennoch wandte sich Bella meist nach wenigen Bissen vom Fressen ab und zog sich aufs hohe Bücherregal zurück, wo sie ihre Ruhe hatte. Nach draussen wollte sie schon länger nicht mehr.

    Heute Abend betrachtete ich nachdenklich die gefüllte Futterschüssel, bevor ich sie auf den Boden stellte. Dann nahm ich Bella auf  den Arm und streichelte sie. „Du bist eine wunderschöne Katze, alles an dir ist einfach perfekt“, sagte ich zu ihr. „ Das feine Nachtessen wird dafür sorgen, dass dein seidiges Fell so prachtvoll bleibt. Deine schönen, strammen Beine werden stark bleiben, damit du weiterhin elegant aufs oberste Regal springen kannst. Alle Spielmäuse müssen sich in Acht nehmen vor dir, denn du tankst jetzt Energie und wirst die schnellste Katze weit und breit.“ Ich stellte sie vor die Futterschüssel. „Schau mal, wunderbares, gesundes Fressen für eine absolut wunderbare, gesunde Katze.“ Ich kam mir, ehrlich gesagt, ziemlich komisch vor und war froh, dass mich niemand hörte. Doch, wie Lilly vorhergesagt hatte, sind Katzen offenbar sehr empfänglich für Komplimente. Nach kurzem Zögern fing Bella an zu fressen und hörte nicht mehr auf, bis fast alles weggeputzt war. „Du hast mich gerade zum allerglücklichsten Menschen gemacht, Bella“, sagte ich, und dies war keine Schmeichelei, sondern die pure Wahrheit.

  • Die Grenzen verwischen

    -9-

    Zufrieden und zuversichtlich ging ich an diesem Abend zu Bett. Lilly hatte etwas tief in mir drin berührt. Ich fühlte eine Mischung aus Bewunderung für ihre Intuition und feinfühlige Art und Dankbarkeit, dass sie sich so viel Zeit für Bella und mich genommen hatte.

    Doch ich konnte nicht einschlafen. Erst ging mir die Unterhaltung mit Lilly überTimo im Kopf herum. Wie schwierig musste es sein, wenn man die Schmerzen, Enttäuschungen und Emotionen anderer ganz ohne Schutz am eigenen Körper spürte. Ob er auch Freude, Verliebtheit und Hoffnung von seiner Umgebung übernehmen konnte? „Sicher!“ tröstete ich mich, „nicht jeder trägt schliesslich grosses Leid mit sich herum.“ Ich dachte an seine vor Heiterkeit funkelnden Augen, wenn er mir eine lustige Geschichte erzählte. Wie er sich freute, wenn er jemandem mit einer Kleinigkeit ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Er holte sich bestimmt auch viel gute Energie aus seiner Umgebung.

    Einmal hatte er mir erzählt, dass die junge Frau, die soeben ins Shopping Center gegangen sei, eigenen Schmuck kreiere. „Sie denkt gerade an all die Arbeit und Begeisterung, mit der sie die Sachen hergestellt hat“, erzählte er mir. „Nun hat sie diese bereit zum dritten Mal in einer Boutique zum Verkauf angeboten und wurde ziemlich schnöde abgewiesen. Ihr Mut ist weg, sie zweifelt an ihrem Talent und Können. Sie wird sich nicht getrauen, ihr Werk nochmals irgendwo anzubieten. Nun kommst du ins Spiel. Sie trägt bestimmt eines ihrer Schmuckstücke. Brich in Begeisterung aus darüber! Frag sie, wo man so etwas kaufen kann.“ Er drückte mir 100 Franken in die Hand. „Wenn sie etwas zu verkaufen dabei hat, such etwas Schönes aus. Ich finde schon eine Abnehmerin dafür.“ Er wurde sogar etwas rot dabei. „Willst du das nicht selber machen?“ fragte ich, verwirrt durch seine Verlegenheit. Doch seine Antwort ergab Sinn. „Sie ist sehr hübsch und ich bin ein Mann. Sie würde denken, ich versuche sie bloss anzubaggern. Sie würde meinem Urteil weniger trauen als deinem. Geh und mach ihr Mut, Du weisst ja unterdessen, wie das geht.“

    Die schlanke junge Frau trug eine auffällige Afrofrisur und hatte grosse, dunkle Augen. Sie war tatsächlich mit einer Menge Schmuck behangen: mit Ohrringen, Armbändern, Halsketten und Fingerringen. Es waren bunte, auffällige, verspielte Kreationen Richtung Hippie Stil, jedoch geschmackvoll. Ich wartete, bis die junge Frau ihre Einkäufe bezahlt hatte, bevor ich sie ansprach. Ihre Augen leuchteten auf und sie zeigte mir bereitwillig ihre Accessoires. Erst als ich sie fragte, wo ich denn so etwas bekommen könnte, rückte sie damit heraus, dass sie die Sachen selber herstelle. „Nur für den Hausgebrauch“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Was für eine Verschwendung von Talent“, rief ich aus, „Sie sind eine Künstlerin. Sie sollten den Schmuck unbedingt verkaufen!“ Es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich immer eine kleine Auswahl zum Anbieten dabei hatte. Darunter war eine hübsche Halskette aus ovalen, kobaltblauen Schmucksteinen. Ich wählte diese und dachte an das kobaltblaue Armband, über welches ich nie mit Timo gesprochen hatte. Ich war gespannt, ob er etwas dazu sagen würde. Doch erst einmal bestätigte ich Helene, so hiess die junge Künstlerin, darin, dass ihre Schmuckstücke aussergewöhnlich schön seien und unbedingt ausgestellt gehörten. „Haben Sie nicht die Möglichkeit, irgendwo ein kleines Atelier aufzumachen?“, fragte ich sie. „Ihr Schmuck ist sehr speziell und sollte nicht in einem 08.15 Laden verkauft werden, dort sehen ihn nicht die richtigen Leute“, versicherte ich ihr. „Das ist auch eine Art, es zu sehen“, lachte Helene, erzählte jedoch nichts weiter dazu. „Hm, ich müsste bei mir zu Hause anfangen…doch eigentlich, warum nicht…?“ meinte sie schliesslich und ich konnte richtiggehend sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Ich gab ihr meine Mailadresse und bat sie, mich auf dem Laufenden zu halten.

    „Hoffentlich kennst du genug Frauen, die an Schmuck interessiert sind, falls Helene in Zukunft irgendwo ausstellt“, sagte ich nachher zu Timo. „Für meine Generation passt er nun mal weniger.“ Timo liess die Kette wortlos in seiner Tasche verschwinden und versuchte das Thema zu wechseln, doch ich liess mich nicht ablenken. „Findest du die Kette nicht schön?“, fragte ich, „ich dachte, dieses Blau gefalle dir sicher.“ „Doch, sie ist perfekt, danke. Hat dir diese Helene auch ihre Adresse gegeben?“ Timo tätschelte Buddy und schaute mich nicht an. Ich sah dennoch, dass er wieder ein bisschen rot geworden war. „Nein, sie wird sich bei mir melden. Was ist denn mit dir los?“ Er räusperte sich. „Nichts, ich habe nur ein Kratzen im Hals und keine Pfefferminz mehr. Ich gehe rasch zum Kiosk.“ Danach sprachen wir nicht mehr von Helene. Ich weiss nicht, warum sie mir jetzt, mitten in der Nacht, in den Sinn gekommen war.

    Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, jedenfalls schreckte ich mit rasendem Herzen aus einem Albtraum auf. Es war unterdessen Sommer geworden und die Hitze liess auch über Nacht kaum nach, zumindest in der Wohnung blieb es drückend. Doch ich hatte nicht nur geschwitzt. Ich hatte mich eingeengt gefühlt, schmutzig, verzweifelt, durstig. Wenn immer ich mich bewegte, zog sich etwas schmerzhaft zu um meinen Hals und ich hatte das Gefühl, ich müsse ersticken. Obwohl ich keinen grossen Durst hatte, holte ich mir ein Glas Wasser. Im Traum hätte ich alles dafür gegeben. Ich hatte einen seltsamen Geruch in der Nase, nach Urin, Fäkalien und verdorbenem Fleisch, absolut widerlich. Ich schaute nach Bella. Sie schlief friedlich und tief am Fussende meines Bettes. Vorsichtig machte ich helleres Licht und holte mein Buch. Für den Moment hatte ich keine Lust mehr auf Schlaf, zu nah spürte ich den Traum immer noch, obwohl ich mich gar nicht detailliert daran erinnern konnte. Erst als es draussen dämmerte, hatte ich mich genügend abgelenkt. Nun streckte ich mich wohlig aus im Bett und schloss die Augen. Es war noch zu früh zum Aufstehen. Bella bettelte nur noch selten um Frühstück um diese Zeit. Ich liess mich entspannt in einen leichten Schlummer sinken, nur um gleich wieder aufzuschrecken. Ich hatte Wimmern gehört, Angst gefühlt; und nun war da wieder dieser Geruch in meiner Nase. Bella schlief noch immer, ihre Schwanzspitze zuckte im Traum und sie gab leise, fiepende Geräusche von sich. Doch was mich betraf, war an friedlichen Schlaf  offenbar nicht zu denken.

    Seufzend stand ich auf. Als erstes schrieb ich Cedric eine lange Mail, erzählte das Neueste von mir und Bella und fragte, ob alles in Ordnung sei bei ihnen. Ich hatte die junge Familie erst wenige Male gesehen, seit das Baby auf die Welt gekommen war. Dank Internet und Facebook waren wir jedoch häufig in Kontakt. So war ich wenigstens auf dem Laufenden und erhielt ständig neue Fotos. Meistens schrieben wir uns nur kurze Mitteilungen, längere Mails tauschten wir eher selten aus. Doch heute Morgen hatte ich das Gefühl, dass irgendwo etwas nicht in Ordnung war, dass der Traum mich auf etwas hinweisen wollte. Diesen erwähnte ich jedoch nicht in der Mail, ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er die Familie in Italien betreffen könnte. Doch da dort meine liebsten Menschen wohnten, wollte ich sicher sein. Cedric schrieb gleich zurück, nur kurz. Sie hätten im Moment schlaflose Nächte, da Sofia zahne und viel weine. Sonst sei alles in Ordnung und er schreibe mehr, wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt sei im Haus. „Siehe Facebook“, schrieb er und postete Fotos von Angelita und sich selbst, schlaftrunken und mit zerwühlten Haaren, die weinende Sofia auf dem Arm. Ich konnte mich gut in ihre Lage hinein versetzen, mit meinem Traum hatte diese jedoch offenbar nichts zu tun.

    Ich beschloss, Timo zu fragen, was er dazu meinte. Ich vermisste ihn ohnehin. Lilly hatte mir Zuversicht und Hoffnung geschenkt, was Bella betraf, ich fühlte mich nicht mehr so hilflos ihrer Krankheit gegenüber. „Sieh nur die  gesunde, schöne Katze in ihr. Sie will nicht dein Mitleid, sie braucht deine positive Unterstützung“, hatte sie beim Abschied nochmals betont. Also überschüttete ich Bella als erstes mit Komplimenten, als sie kurz nach mir aufstand. Sie rieb ihren Kopf an meinem Bein und schnurrte laut. Zwar frass sie noch immer nicht so viel, wie ich gern gesehen hätte, doch bedeutend mehr als in den letzten Tagen.

    Ich war richtig erleichtert, als ich Timo und Buddy beim Fluss entdeckte. Wie sehr ich ihn und unsere Gespräche vermisst hatte, merkte ich erst jetzt so richtig. Er hatte es jeden Tag geschafft, mich zum Lachen zu bringen und mich aufzuheitern. Ich glaube, er hatte mich auch ein wenig vermisst, jedenfalls umarmte er mich sehr herzlich zur Begrüssung. Wir hatten uns viel zu erzählen. Die Pfefferminzrolle ging viele Male von ihm zu mir und zurück. Erst nach etwa einer Stunde kam ich auf meinen Traum zu sprechen. Timo schwieg dazu. So erzählte ich noch etwas mehr davon, beschrieb den Geruch, das einengende Gefühl um den Hals. Noch immer sagte er nichts. Er kraulte Buddy am Hals und schaute gedankenverloren aufs Wasser. „Timo…! Wo bist du? Langweile ich dich mit meinem Traum?“ fragte ich etwas irritiert. Er drehte den Kopf zu mir und schaute mich ernst an. „Das ging schnell“, sagte er nur und schwieg weiter. „Oh, danke, nun verstehe ich alles“, versuchte ich zynisch zu sein, doch vor allem war ich verunsichert. Ich kannte Timo so nicht. Doch dann legte er den Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. „Tut mir leid, Wisp! Ich weiss im Moment einfach nicht, was ich sagen soll. Manchmal, wenn ein Tier in grosser Not ist, sendet es Bilder und Gefühle aus und versucht, einen Menschen zu finden, der es versteht und der zu Hilfe kommt. Ich hätte nicht gedacht, dass du das schon auffangen könntest. Du hast ja eben erst gelernt, was Tierkommunikation überhaupt ist. Vielleicht hat dich die Sorge um Bella so hochempfänglich gemacht. Versteh mich nicht falsch, es ist ganz toll und ich bin stolz auf dich“, wieder drückte er meine Schulter, fast schmerzhaft diesmal, „doch es ist auch belastend und eine Verantwortung. Was willst du nun tun? Es zu ignorieren versuchen? Glaub mir, ich weiss aus Erfahrung, dass dies nicht funktioniert. Der Traum wird dich nicht loslassen, denn es ist natürlich kein Traum. Im Schlaf bist du auf einer Wellenlänge, auf der dich ein Tier erreichen kann, wenn du offen und empfänglich genug bist dafür. Es hat vielleicht nicht einmal dich persönlich ausgesucht, doch es sendet Hilferufe, die du nun hörst, ob du willst oder nicht. Nur wenn du sie konsequent ignorierst und deine empathische Seite verleugnest, werden sie schwächer und bleiben irgendwann ganz aus. Es ist deine Wahl, triff sie jetzt. Wenn du dieses grosse Geschenk, denn ein solches ist es, annimmst, brauchst du Mut. Meistens erreichen diese Signale jedoch ohnehin nicht die Feiglinge unter den Menschen. Wir können traumatisierte Tiere nicht nur ein bisschen spüren, es trifft uns mit Wucht.  Doch wir überstehen diesen fremden Schmerz, wir lernen ihn wieder loszulassen, wir lernen uns zu schützen. Ich helfe dir dabei. Die Tiere können das nicht. Wir, die sie hören, sind ihre einzige Chance. Wenn sie uns von sich aus rufen, sind sie sehr verzweifelt.“

    Nun war es an mir, zu schweigen und nachzudenken. „Ich würde noch so gern helfen“, sagte ich schliesslich. „Doch wie? Ich weiss nicht einmal, was für ein Tier mich hier ruft.“ „Wenn ich so etwas erlebe“, meinte Timo, „versuche ich es  gar nicht erst über den Kopf zu lösen. Ich meditiere viel, achte auf meine Eingebungen und Intuition und natürlich auf das, was über meine Träume zu mir kommt. Dies wird erfahrungsgemäss immer intensiver und schmerzhafter, es ist also gut, wenn man so schnell wie möglich eingreifen kann. Es betrifft normalerweise eine Situation, die räumlich nicht allzu weit entfernt ist. Was deine Mitteilung angeht, habe ich sogar einen bestimmten Verdacht. Erzähl mir nochmals alles genau.“

    Zehn Minuten später war ich in Tränen aufgelöst. Als ich zu reden begonnen hatte, kamen all die Gefühle und Gerüche mit grosser Intensität zurück. Ich spürte hoffnungslose Angst in mir, fing an zu zittern und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Sogar Buddy fing solidarisch an zu heulen. Timo hielt mich fest. Zum Glück sassen wir am Fluss unten auf unserem Lieblingsstein und hatten keine Zuschauer. Ich suchte ein Taschentuch und versuchte, die Schluchzer zu unterdrücken, doch Timo schüttelte den Kopf. „Lass die Tränen laufen“, sagte er leise. „Wenn man etwas so intensiv spürt, holt es oft andere, unterdrückte Gefühle mit an die Oberfläche. Die übliche Verdrängungstaktik greift plötzlich nicht mehr. Akzeptiere diese Emotionen so wie sie sind, atme ruhig durch sie hindurch und sie werden sich auflösen und viel Energie in dir freisetzen.“

    Wir sassen lange zusammen auf dem harten Stein. Meine Tränen waren irgendwann versiegt. Ich fühlte eine eigenartige Ruhe und Stärke in mir, doch ich hatte keine Lust zu reden und war Timo dankbar, dass er einfach da war. „Wie kommt es, dass du gerade heute so viel Zeit hattest?“ fragte ich ihn doch irgendwann und er antwortete schlicht: „Weil du mich gerade heute brauchtest.“ „Du meine Güte, wenn wir von brauchen sprechen… Bella braucht doch ihr Nachtessen“, kam mir in den Sinn. Ich hatte die Zeit ganz vergessen. „Ja, Buddy hat auch Hunger“, schmunzelte Timo, „und ich könnte ebenfalls etwas vertragen. Du sicher auch. Weisst du was? Wenn du einverstanden bist, begleiten wir dich nach Hause und wenn Bella versorgt ist, nehme ich dich mit in unser Haus am Waldrand. Dort gibt es täglich etwas zu essen am Abend und davon immer mehr als genug. Einmal in der Woche machen zwei von uns einen Grosseinkauf. Ich glaube, es  ist an der Zeit, dass du Mona und die anderen kennen lernst.“ Ich hielt den Atem an vor Überraschung und Freude. Über das geheimnisvolle Haus am Waldrand hatte ich Timo bereits einige Male versucht auszufragen. Offenbar wohnten sie alle zeitweise dort. Lola hatte es damals erwähnt und auch in Lillys Erzählungen kam es ein paar Mal vor. Andere Tierschützer, wie Leute aus den Flashmobs, fanden dort offenbar ebenfalls Unterschlupf wenn nötig. Mehr wollte mir niemand dazu erzählen. „Das Haus gehört Mona, die so gar nicht zu uns passt. Warum wir dort wohnen dürfen, werden wir wohl nie verstehen“, war leider alles, was sogar die sonst gar nicht verschwiegene Lilly dazu zu bemerken bereit war.

    Timo war an dem Tag zum ersten Mal bei mir zu Hause. Bella kannte er bisher nur von Fotos. Es war ein eigenartiges Gefühl, diesen mir unterdessen so vertrauten jungen Mann in der eigenen Wohnung zu sehen, es war, als ob zwei verschiedene Leben zusammen kommen würden. Während ich Bella fütterte, lehnte Timo im Türrahmen zur Küche. Buddy wartete brav vor der Wohnungstür. Obwohl er Katzen, wenn sie nicht gerade flüchteten, nicht gross beachtete, wollte ich Bella nicht ängstigen. Ich wusste nicht, welche Erfahrungen sie in ihrem Leben mit Hunden gemacht hatte. „Ich möchte mich rasch umziehen und ein bisschen frisch machen“, sagte ich nach dem Füttern zu Timo, „ich sehe schrecklich aus mit meinem verheultem Gesicht und den zerknitterten Kleidern. Was soll ich denn anziehen?“ Plötzlich war ich nervös. Diese Mona, so viel hatte ich aus den Andeutungen heraus gehört, war offenbar allen immens wichtig. Sie musste irgendwie eine Sonderstellung einnehmen. Timo lachte und zupfte an meinen weissen Haarbüscheln. „Ich mag es, wenn deine Haare so abstehen. Du siehst aus, als ob du damit fliegen könntest. Oder ausserirdische Botschaften empfangen. Mach dir keine Gedanken über dein Aussehen, es ist alles in Ordnung. Nimm jedoch eine Jacke mit, im Sommer sitzen wir nachts meistens lange draussen und es kann kühl werden vom Wald her.“

    Als ich aus dem Bad kam, betrachtete Timo gerade die Fotos in meinem Wohnzimmer. Ich erklärte ihm, wer die Personen darauf waren und erzählte kurz, was er dazu wissen musste aus meinem Leben. Ich streifte meine Ehe und das Ende davon, erzählte von Cedric, Angelita und meinem Enkelkind. Ein bisschen etwas wusste er natürlich bereits über mich, doch mit den Fotos konnte ich ihm alles lebendiger erzählen. Anders als sonst wurde ich heute nicht traurig, wenn ich  Angelitas strahlendes Gesicht ansah oder Sofia betrachtete, die so schnell wuchs, dass mir mit jedem Foto klarer wurde, wie viel ich aus ihrem Leben verpasste. Stattdessen kam mir eine Idee. „Timo, du sprichst doch Italienisch, kannst du mir das nicht beibringen? Wenn meine Enkeltochter zu sprechen beginnt, möchte ich mich schliesslich mit ihr unterhalten können. Ich will wieder einmal nach Rom zu Besuch und nicht  mehr stumm dabei sitzen, wenn die italienische Familie rund um mich herum redet, sondern mithalten können.“ „Ma certo, cara mia“, lachte Timo, „ich spreche ab sofort nur noch Italienisch mit dir, wenn du willst.“ „So habe ich es nicht gemeint, langsam…piano!“ lachte ich zurück, doch der Gedanke, diese Sprache lernen zu können, machte mich glücklich. Warum hatte ich nicht schon lange daran gedacht, statt hier Trübsal zu blasen und meine Familie zu vermissen? Im Moment wollte ich Bella zwar nicht allein lassen, doch in meinem Alter lernt man eine neue Sprache ohnehin nicht über Nacht. Bevor wir aus dem Haus gingen, kauerte sich Timo noch zu meiner Katze auf den Boden. Sie war immer irgendwo in seiner Nähe geblieben. Nun streichelte er ihren Kopf und sie schloss geniesserisch die Augen. „Sie hätte gern einen flacheren, grösseren Napf, es stört sie, wenn ihre Schnauzhaare beim Fressen seitlich anstossen. Und bloss kein Plastikgeschirr!“ richtete Timo aus. „Ausserdem wünscht sie sich feineren Katzensatz in ihrem Kistchen, solchen, der ihren Pfoten nicht weh tut. Das Nierendiätfutter findet sie höchstens mit Fisch gemischt einigermassen geniessbar, sie möchte es nicht täglich fressen müssen.“ „Oh“, sagte ich überrascht, „diese Gedanken hatte ich mir gar nie gemacht, doch ich verstehe Bella. Das mit dem Futter muss ich allerdings erst mit dem Tierarzt besprechen.“

    Buddy hatte ruhig gewartet, doch er freute sich sichtlich, uns wieder zu sehen. Timo hatte mich um einen alten Teller gebeten und gab seinem Hund nun das Futter, welches er unterwegs gekauft hatte. Dann schaute er mich an: „Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sind wir eine Weile unterwegs, obwohl das Haus nicht allzu weit von der Stadt Zürich entfernt ist. Ich darf später sicher Monas Auto benutzen, um dich nach Hause zu fahren.“ Ich wurde immer neugieriger. Wir fuhren drei Stationen mit dem Zug und warteten dort auf einen Bus, der uns nochmals zwei Stationen in die Höhe bringen sollte. Ich kannte mich hier nicht aus. Der Strasse entlang standen viele Häuser und zwischen Feldern und Obstbäumen schauten zwei rote Hausdächer hervor, wahrscheinlich Bauernhäuser. Timo deutete mit dem Kopf auf sie. „Von dort irgendwo könnte der Hilfeschrei hergekommen sein. Ich muss mir überlegen, wie wir am besten vorgehen. Schick heute Abend beim Zubettgehen dem Tier die Nachricht, dass du es gehört hast und dass wir es bald finden werden. Dann wirst du ruhig schlafen können. Oh, wir haben Glück, hier kommt unser Bus. Er fährt nicht allzu häufig in dieser Gegend.“ Als wir ausstiegen, fanden wir uns inmitten von Wiesen und Feldern wieder, nahe bei einem kleinen Wald. „Komm“, sagte Timo, „ wir haben noch zehn Minuten Fussweg vor uns.“ Schweigend ging ich hinter ihm her. Es war herrlich ruhig hier oben, nur vom Waldrand her kam Kuhglockengebimmel. Es roch würzig nach Gras und Heu. Irgendwo bellte ein Hund, Buddy bellte träge zurück. Timo jedoch schien mir aussergewöhnlich ruhig. Gerade wollte ich einige Fragen zum Haus und vor allem zu dieser Mona stellen, als er abrupt stehen blieb. Fast wäre ich mit ihm zusammen gestossen. „Vielleicht sollte ich dich warnen“, meinte er, offenbar wieder einmal meine Gedanken lesend. „Mona ist eine wunderbare Frau und wir haben ihr unendlich viel zu verdanken. Doch sie ist eine eigenwillige Persönlichkeit und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich weiss nicht, wie sie auf dich reagieren wird. Takt ist nicht gerade ihre Stärke. Zudem mag sie keine Überraschungen und ich habe dich nicht angemeldet. Ich hoffe sie benimmt sich anständig, doch man kann bei ihr nie ganz sicher sein.“ Bevor ich etwas sagen konnte, ging er rasch weiter und nach der nächsten Wegbiegung standen wir bereits fast vor dem Haus. Es war zweistöckig und langgezogen, halb Chalet, halb Landhausstil, mit etwas südländischem Einschlag.  „Sehr eigenwillig, offenbar wie die Besitzerin“, dachte ich amüsiert, jedoch auch etwas nervös. Hinter dem Haus hörten wir das Lachen und Rufen von mehreren Leuten. „Hast du Hunger?“ fragte Timo. „Es brennt bestimmt ein Feuer beim Sitzplatz. Du wirst staunen, was man alles grillieren kann, auch ohne Fleisch. Wenn wir Glück haben, ist jemand dabei, Spaghetti zu kochen in der Küche.“ Der Gedanke an Essen liess meinen Magen knurren. Doch kaum hatten wir ein paar weitere Schritte getan, trat eine Frau, die nur Mona sein konnte, aus dem Haus. Ich weiss nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte, doch so auf keinen Fall. Zwar war sie unbestritten eine attraktive Frau mittleren Alters, mit halblangen, blondierten Haaren, die sehr sorgfältig und makellos nach hinten frisiert waren. Doch ich fand sie viel zu auffällig geschminkt. In ihrem eleganten Kostüm und den halbhohen Pumps, auf welchen sie kaum gehen konnte auf dem Kiesplatz, sah sie in dieser ländlichen Gegend ziemlich deplatziert aus. Wie in einer Werbeaufnahme vor einem unpassenden, gewollt rustikalen Hintergrund. „Vielleicht kommt sie gerade von der Arbeit“, dachte ich, als ich mich von der ersten Überraschung erholt hatte, „ich weiss so gut wie nichts über sie.“ Timo begrüsste Mona mit einem Kuss auf die Wange und stellte mich vor. „Du siehst lustig aus, wie eine Pusteblume“, sagte Mona statt einer Begrüssung, doch sie lächelte nicht dabei. Timo und ich wechselten einen Blick, dann prusteten wir beide los. Das hatte ich nun wirklich noch nie gehört über meine Haare. Mona gefiel es offenbar nicht, dass wir uns so gut verstanden. Sie wandte sich abrupt zum Gehen: „Wir essen hinter dem Haus. Timo, vielleicht möchtest du für deine Grossmutter einen bequemen Stuhl aus dem Wohnzimmer mitnehmen?“ Grossmutter?! Ich glaubte, mich verhört zu haben.  Natürlich könnte ich sehr gut Timos Mutter sein, aber Grossmutter?! Ich starrte Mona mit offenem Mund an. Jetzt lächelte sie freundlich.

    Ich ahnte es gleich – dies war der Anfang einer wunderbaren Feindschaft.

  • Freund und Feind

    -10-

    Auf der Hinterseite des Hauses war eine grosse, hölzerne Veranda. Die eine Ecke füllte eine sperrige Hollywood Schaukel aus, die offenbar schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vor der Balustrade standen zwei behäbige Schaukelstühle. Im einen sass ein älterer Mann und hatte die Füsse aufs Geländer gelegt. Als er uns sah, sprang er rasch auf zur Begrüssung. „Na Albert“, lachte Timo, „wieder einmal sogar zum Schaukeln zu müde?“ Albert war Monas Untermieter und zugleich der Postbote dieser Gegend, erfuhr ich. Da er sehr zeitig aufstehen musste, wurde er abends meistens früh müde. Dennoch war er gern um die Jungschar herum, wie er sie nannte. „Ich mag Betrieb, sofern ich einfach zuhören darf und nichts beisteuern muss. Ich bin oft tatsächlich zu müde zum Reden am Abend. Manchmal schlafe ich in einem Stuhl ein, das stört hier niemanden. Die nehmen mich, wie ich bin.“ „Setz dich ruhig wieder hin, Albert“,  sagte Timo, „Wispy und ich gehen ohnehin zum Grillplatz.“

    Dazu mussten wir von der Veranda aus ein paar Schritte durch einen kleinen Garten gehen. Ich konnte mir Mona beim besten Willen nicht beim Gärtnern vorstellen. Ich sah sie im Geist in ihren Pumps zwischen den Tomatenstauden kauern, die zerlaufene Schminke mit Erde verschmiert und die manikürten Finger voller Dreck. Unwillkürlich musste ich vor mich hin schmunzeln. „Ganz so unfähig wäre sie wahrscheinlich nicht“, lachte Timo und stiess mich in die Seite, „doch du hast Recht, sie reisst sich nicht um die Gartenarbeit. Albert erledigt diese und andere Arbeiten rund ums Haus, dafür muss er nur eine kleine Miete bezahlen. Win-Win, sozusagen.“ Mist, ich hatte wieder einmal vergessen, dass ich für Timo manchmal ein offenes Buch war. Ich nahm mir vor, besser aufzupassen, was ich über Mona dachte, ich wollte es mir schliesslich nicht verderben mit ihm.

    Hinter dem Garten ging es ein paar Steinstufen durch die Wiese hoch und von dort führte ein Trampelpfad zum Grillplatz unter den Bäumen. Um einen massiven Steintisch herum waren verschiedene Bänke und Stühle gruppiert. Schon von weitem hatte ich Lola erkannt. Sie war mit drei Männern dabei, Essen vorzubereiten und den Tisch zu decken. Bei der Feuerstelle stand eine sehr jung aussehende Frau mit kurzem, blondem Strubbelhaar und viel dunklem Augen Make-up.  Sie legte gerade verschiedenes Grillgemüse,  Kartoffeln, Maiskolben, grosse Champignons und etwas, das wie gefüllte Auberginen aussah, in Grillschalen und bepinselte alles vorsichtig mit einer Sauce. Sie war offenbar mitten in einer Erzählung und, angefeuert vom Lachen der Freunde, machte sie mit theatralischen Gesten weiter. „Und das war nur meine Mutter! Der arme Kerl musste doch wirklich noch meinem Vater in die Arme laufen und der genoss es natürlich, ihn hochzunehmen. Ihr kennt meinen Vater, er kann den grössten Stuss erzählen und absolut todernst bleiben dabei. So viel zu meiner neuen, zartknospenden Liebesbeziehung. Sven wird nie wieder mit mir ausgehen wollen, bei der Familie.“ Sie verwarf ihre Hände und meinte das Ganze wohl nicht so ernst. „Was hat dein Vater denn gesagt?“ wollten alle wissen. „Er hat ihn ganz finster angesehen und gefragt: „Junger Mann, ist Ihnen klar dass meine Tochter seit neuestem Veganerin ist? Und da tragen Sie eine Frisur mit Koteletten? Wie unsensibel!“ Und als Sven ihn verblüfft mit offenem Mund anstarrte, hob er noch den Drohfinger: „Zudem müssen Sie wissen, dass meine Tochter aus Tierschutzgründen keine Schmetterlinge im Bauch haben darf. Von Hummeln im Hintern gar nicht zu sprechen!“ „Du wirst hier oben viel Quatsch hören“, warnte mich Timo über das allgemeine Gelächter hinweg. „Es gilt die Regel, dass zumindest bis nach dem Essen nicht über das Elend der Welt oder Tierquälereien gesprochen wird und dass diese Themen auch nachher auf ein Minimum zu beschränken sind. Wir besprechen und organisieren unsere Aktionen in der Regel zweimal wöchentlich, dann müssen natürlich die Fakten und Tatsachen auf den Tisch. Dampf ablassen ist jederzeit erlaubt und manchmal nötig, doch ansonsten achten wir darauf, dass wir oft etwas zu lachen haben und uns selber nicht zu ernst nehmen. Sonst halten wir nicht aus, was wir manchmal hören und sehen müssen. Man kann leicht verbittert und depressiv werden dabei, nur hilft man damit niemandem und man verliert die eigene Kreativität.“

    Buddy hatte längst alle begrüsst und war ausführlich getätschelt worden. Nun stellte mich Timo vor. „Die berühmte Wispy“, rief die blonde Frau, „Bud redet ständig von dir. Ich heisse Johanna. Wenn’s schnell gehen muss, nennen sie mich hier Jo.“ Lola nickte mir kurz zu. Der verwunderte Blick, den sie  Timo zugeworfen hatte, war mir jedoch nicht entgangen. „Wispy hatte einen Traum – einen der unseren“, erklärte Timo. „Es war ein Hilferuf. Irgendwo in der Nähe muss ein Tier eingesperrt oder gefangen sein. Da sie noch keine Erfahrung damit hat, dachte ich, wir zeigen ihr nach dem Essen, wie wir vorgehen, wenn es uns passiert.“ Die Männer waren aufgestanden und schüttelten mir alle die Hand. Zuerst lernte ich Roman kennen, den sie Panda nannten. Er sah behäbig und gemütlich aus, hatte eine auffallend helle Haut, dazu dunkle, fast schwarze Haare, die ihm von beiden Seiten ins runde Gesicht fielen. Mit ein bisschen Fantasie konnte man tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Panda ausmachen. „Unser männliches Schneewittchen“, frotzelte Lola, „fehlen nur noch die blutroten Lippen.“ „Roman ist unser Computer Spezialist, ohne ihn wären wir verloren“, erklärte Timo. „Wenn er uns mal auf einem Flash begleitet, muss er jedoch eine Kopfbedeckung tragen. Er fällt sonst zu sehr auf.“ Unwillkürlich blickte ich zu Lola, deren schrille Aufmachung mich immer noch etwas irritierte. „Ohne die Piercings“, sagte sie kurz. „Und biedere Kleidung mit langen Ärmeln.“ Neben Roman stand ein nervös wirkender, dünner junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren, Brille und Bart. Er hiess Uwe, sprach Hochdeutsch und drückte meine Hand so kräftig, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. „Romans deutscher Schatten“, kommentierte Lola. Alle lachten, doch niemand klärte mich auf, zumindest in dem Moment nicht. „Du bist nicht wirklich Timos Grossmutter, wie Mona angekündigt hat, oder?“ fragte stattdessen der dritte Mann und stellte sich als Patrick vor. „Sonst müsstest du mir dein Geheimrezept verraten oder die Telefonnummer deines Schönheitschirurgen.“ „Wispy ist nicht meine Mutter und schon gar nicht meine Grossmutter“, bestätigte Timo, „sie ist mir jedoch in den letzten Monaten eine gute Freundin geworden, weil wir viel Zeit zusammen verbracht haben. Mona hat wohl ihren oberzickigen Tag heute.“ Ich spürte förmlich, wie die anderen die Luft anhielten. Dann schauten sie sich an und lachten. „So etwas zu sagen darf sich nur Timo erlauben“, behauptete Lola, „weil Mona in ihn verliebt ist.“ Allgemeines belustigtes Kopfschütteln rundum. „Lola, jetzt spinnst du“, lachte Timo. „Weisst du, wie alt Mona ist? Ich schätze etwa 20 Jahre älter als ich. Auch sie könnte so gesehen meine Mutter sein. Sie betont doch immer, dass sie sich einen Sohn wie mich gewünscht hätte. Wenn sie Gefühle für mich hat, dann höchstens mütterliche.“ „Und ich habe doch Recht“, behauptete Lola. „Achtet nur mal darauf, wie sie ihn anschaut, wenn sie denkt, dass es niemand merkt. Sie beobachtet ihn ständig durch ihre langen Wimpern. Sie hat fast dieselben Augen wie Timo.“ Dies brachte einen neuen allgemeinen Heiterkeitsausbruch. „Lola, wirklich! Mona hat sich extra lange Wimpern wachsen lassen, um Timo wenigsten ein bisschen zu ähneln? Weil sie verliebt ist? Das glaubst du doch nicht im Ernst. Und wenn es so wäre, müsste sie dann nicht auf euch junge Frauen eifersüchtig sein, statt Wispy anzuzicken? Davon haben wir doch noch nie etwas gemerkt?“ fragte Patrick und Lola musste zugeben, dass er da einen Punkt hatte. „Wir dürfen garantiert nur wegen Timo überhaupt hier sein“, schob sie jedoch noch trotzig hinterher und Patrick tätschelte ihren Arm: „Ja Lola, schon gut, wo du Recht hast, hast du Recht!“ Und fuhr dann fort: „Wenn wir von verliebt sprechen, Timo, wann stellst du uns deine Freundin vor? Die Hübsche mit dem dunklen Afrolook?“ Er deutete mit den Händen eine buschige Frisur um seinen Kopf an. „Meint er Helene, die Schmuck herstellt?“, dachte ich verblüfft. Die anderen schauten Timo ebenfalls überrascht und erwartungsvoll an. Lola schnitt sehr konzentriert ein Brot in Scheiben, doch ich hatte ihren schnellen, verletzten Blick in Richtung Timo wohl gesehen. Der war offenbar überrumpelt und sprachlos. „Wie…warum…wie kommst du darauf?“ fragte er schliesslich kopfschüttelnd und Patrick grinste: „Offenbar haben wir denselben Geschmack in Kinofilmen. Da es ein lustiger Film war, nehme ich nicht an, dass sie sich aus Angst so nah an dich gekuschelt hat.“

    Genau in dem Moment kamen  Mona und Albert aus dem Haus und retteten damit Timo, der verlegen war und offenbar nicht wusste, was er sagen sollte. Mona trug eine riesige Schüssel Salat und Albert ein grosses Serviertablett mit Gläsern und Krügen. Sie stellten alles auf den Tisch. „Das Essen braucht nur noch ein paar Minuten“, berichtete Johanna, die offensichtlich für den Grill zuständig war. Mona warf einen Blick auf das farbenfrohe, liebevoll in mehreren Schalen arrangierte Grillgut, welches langsam Farbe annahm und wunderbar duftete. Mir lief schon lange das Wasser im Mund zusammen. Doch dann stand Mona plötzlich so nah neben mir, dass ich fast erschrak. „Nur Grünzeug heute Abend? Wir sind doch keine Kaninchen“, warf sie in die Runde und legte mir überraschend den Arm um die Schulter. „Ich hole jetzt für mich und Wispy hier ein ordentliches Stück Fleisch zum grillieren. Wir sind schliesslich gestandene Frauen und brauchen etwas Bodenständiges zum Essen, nicht wahr Wispy, oder wie immer du richtig heisst?“ „Nein… was, für mich?!“ stammelte ich überrumpelt. „Nein danke, ich esse kein Fleisch.“ „Oh entschuldige, natürlich isst du kein Fleisch, wie dumm von mir“, sagte Mona übertrieben freundlich und ging ins Haus zurück. „Was war denn das jetzt?“, fragte ich Timo verblüfft, „war das ein Test oder so etwas?“ „Nein“, grinste der, „doch du hast soeben deine einzige Chance zur Verbrüderung mit Mona verpasst. Wenn sie einen schlechten Tag hat, versucht sie uns immer zu provozieren. Obwohl sie weiss, dass wir nichts dazu sagen werden. Man kann die Menschen nicht zur Einsicht zwingen. Man kann ihnen höchstens die Augen öffnen. Ist es letzten Endes nicht so, Patrick?“  Dieser raufte sich gerade theatralisch die Haare und schüttelte den Kopf. „Lästert über Gemüse und hat selber die grössten Tomaten auf den Augen, kein Wunder kann sie nichts richtig sehen“, knurrte er, gerade noch bevor Mona wieder bei uns war und sich eine der leer gewordenen Grillschalen für ihr Fleisch schnappte. Wir anderen setzten uns schon mal an den Tisch und genossen das wunderbare Essen. Zum Dessert gab’s verschiedene Sorbets, die Roman und Uwe aus dem Tiefkühler im Haus geholt hatten, sowie Kaffee und selbstgemachten Eistee. Mona, die mich weitgehend ignoriert hatte, zog ein Paket Zigaretten aus ihrer Tasche. „Lass mich raten: bestimmt rauchst du auch nicht?“ fragte sie wieder in diesem übertrieben freundlichen Ton, bevor sie, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Terrasse zurück ging und sich neben Albert in den anderen Schaukelstuhl setzte. Der Postbote hatte sich gleich nach dem Essen dorthin zurückgezogen, um zu meditieren, wie er scherzhaft sagte. Er war sogleich eingenickt.

    Bei den am Tisch zurück gebliebenen kam als nächstes Gesprächsthema nun mein Traum auf. Tagsüber hatte ich ihn fast vergessen gehabt, doch jetzt, wo es langsam eindunkelte, war alles gleich wieder präsent. Als ich das Verlassenheitsgefühl beschrieb, den Durst, die Enge um den Hals, kamen mir wieder die Tränen. Timo legte den Arm um mich: „Lass gut sein Wispy, für den Moment wissen wir genug. Lasst uns überlegen, wo das herkommen könnte. Wir werden dann versuchen, mit dem Tier telepathisch Kontakt aufzunehmen. “ „Vom Bauern Heinrich, ich könnte schwören“, zischte Patrick zwischen den Zähnen hervor. Er ballte die Hände zu Fäusten und knallte sie auf den Tisch. Offenbar hatte er ein hitziges Temperament. Patrick war ein Fels von einem Mann, gross und kräftig. Seine Arme waren von oben bis unten tätowiert. „Mit ihm möchte ich keinen Streit“, dachte ich bei mir, „sieht aus, als ob er sehr ungemütlich werden könnte.“ „Es könnte jedoch auch ein Tier im Wald sein, welches sich irgendwo verheddert hat“, gaben die andern zu bedenken. „Könnte sein“, gab Patrick zu, „doch ihr wisst, wie schlecht Heinrich seine Tiere hält und wie er den Tierschutzverein, den wir ihm auf den Hals hetzten, austrickst. Wenn sie ihn fragen, warum seine Kühe nicht auf der Weide sind, dann waren sie entweder bereits am Vormittag draussen oder dürfen bestimmt am Nachmittag raus, oder der Boden war aufgeweicht vom Regen und rutschig und es war zu gefährlich…er hat immer eine Ausrede. Dabei sieht man seine Tiere kaum einmal im Freien.“ „Ich habe gehört, dass sich dieser Blödmann doch tatsächlich schon wieder einen neuen Hund zugelegt hat“,  berichtete Mona, die sich unterdessen wieder zu uns gesetzt hatte. „Das macht jetzt wie viele? Drei, vier oder noch mehr? Wenn man sich dem Hof näherte, geht ein Riesengebell  los. Die armen Tiere sind immer draussen, in Hundehütten und meistens an der Kette. Auch da hält der Idiot die Tierschutzvorschriften nicht ein.“ Mona hielt wohl nichts von Takt. „Dann könnte sehr wohl einer von ihnen den Hilferuf senden?“ mutmasste ich. „Mich kennt dieser Bauer nicht. Soll ich morgen wie zufällig vorbei spazieren und mich umschauen?“ „Gute Idee, Schätzchen“, flötete Mona, „am besten reitest du auf deinem Einhorn hin. Das macht den tollen Plan perfekt!“ Ich schaute verwirrt in die Runde und sah, dass alle lachen mussten, obwohl sie gleichzeitig den Kopf schüttelten über Mona. Ich hatte meine Idee toll gefunden und spürte, wie nun Ärger in mir hochstieg. „Was Mona meint“, beschwichtigte Johanna, doch auch sie musste sich ein Lachen verkneifen, „ist, dass Heinrich niemanden in die Nähe seines Hofes lässt. Er wohnt dort nicht allein, sondern mit seinen zwei erwachsenen Söhnen. Diese und die Hunde halten jedermann auf Distanz. Da der Hof zuoberst auf dem Hügel ist, sehen sie alle Leute schon von weitem kommen. Selbst Albert darf nicht in die Nähe des Hofes mit der Post, sondern wird vorher abgefangen. Die Leute vom Tierschutzverein mussten mit der Polizei drohen, bis sie einen Rundgang machen konnten. Alle Tiere waren so gehalten, dass gerade mal die absolut minimalen Bestimmungen eingehalten wurden und man den Halter nicht anzeigen konnte. Sämtliche Hunde waren an der Kette, doch Heinrich behauptete, dies sei nur zum Schutz der Besucher geschehen und sie bekämen mehr als genug Auslauf. Ich traue ihm zu, dass er sie auch in dieser Hitze angebunden und ohne genügend Wasser allein lässt.“

    Das Gespräch drehte sich weiterhin um den Bauern und seine Söhne, bis Lola, die im Übrigen ziemlich ruhig geworden war, plötzlich sagte: „Eigentlich macht doch alles keinen Sinn! Warum sollte ein Tier aus dieser Umgebung bei Wispy Hilfe suchen? Wir sind fast jeden Abend hier, zwei oder drei von uns übernachten meistens im Haus. Wäre es nicht logischer, wenn wir den Hilferuf empfangen hätten? Wir sind in Gedanken ohnehin oft bei Heinrichs Tieren. Wenn ich dich richtig verstanden habe, wohnst du mitten in der Stadt, Wispy? Und hast noch keine Erfahrung mit Tierkommunikation? Für mich ergibt das alles keinen Sinn.“ Die anderen mussten zugeben, dass da etwas dran war. „Wir haben uns wohl von unserer Antipathie gegen Heinrich mitreissen lassen und von der Hoffnung, endlich etwas gegen ihn in die Hand zu bekommen. So leid es mir tut, Wispy“, sagte Timo schliesslich, „wir müssen versuchen, mehr Informationen zu bekommen und dazu musst du dich leider nochmals auf dieses Gefühl einlassen. Sag dem Tier, dass wir es suchen werden und bitte es, dir mehr Sinneseindrücke zu schicken. Was riecht es? Was spürt es unter den Pfoten? Was hört es? Was sieht es?“ Ich versuchte es, doch die Welle aus Angst und Verzweiflung, die ich zu spüren bekam, überwältigte mich gleich wieder. Mir wurde übel und ich schüttelte frustriert den Kopf. „Ich hab ihn“, flüsterte plötzlich Lola neben mir, „ich glaube, ich hab ihn!“ Sie war mit geschlossenen Augen da gesessen, ganz ruhig und in sich versunken. „Ich denke, es ist ein Hund. Ich spüre seine Pfoten, sie stehen auf einer Art  Gitterboden. Es ist eng, er kann sich nicht umdrehen. Wenn er nach vorne will, zieht sich sein Halsband zu.“ „Lola hat ein Riesentalent zum Orten und Aufspüren von Tieren“, bemerkte Timo bewundernd. Sie ignorierte ihn. „Angst, Durst, Hunger….wie du es erzählt hast, Wispy. Ich versuche nun Gerüche oder Geräusche auszumachen in seiner Umgebung.“ Wir anderen hielten fast den Atem an und wagten uns kaum zu rühren. „Es gibt Häuser in der Nähe und eine vielbefahrene Strasse. Er ist definitiv nicht irgendwo im Wald und auch nicht auf einem einsamen Bauernhof.“ Patrick sah fast enttäuscht aus. „Ich habe ihn gefragt, ob er sich selbst in diese Situation gebracht hatte, ob er vielleicht davon gelaufen oder aus Versehen irgendwo eingesperrt worden war, doch er zeigte mir das Innere eines Autos. Er wurde da hingefahren. Und dann kam wieder diese grenzenlose Verlassenheit. Ich glaube, er wurde ausgesetzt“, berichtete Lola. Sie hatte Tränen in den Augen. „Ich verstehe dich jetzt“, sagte sie, zu mir gewandt, „was da kommt ist heftig.“ Timo wollte sie freundschaftlich umarmen, doch sie wich ihm aus. „Die Frage ist, wie wir nun vorgehen“, sprach Uwe aus, was uns allen im Kopf herum ging. Er stand auf und wandte sich gegen das Haus.  „Wer möchte sonst noch ein Bier?“ fragte er über die Schulter. Lola, Patrick und Roman nickten. „Timo?“ „Ich weiss nicht…ich wollte Mona fragen, ob ich Wispy mit ihrem Auto heimfahren darf. Ich bleibe besser beim Eistee.“ „Sie kann mit mir heimfahren“, sagte Johanna. „Wenn sie mutig ist, heisst das! Ich durfte mir Vaters Auto ausleihen.“ Und, zu mir gewandt: „Ich habe den Führerschein noch nicht lange, doch ich verspreche dir, ich fahre vorsichtig.  Ich fahre euch alle gern nach Hause, wenn ihr möchtet, ich brauche unbedingt Fahrpraxis“, wandte sie sich an ihre Freunde, was ihr gutmütige Foppereien einbrachte.

    Roman startete seinen Laptop auf und holte meine Wohngegend per Satellitenbild auf den Bildschirm. Langsam gingen wir virtuell durch die Strassen und schauten uns die Häuser an. Wir konnten uns nicht vorstellen, wo man einen Hund hätte unbemerkt aussetzen können. „Müssen die nicht ohnehin alle gechipt sein?“, fragte Mona. „Doch, zumindest in der Schweiz“, gab Roman Auskunft. „Ich habe jedoch gelesen, dass Chips unlesbar gemacht werden können. Vor allem muss der Hund zusätzlich registriert sein, sonst kann er nicht zugeordnet werden. Ausserdem könnte er illegal aus dem Ausland eingeführt worden sein.“ „Leider sehen wir auf diesen Bildern nur die Vorderseiten der Häuser, nicht die Höfe und Hintereingänge. Hoffen wir, dass es diese grosse Durchgangsstrasse ist, deren Lärm der Hund hört. Wir können erst morgen nachschauen. In der Dunkelheit haben wir keine Chance und werden höchstens noch verhaftet, wenn wir mit Taschenlampen um die Häuser schleichen“, gab Timo zu bedenken. „Wer hat bereits tagsüber Zeit morgen? Ich werde auf jeden Fall schon früh mit Buddy die ersten Runden durchs Viertel drehen.“ Ich versprach, dass ich ihn  begleiten würde. Mona funkelte mich kalt an und ich fragte mich zum X-ten Mal, was ich dieser Frau zuleide getan haben könnte. Sie liess Timo kaum aus den Augen, das hatte Lola richtig beobachtet, doch verliebt war sie nicht in ihn, das spürt man als Frau – zumindest als Frau mit mehr Lebenserfahrung als Lola. „Das mit den langen Wimpern stimmt jedoch“, dachte ich amüsiert und gleichzeitig neidisch. Doch wer weiss heutzutage schon, was echt ist und was nicht. Zu lange und zu genau konnte ich Mona ohnehin nicht anschauen, wenn ich keinen Ärger provozieren wollte. Es stellte sich heraus, dass nur Patrick uns tagsüber begleiten konnte, die anderen würden sich nach der Arbeit melden. Wir sassen noch eine Weile zusammen und redeten von anderem. Heute konnten wir ohnehin nichts mehr unternehmen. Nach dem Aufräumen fuhr Johanna mich, Roman und Uwe nach Hause. Timo und Lola wollten im Haus übernachten und Patrick war mit seinem Roller da. Albert war irgendwann unauffällig in sein Zimmer verschwunden. Als ich mich von Mona verabschieden wollte, hiess es, auch sie sei bereits zu Bett gegangen. Zwar hatte ich sie gerade noch in der Küche sprechen gehört, doch mir sollte es recht sein.

    Am nächsten Morgen holten mich Timo und Patrick ab. Wir versuchten, hinter die Häuser in meiner Strasse und meinem Stadtviertel zu sehen, was gar nicht so einfach war. Die meisten Hinterhöfe waren durch Gitter und Zäune gesichert. Spielplätze gab es hingegen einige, wir kontrollierten dort alle Spieltunnels und Röhren. „Gut bist du dabei“, seufzte Timo, „mit deinem Grossmutter Aussehen verhinderst du Misstrauen uns Männern gegenüber.“ Und fügte, als er meinen Blick sah, schnell hinzu: „Du siehst natürlich nicht aus wie unsere Grossmutter! Höchstens wie die Oma eines neugeborenen Säuglings!“ Wir fanden nirgends einen Hund oder sonst ein eingesperrtes Tier, selbst Buddy erschnüffelte nichts. Am Mittag machte ich uns etwas zu essen, dann suchten wir weiter. Die näheren Häuser hatten wir alle kontrolliert, als uns am Nachmittag die jungen Frauen zu Hilfe kamen und wir weitere Quartiere in Angriff nahmen. Ich hätte Timo gern zu Helene befragt, doch ich war nie allein mit ihm. Am späteren Nachmittag waren wir müde, verschwitzt und frustriert. Die Hitze machte uns zu schaffen und unsere Füsse schmerzten. Lola hatte versucht, Kontakt mit dem Tier aufzunehmen, doch sie bekam nur noch schwache Zeichen. „Wir müssen es heute noch finden“, seufzte sie, „es verdurstet sonst.“ In diesem Moment erhielt Timo einen Anruf von Mona. Sie sei auf dem Heimweg von der Arbeit und komme für ein, zwei Stunden vorbei, um bei der Suche zu helfen. „Könnt ihr mich beim Quartierrestaurant treffen?“ fragte sie. „Ich muss erst etwas trinken und Zigaretten habe ich auch keine mehr. Zudem kann ich dort parkieren. Ihr könnt bestimmt ebenfalls eine kleine Pause gebrauchen.“ Damit hatte sie natürlich absolut Recht und wir machten uns auf den Weg. Das Restaurant lag zuoberst an der Strasse, dort hatten wir uns ohnehin noch nicht gross umgeschaut und beschlossen, dies anschliessend in Angriff zu nehmen. Doch erst einmal freuten wir uns auf einen kühlen Drink und waren sehr enttäuscht, als wir das Schild „Wegen Urlaub geschlossen – Closed for Holiday – Chiuso per Ferie“ an der Tür baumeln sahen. Offenbar verkehrte hier eine internationale Kundschaft. „Seit vorgestern geschlossen, so ein Pech!“ jammerte Johanna, „ich habe wirklich Durst.“ „Die Parkplätze sind hinter dem Haus“, wusste Patrick, „warten wir doch dort auf Mona. Vielleicht können wir uns irgendwo in den Schatten setzen, bis sie kommt. Dann suchen wir uns zusammen ein anderes Restaurant oder einen Kiosk, um etwas zu trinken.“ Wir fanden das eine gute Idee und gingen schwatzend hinters Haus. Plötzlich blieb Lola stehen. „Seid bitte ruhig!“ Sie hielt sich den Finger an den Mund. „Ich spüre das Tier plötzlich wieder stärker. Ich dachte sogar, ich könne es hören.“ Still gingen wir weiter und da, am Rande des Parkplatzes, fanden wir es. Beziehungsweise sie, denn es handelte sich um eine offensichtlich trächtige, mittelgrosse Hündin unbestimmter Rasse und, vor lauter Staub und Schmutz, unbestimmter Farbe. Sie war in einer offenen Transportkiste so angebunden, dass sich das Halsband zuzog, wenn sie weglaufen wollte. Offenbar hatte ihr jemand ursprünglich Wasser und Futter hingestellt, doch der Wassernapf schien schon lange leer zu sein, während der Futternapf umgekippt war und das Futter, nun ausser Reichweite der Hündin, in der Sonne verdorben war. Das arme Tier musste Durchfall gehabt haben, sein Fell war verfilzt und verklebt. Als ich näher ging, war da der Geruch, den ich nachts in der Nase gehabt hatte: Nach Fäkalien und verdorbenem Fleisch. Die Hündin zog sich winselnd in eine Ecke der Kiste zurück, sie hatte offenbar gelernt, den Menschen nicht unbesehen zu vertrauen. Lola kniete sich ruhig vor sie hin und hielt lautlos Zwiesprache mit ihr. Mir liefen die Tränen übers Gesicht, aus Mitleid und gleichzeitig aus Erleichterung, dass wir das Tier gefunden hatten. Timo hielt mich fest. „Lola macht das schon“, tröstete er mich. „Schau, die Hündin schnuppert bereits an ihrer Hand.“ In diesem Moment bog Mona in den Parkplatz ein. Patrick ging ihr entgegen. „Vielleicht hat sie eine Decke im Auto“, rief er über die Schulter zurück, „damit könnten wir die Hündin besser transportieren.“ „Und wohin bringen wir sie?“ fragte ich. „Zu Lolas Doktor“, sagten alle fast gleichzeitig, „wohin denn sonst? Ihr Doktor hilft immer.“ „Wartet noch“, rief Mona, die inzwischen von Patrick eingeweiht worden war und gestylt wie für eine Party über den Parkplatz stöckelte, „schiesst Fotos, bevor ihr sie aus der Kiste befreit. Morgen machen wir eine Anzeige bei der Polizei. Ich gehe rasch zu den nächsten Nachbarn, bitte um Wasser für das Tier und frage, ob jemand etwas gehört hat.“ Widerwillig musste ich tief innen zugeben, dass dies gute Ideen waren.

    Eine halbe Stunde später lag die Hündin in Lolas Armen, auf zwei aufgeschnittenen Plastiktüten als Unterlage, da Mona keine Decke im Auto gehabt hatte. Sie war zu schwach zum Gehen, doch mit dem Wasser waren ihre Lebensgeister wenigstens teilweise zurückgekehrt. Erst als wir den Transportkorb aufhoben, um ihn als Beweisstück mitzunehmen, sahen wir, dass ein Zettel daran baumelte: „Ich heisse Destiny, nimm mich mit!“ stand da krakelig geschrieben und, als Gipfel des Zynismus, war ein Herz daneben gezeichnet. Lola schnappte entsetzt nach Luft. „Hat hier jemand ein lebendiges Tier mit einem ausgedienten Möbelstück verwechselt?“ fragte sie fassungslos. Sie setzte sich vorsichtig mit Destiny auf den Hintersitz von Monas Auto, während wir den Korb und die Futterschüsseln im Kofferraum verstauten. Ihren Doktor hatte Lola bereits angerufen und auf unsere fragenden Mienen hin gesagt, dass er sie bereits in der Praxis erwarte. Mona hatte nicht mit einer ihrer langen Wimpern gezuckt, als Gestank ihr makelloses Auto erfüllte, weil Destiny die Plastikunterlage bereits wieder neu verschmiert hatte. Doch nun drängte sie zur Abfahrt und fuhr alsbald rasant die Strasse hinunter.

    Wir anderen sahen uns an, erleichtert und erschöpft. Jetzt, wo die Anspannung von mir wich, war ich plötzlich todmüde. Wir besprachen kurz die Idee, zusammen irgendwo etwas essen und vor allem trinken zu gehen, merkten dann jedoch, dass wir uns vor allem nach einer Dusche sehnten. So beschlossen wir, uns zu trennen und heim zu gehen. Timo und Patrick nahmen das nächste Tram stadteinwärts. Ich hatte beschlossen, zu Fuss zu gehen. Ich wohnte nicht weit weg und gehen half mir immer, meine Gedanken zu sortieren. Zu meiner Überraschung sagte Johanna, dass sie mich gern ein Stück begleiten würde. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Ich fand die junge Frau erfrischend und sympathisch und hätte unter normalen Umständen gern mit ihr geplaudert, doch jetzt war ich einfach zu müde und sie offenbar auch. Doch als sich unsere Wege an der übernächsten Kreuzung trennten und ich mich verabschieden wollte, schaffte sie es, dass ich mit einem Schlag wieder wach wurde. „Mona ist eine widersprüchliche Person mit schwierigem Charakter“, sagte sie plötzlich. „Doch wie du heute gesehen hast, ist im Notfall auf sie Verlass. Sie hat uns schon oft aus der Patsche geholfen.“ „Ja, das ist schön“, antwortete ich höflich. Ich hatte überhaupt keine Lust, nach diesem langen Tag ausgerechnet über Mona zu sprechen. „Du magst sie nicht, wie?“ fragte Johanna jedoch weiter. „Vor allem mag sie mich nicht, aus welchen Gründen auch immer. Du hast es ja gestern erlebt. Sei mir nicht böse, Johanna, ich möchte jetzt nach Hause gehen.“ „Ja natürlich“, sagte Johanna, blieb jedoch einfach stehen. Dann fing sie an, herum zu drucksen. „Es ist nur so….Mona vertraut mir am meisten.  Nun will sie, dass ich dir etwas ausrichte. Es sei sehr wichtig, doch niemand sonst dürfe davon wissen. Ich will es einerseits für sie tun, hasse andererseits den Gedanken, Heimlichkeiten zu haben vor den anderen.“ Johanna seufzte und zog einen Briefumschlag aus ihrer Handtasche. „Was bleibt mir anderes übrig. Hier, Wispy, und gute Nacht!“ Sie eilte über die Strasse und stieg ins nächste Tram ein.

    Ich hatte den Briefumschlag entgegen genommen, als ob es heisse Kohlen wären. Auch ich wollte keine Heimlichkeiten haben vor den anderen. Kurz überlegte ich mir, den Brief einfach in einem Abfalleimer zu entsorgen. „Ich werde es Timo so oder so erzählen, dieser Mona schulde ich keine Loyalität“, nahm ich mir stattdessen vor. Erst nachdem ich geduscht, gegessen und meine Bella gefüttert hatte, öffnete ich widerwillig den Umschlag. Darin befand sich nur eine Visitenkarte von Mona. Offenbar war sie Chefredakteurin einer Frauenzeitschrift, was mich nicht sehr verwunderte. Dort passte sie sicher perfekt hin. Ich drehte die Karte um und da stand in enger, zackiger Schrift: „Ruf mich an, ich muss unbedingt mit dir allein sprechen. Sag niemandem etwas davon.“ Die Worte „allein“ und „niemandem“ waren dreimal unterstrichen. „Du kannst mich mal“, dachte ich respektlos und überlegte mir, ob ich sogleich Timo anrufen sollte. Doch dann sah ich mein weiches, bequemes Bett und beschloss, erst mal eine Nacht darüber zu schlafen.

  • Destiny und die Zukunft

    -11-

    Am nächsten Morgen erwachte ich vom Läuten des Telefons. Jetzt, nachdem Destiny gefunden worden war, hatte ich gut geschlafen und selbst Bella hatte mich nicht wie üblich früh geweckt. Dies beunruhigte mich einen kurzen Moment lang und noch bevor ich den Hörer abnahm, vergewisserte ich mich, dass meine kleine Katze friedlich schlummerte und tief und gleichmässig atmete. Meine Ruhe hatte sich wohl auf sie übertragen.

    „Wenn Mona am Apparat ist, hänge ich gleich wieder auf“, nahm ich mir vor und freute mich sehr, stattdessen Lillys fröhliche Stimme zu hören. Ich hatte sie vermisst. „Möchtest du mich in die Tierarztpraxis begleiten?“ fragte sie. „Timo kommt später auch. Wir wollen besprechen, was mit der Hündin geschehen soll. Ich selbst habe sie noch gar nicht gesehen, da ich gestern nicht dabei sein konnte.“ Ich sagte zu und wir beschlossen, uns in einer Stunde zu treffen. Ich wurde fast ein wenig aufgeregt während ich duschte und mich bereit machte. Endlich würde ich diesen berühmten Doktor kennen lernen, von dem ich schon so viel gehört hatte. Ich war sehr gespannt auf ihn.

    Lilly umarmte mich herzlich zur Begrüssung. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Lola, welche ich bisher nur in dunklen, düsteren, tief ausgeschnittenen Kleidern gesehen habe, sah Lilly zauberhaft aus in ihrem luftigen, farbigen Sommerkleid.  Während wir vor der Praxis auf Timo und Buddy warteten, überlegte ich hin und her, ob ich Lilly von Monas Kontaktaufnahme erzählen sollte. Doch da ich keine Ahnung hatte, wie sie und Mona zueinander standen, liess ich es bleiben. Ohnehin tauchten kurz vor Timo  überraschend Patrick und Johanna auf und ich vergass Mona für den Moment. Als wir vollzählig waren, öffnete Lilly die Tür zur Praxis. Der Doktor kam uns strahlend und mit ausgestreckter Hand entgegen. „Ich freue mich sehr, endlich Lolas Freunde kennen zu lernen“, sagte er. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, dachte ich bei mir und musste schmunzeln. Dieser junge Mann gefiel mir sehr gut. Ich erwischte mich beim Gedanken, dass ich, wenn ich jünger wäre, wohl täglich einen Grund finden würde, um meine Katze zu ihm zu bringen. Er sah sehr seriös aus in seinem weissen Kittel, der einen Kontrast bildete zu seinen dunklen Haaren und Augen, doch um seinen Mund schien ständig ein amüsiertes Lächeln zu spielen. Lilly sah mich grinsend an. „Wow“, machte ich mit einer lautlosen Mundbewegung, so, dass nur sie es sehen konnte. „Ich weiss“, formten ihre Lippen zurück und sie blinzelte mir zu. Lola war im Nebenzimmer und kümmerte sich um Destiny. Nun brachte sie sie zu uns ins Untersuchungszimmer und setzte sie auf den Behandlungstisch. Die Hündin war kaum wieder zu erkennen. Ihr Fell war goldbraun und stand in luftigen kleinen Büscheln ab. Am runden Bäuchlein kringelten sich die Haare zu Locken. Ich verliebte mich augenblicklich in sie. Destiny schaute vorsichtig mit ihren ausdrucksvollen Augen in die Runde und wedelte ganz leicht mit dem Schwanz, drückte sich jedoch weiterhin schutzsuchend an Lola. Alle lachten, als Timo leicht an meinen Haarbüscheln zupfte. „Dein Hund, Wispy. Ihr habt offenbar bereits denselben Friseur.“ „Sagst ausgerechnet du“, witzelte Lilly. „Wenn man dich und Buddy von hinten sieht, denkt man, ihr seid Zwillinge.“ Timo schaute überrascht, ihm war dies offenbar gar nicht aufgefallen. Ich seufzte. „Ach, ich wünschte, ich könnte sie zu mir nehmen. Doch da ist Bella und ich weiss nicht, wie sie auf Hunde reagieren würde. Zudem ist deren Haltung in unserem Haus sowieso verboten. Eine ganze Hundefamilie könnte ich wohl schwer verstecken.“

    Während wir redeten, streichelten Lola und der Doktor Destiny ununterbrochen. Ihre Hände bewegten sich langsam und gleichmässig, ohne sich je zu berühren. Dies war offensichtlich nicht das erste Tier, welches von ihnen gemeinsam beruhigt wurde. „Destiny wurde wahrscheinlich von jemandem ausgesetzt, der erst auf der Reise bemerkt hat, dass sie trächtig ist. Bis zu den letzten Wochen, wenn der wachsende Bauch nicht mehr zu übersehen ist, kann es schwierig sein, zu erkennen, ob eine Hündin Junge erwartet“, erklärte der Doktor. „Sie trägt keinen Chip und kommt wahrscheinlich aus dem Ausland. Das Restaurant hatte zwei Tage zuvor noch geöffnet, vermutlich dachten Destinys Besitzer, dass sie am nächsten Morgen vom Personal oder den ersten Gästen gefunden würde. Nicht, dass es das besser macht! Doch zumindest wollten sie nicht ihren Tod, sonst hätten sie nicht Futter und Wasser zurückgelassen. Es geht Destiny den Umständen entsprechend zufriedenstellend. Sie war dehydriert und ausgehungert und braucht noch Pflege, doch sie ist soweit gesund und ihren ungeborenen Jungen scheint es ebenfalls gut zu gehen. Ich rechne mit drei bis vier Welpen, doch mit 100%iger Sicherheit konnte ich deren Anzahl per Ultraschall nicht feststellen. Dazu hätte ich Destiny unter Vollnarkose röntgen müssen, eine Strapaze, die ich dem armen Tier nun nicht auch noch zumuten wollte.“

    Ich beschloss auf der Stelle, den bedeutend längeren Weg in Kauf zu nehmen und meine Bella nur noch zu diesem Tierarzt zu bringen. „Schade habe ich keine Tochter“, dachte ich, „dies wäre mein Traumschwiegersohn.“ Lilly lächelte mich verschmitzt an, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte. Ich wurde verlegen und konzentrierte mich schnell auf Destiny. Die Frage war nun, wer kannte jemanden, der die Hündin aufnehmen würde? In ein Tierheim würden wir sie keinesfalls geben, da waren wir uns einig. Wir wollten sicher sein, dass sie eine schöne Zukunft vor sich hatte und wir wollten sie auch weiterhin sehen können.

    Offenbar ist es alles andere als einfach, einen Hund zu platzieren, erst recht eine trächtige Hündin. Wir gingen in Gedanken alle unsere Bekannten durch. Die einen hatten bereits einen Hund, andere durften keinen halten oder mochten Hunde nicht. „Für die Jungen finden wir sicher später gute Plätzchen“, meinte Lola, „ich kann hier in der Praxis ein kleines Plakat aufhängen. Doch für die ersten paar Wochen übernimmt man mit Destiny einen anspruchsvollen Fulltime-Job, dies kann nicht bestritten werden.“

    Wir fanden keine Lösung. „Ok“, sagte der Doktor schliesslich, „bitte bring Destiny wieder ins andere Zimmer, Lola. Mein nächster Patient wird jeden Moment hier sein. Morgen gehe ich meine Kundenkartei durch, vielleicht finde ich jemanden. Destiny kann ein paar Tage lang hier bleiben, die Geburt steht noch nicht unmittelbar bevor. Nachts nehme ich sie natürlich mit nach Hause, man weiss ja nie.“ Wenn er mein Herz nicht bereits erobert hätte, hätte er es jetzt getan. Auch die anderen schauten ihn dankbar an. „Wir werden heute Abend weiter diskutieren“, beschlossen alle einstimmig. „Wo?“ fragte ich und realisierte augenblicklich, dass dies für meine Freunde eine überflüssige und eigenartige Frage war. „Bei Mona natürlich. Soll ich dich abholen?“ fragte Timo. „Nein!“, entfuhr es mir lauter, als ich gewollt hatte. Ich meinte, nein, nicht bei Mona, doch Timo fasste es anders auf. „Auch gut, wenn du den Weg bereits selber findest, musst du dich zeitlich nicht festlegen. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du doch möchtest, dass dir jemand entgegen kommt. Nachtessen gibt es immer ungefähr um 19.00 Uhr.“

    Tief in Gedanken machte ich mich auf den Heimweg. Lilly hatte sich entschuldigt, sie hatte noch einiges zu tun an ihrem freien Tag. Timo und Patrick hatten beschlossen, zusammen Mittagessen zu gehen. Ich war schon fast bei meiner Tramhaltestelle angekommen, als ich plötzlich von einem Geschäft auf der anderen Strassenseite angezogen wurde, ohne zu wissen wieso. Ich ging hinüber und schaute mir die Schaufenster an. Es war eine kleine, antiquarische Buchhandlung mit unübersichtlicher Auslage. Da ich sehr gern lese, war ich interessiert, doch dies waren vor allem Fachbücher über Psychologie und Lebensführung. Daneben, was mir irgendwie unpassend schien, lagen einige Bücher über Zauberei. Ich wollte weitergehen, fühlte mich jedoch wie auf dem Gehsteig festgehalten, ohne zu verstehen wieso. Plötzlich bewegten sich auf einem der Bücher die Flügel eines Schmetterlings. Für einen kurzen Moment glaubte ich wirklich an Zauberei, denn ich hatte das zarte Flatterwesen für ein Foto auf dem Buchumschlag gehalten. Doch nun sah ich, dass es ein lebender Schwalbenschwanz war, der wohl unbemerkt in den Laden und ins Schaufenster geflogen war und den Weg zurück kaum mehr selber finden würde. „Na, hast du mich gerufen?“, fragte ich ihn. „Natürlich hole ich dich hier raus. Nach einer trächtigen Hündin nun ein Schmetterling“, dachte ich lächelnd.  „Ich backe neuerdings wohl kleinere Brötchen. Mir soll’s recht sein. Hunde haben wir für den Moment genug.“

    Als ich die ziemlich düstere und muffige Buchhandlung betrat, deren Tür beim Öffnen eine laute Melodie spielte, war ich sehr gespannt, wen ich da antreffen würde. Ich stellte mir einen alten, buckligen Mann vor, der womöglich gern durchschaubare Zaubertricks vorführte und war sehr überrascht, als mich eine Frau begrüsste, die wohl nicht viel jünger war als ich. Dies bemerkte ich jedoch erst auf den zweiten Blick, denn sie bewegte sich sehr lebhaft und war in farbenfrohem Stil angezogen. Wenn sie umher ging, flatterten eine Menge bunter, dünner Stoffe um ihren Körper. Ihre Haare waren zwar weissgrau, jedoch dicht, lang und wellig, was ihr ein jugendliches Künstleraussehen verlieh. Mit einem Schlag fühlte ich mich wie eine graue Maus, bieder und farblos. Ich würde besser in diesen staubigen, alten Laden passen als dieses farbenfrohe Geschöpf.

    „Kann ich behilflich sein, oder möchten Sie sich ein wenig umschauen?“ riss mich die Frau aus meinen Gedanken. Mir kam es vor, als ob sie mich kurz gemustert hätte und nun aus irgendeinem Grund enttäuscht sei. Dieses Gefühl wurde noch stärker, als ich ihr erklärte, dass ich nur den Schmetterling aus ihrem Schaufenster befreien wollte. Trotzdem war sie hilfsbereit und gab mir ein Blatt Papier, welches ich unter den Falter schieben konnte. Ich ging damit vor die Tür und sah zu, wie der Schwalbenschwanz augenblicklich steil und sehr zielstrebig gegen den Himmel flog. „Du willst wohl so schnell wie möglich weit weg, pass von jetzt an besser auf dich auf“, rief ich ihm noch nach. Nach kurzem Zögern ging ich in die Buchhandlung zurück und nahm nach einigem Stöbern ein schmales, bebildertes Bändchen über Schmetterlinge mit zur Kasse. Es war nicht so, dass Sommervögel nun mein neues Hobby werden sollten, doch ich wollte mich für die Hilfe bedanken, indem ich etwas Kleines kaufte. Ich blätterte das Büchlein kurz durch. Alle machen sich schön, dachte ich plötzlich beim Anblick der farbenfrohen Falter und beobachtete unauffällig die Buchhändlerin, die mir auch fast wie ein Schmetterling vorkam, wie sie sich leichtfüssig in ihren flatternden Stoffen durch den Laden bewegte. Meine eigenen Kleider waren durchs Band unauffällig, praktisch, bequem – und extrem langweilig, realisierte ich nun und nahm mir vor, mir wieder einmal ein paar neue Sachen zu leisten. Das Büchlein kostete nur ein paar Franken. Ich hätte gern ein Gespräch mit der Buchhändlerin  angefangen, doch sie blieb reserviert, wenn auch freundlich. Als ich mich zum Gehen wandte, hatte ich das Gefühl, dass sie insgeheim aufatmete.

    Monate später, als ich sie sehr gut kennen gelernt hatte, fragte ich sie einmal danach. Sie lachte und gestand mir, da sie zu jener Zeit soeben diese alte Buchhandlung von ihren Brüdern übernommen hätte, sei sie auf Umsatz angewiesen gewesen. „Ich wollte die Räume so schnell wie möglich renovieren und hell streichen lassen. Der abgetretene Boden musste ersetzt werden. Ich würde jemanden einstellen müssen, um Ordnung ins Lager und in den Laden zu bringen. Es gab nebenher viel Administratives für mich zu tun und ich hatte eingesehen, dass ich es nicht allein schaffen konnte. Ich wollte alles moderner, schöner, fröhlicher machen. Ich hatte viele Ideen und kein Geld. Damals dachte ich noch, es gehe ohne Bankdarlehen.“ „Und als ich reinkam…?“ fragte ich, doch ich konnte mir die Antwort denken. Sie legte mir entschuldigend die Hand auf den Arm und drückte ihn. „Du warst an dem Tag erst die zweite Kundin. Der erste war ein Student, der eine Stunde lang im Laden blieb, so dass ich nichts anderes erledigen konnte in dieser Zeit. Er sah sich viele Bücher an, las stellenweise darin und fragte mich schliesslich, ob ich an einem Tausch interessiert sei: seine alten Schulbücher gegen ein paar Zauberbücher. „Zaubern wird dir auch nicht durch die Prüfungen helfen“, versuchte ich zu scherzen, doch auf sein Angebot bin ich nicht eingegangen. Dann kamst du rein und sahst auch nicht nach Bücherwurm aus. Die schauen nämlich nicht mich so genau an, sondern steuern direkt auf die Bücher zu. Ich hatte richtig geraten: Du wolltest nur einen Schmetterling retten. An diesem Morgen realisierte ich frustriert, dass dieses Antiquariat ein schönes Hobby für meine Brüder gewesen war, doch wenn es etwas abwerfen sollte, würde ich viel ändern müssen. Ich fühlte mich von diesem Gedanken überfordert und hatte leider nicht meine beste Laune.“

    Als ich an jenem Tag mit dem Büchlein in der Tasche nach Hause fuhr, hatte ich die Buchhandlung jedoch bald wieder vergessen. Ich hatte absolut keine Lust, später zu Mona zu fahren, doch verpassen wollte ich die Gespräche über Destiny ebenfalls nicht. Ich fühlte mich für diese Hündin verantwortlich, schliesslich hatte sie mich ausgesucht für ihren Hilfeschrei. Zumindest hatte ich ihn als erste empfangen. Ich konnte sie jetzt nicht ihrem Schicksal überlassen. Nach einigem Hin und Her  gab ich schliesslich Timo Bescheid, dass ich erst nach dem Essen kommen würde. So wenig Zeit mit Mona verbringen wie möglich, nahm ich mir vor, bis sie realisieren würde, dass ich nicht im Traum daran dachte, sie hinter dem Rücken meiner Freunde anzurufen.

    Ich hörte ihre Stimme bereits von weitem, als ich am Abend aufs Haus zuging. Offenbar war eine hitzige Diskussion im Gange. Mona tönte schrill.  „Auf gar keinen Fall! Ich will keinen Hund im Haus und schon gar nicht Hunde, Mehrzahl. Schliesslich arbeite ich Vollzeit. Es ist mir egal, wie gut ihr euch das ausgedacht habt, die Hauptarbeit würde trotzdem an mir hängen bleiben.“ Als sie mich um die Ecke kommen sah, hörte Mona auf zu reden. Während mich alle anderen begrüssten, schwieg sie und schaute finster ins Feuer. Es waren mehr Leute in der Runde als das letzte Mal, ich kannte sicher die Hälfte davon nicht. „Gut“, sagte Timo, als ich mich gesetzt hatte, „wir brauchen ein neues Brainstorming.“ „Gut“ nennst du das“, murrte Patrick leise, der offenbar meine Antipathie für Mona teilte. Wir tauschten einen raschen, verschwörerischen Blick aus. Leider war zwei Stunden später noch immer keine Lösung gefunden. Wir hatten alle Freunde und Bekannte angerufen, doch niemand war bereit, eine trächtige Hündin zu übernehmen. Einige sagten nein wegen ihrer Katzen oder den kleinen Kindern, andere weil sie allergisch auf Tierhaare reagierten oder, wie Timos Eltern, weil sie gerade eine längere Reise gebucht hatten. Viele wollten zeitlich unabhängig bleiben oder waren schlicht zu wenig zu Hause, um sich angemessen um ein Tier kümmern zu können. Als Mona ihre Zigarettenpause auf der Terrasse machte, zeigte Timo mit dem Kopf auf sie und sagte nachdenklich: „Vielleicht können wir sie überzeugen, indem wir ihr mehr konkrete Hilfsangebote machen.“ Sofort kamen viele Ideen zusammen. Alle würden mithelfen, den Hunden einen umzäunten Auslauf zu bauen hinter dem Haus. Albert wäre sicher einverstanden, die Tiere am frühen Morgen zu füttern und bei gutem Wetter ins Freie zu lassen. Mit einem Wochenplan könnten wir sicherstellen, dass an jedem Vormittag jemand von uns bei den Hunden wäre. „Albert hat seine Tour meistens kurz nach Mittag beendet“, wusste Patrick. „Er schaut bestimmt zu den Tieren, bis wieder einer von uns da ist. Wenn die Welpen erst platziert sind, wird es sowieso einfacher. Dann können wir Destiny tagsüber mitnehmen.“

    Als Mona sich wieder zu uns gesetzt hatte, hörte sie sich diese Vorschläge schweigend an.  „Du hättest kaum Arbeit mit den Hunden, Mona, und du hast doch so ein gutes Herz“, schmeichelte Timo. Patrick und ich tauschten einen weiteren Blick aus und verdrehten die Augen. „Wenn die Welpen gross genug sind, finden wir gute Plätze für sie“, fuhr Timo fort. Vielleicht magst du Destiny dann behalten, sonst bleibt sie bei einem von uns.“  Alle nickten begeistert, nur Mona schüttelte hartnäckig den Kopf. „Ich mache viel für euch, doch Hundehaare in der Wohnung und wenn möglich auf meinen Kleidern kann ich nicht gebrauchen. Auch dieser Sommer wird vorbeigehen und einen Hund im Winter ausschliesslich im Freien zu lassen, halte ich für Tierquälerei. Zudem ist mir meine Nachtruhe heilig. Da hört für mich der Spass auf. Also: nein! Sucht eine andere Lösung.“ Damit stand sie auf, stellte energisch und mit viel Geklirr das benutzte Geschirr zusammen und trug es ins Haus.

    Rundum enttäuschte Gesichter, niemand sagt etwas. Alle schauten Timo an. Er schüttelte den Kopf und sagt schliesslich leise: „Ich glaube nicht mehr daran, dass wir Mona überreden können. Ihre Meinung scheint festzustehen.“ Schweigend tranken wir den Kaffee, den Johanna uns geholt hatte. Es wurde kühler. Ich ging ins Haus, um meine Jacke zu holen und erschrak richtig, als plötzlich Mona vor mir stand. „Hast du jemandem davon erzählt?“ zischte sie, und es war klar, wovon sie sprach. „Nein, doch ich habe absolut nicht im Sinn, mit dir allein zu reden“, gab ich ärgerlich zur Antwort. Mona war mir an diesem Abend nicht sympathischer geworden. Nun drehte sie sich wortlos um und stöckelte Richtung Sitzplatz. Ich benutzte das Badezimmer, bevor ich ebenfalls langsam zu den Freunden zurück ging, um mich verabschieden und danach heimzufahren. „Ich habe es ihnen bereits erzählt“, rief mir Mona stattdessen entgegen, „dass du mir die Hunde vorhin so überzeugend ans Herz gelegt hast, dass ich es mir doch nochmals überlege.“ Während ich verwirrt versuchte zu verstehen, was sie meinte, schauten mich alle hoch erfreut an und klatschten. Und so sah niemand ausser mir, wie Mona mich direkt ansah, spöttisch fragend ihre Augenbrauen hochzog und mit der linken Hand die Geste fürs Telefonieren machte. Dann drehte sie die offenen Handflächen gegen den Himmel und zuckte mit den Schultern. Es war klar, dass sie ihre Antwort von mir abhängig machen würde. „Ich habe Wispy jedoch erklärt, dass ich definitiv ihre Hilfe brauchen werde. Schliesslich hat sie mich zur Hundehaltung überredet, sie soll auch etwas beitragen. Zeit hat sie bekanntlich. Wenn sie also ja sagt…“ warf Mona mit harmloser Stimme in die Runde. Mir blieb die Luft weg angesichts so viel Kaltschnäuzigkeit. Sie fragte mich doch tatsächlich vor allen, doch nur ich wusste, was sie wirklich meinte. „Du siehst völlig überrumpelt aus, Wispy“, sagte Timo und umarmte mich. „Du hättest offenbar selbst nicht erwartet, dass ausgerechnet du Monas Herz erwärmen kannst. Wir auch nicht, ehrlich gesagt. Du hilfst ihr doch, oder? Wie wir alle?“ Ich sah in seine strahlenden, glücklichen Augen, sah die goldbraungelockte Destiny vor mir mit Lola und ja, auch dem attraktiven Tierarzt. Diese drei schienen mich ebenfalls erwartungsvoll anzusehen. Mir war klar, dass Mona gewonnen hatte. „Wie könnte ich da nein sagen“, murmelte ich und versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen.

    „Wenn Blicke töten könnten“ klang plötzlich wie eine Herausforderung, die ich nur zu gerne angenommen hätte.

  • Mona oder die Kröte

       -12-

    Ich habe mal gelesen, dass man die Kröte am Morgen schlucken soll, damit das Unangenehmste des Tages gleich aus dem Weg geräumt ist. Während ich nach dem Frühstück mein Telefon in den Händen drehte, versuchte ich mir Mona als dicke Kröte vorzustellen. Doch da ich alle Tiere liebe, wollte es mir nicht gelingen. Der Teil mit dem Schlucken sowieso nicht. „Es wäre ohnehin ein beleidigender Vergleich“, dachte ich schliesslich, „beleidigend für die Kröte.“

    Seufzend wählte ich die Nummer auf der Visitenkarte, die Mona mit Kugelschreiber eingekreist hatte. Ich hatte ein paar kurze Sätze einstudiert. Mona sollte mir sagen, was sie zu sagen hatte; und mich danach für immer in Ruhe lassen. Als der Hörer auf der anderen Seite abgehoben wurde, holte ich tief Luft und war bereit für meine Rede, wurde jedoch sofort ausgebremst, da Monas Assistentin am Apparat war. Kühle Business-Stimme. Im Hintergrund klingelten weitere Geräte, viele Leute sprachen gleichzeitig, es hörte sich nach lebhaftem Grossraumbüro an. „Frau Wagner ist ausser Haus, doch ich habe eine Nachricht für Sie“, sagte die Assistentin sofort, nachdem ich mich vorgestellt hatte. „Sie wird Sie um 14.00 Uhr beim Brunnen auf dem Lindenhof treffen.“ Ich wollte Mona nicht sehen und fand zudem diese Zeitvorgabe eine Frechheit. „Und wenn mir das nicht passt?“ fragte ich,  schnippischer als gewollt. Die junge Frau hatte sicher keinen angenehmen Job. Plötzlich wusste ich, an wen mich Mona vom ersten Moment an erinnert hatte: An die arrogante Chefin aus dem Film „Der Teufel trägt Prada.“ Selbst äusserlich gab es da gewisse Parallelen. Doch ihre Assistentin war offenbar kein kleines, verschupftes Ding. „Da kann ich Ihnen nicht helfen“, sagte sie mit deutlich hörbarer Gereiztheit in der Stimme, „Frau Wagner ist bei Modeaufnahmen und darf nicht gestört werden. 14.00 Uhr auf dem Lindenhof, soll ich Ihnen ausrichten. Schönen Tag noch.“

    Im Laufe des Vormittags summte mein Telefon mehrmals mit begeisterten Textmitteilungen meiner jungen Freunde, die Destinys Zukunft planten und mir dazu gratulierten, Mona umgestimmt zu haben. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich gegen 14.00 Uhr auf den Weg zum Lindenhof zu machen. Ich wählte den versteckten, steilen kleinen Weg von der Fortunagasse her, damit ich nicht sofort vor Mona stehen würde. Ich liebte diesen idyllischen Platz mitten in der Stadt Zürich, mit seinen schönen, alten Bäumen und der wunderbaren Aussicht auf Limmat und Altstadt. Musste Mona mir die Freude daran verderben? Sie war bereits da, ich sah sie von weitem. Sie rauchte und ging nervös vor dem Brunnen hin und her. Ihre Anspannung war offensichtlich, sogar über die Distanz. Ich liess das Bild einen Moment lang auf mich wirken: Selbst die Brunnenfigur, bestehend aus einer geharnischten Frauengestalt zu Ehren der tapferen Zürcherinnen, die 1292 in Kampfmontur das Heer von Herzog Albrecht von Österreich abgeschreckt hatten, wirkte friedlich im Gegensatz zu Mona. „Um schonendes Anhalten wird gebeten“ – plötzlich hatte ich diesen Satz im Kopf, den sie in den Medien jeweils verwenden, wenn eine verwirrte Person gesucht wurde. Ich musste unwillkürlich lachen, gab mir einen Ruck und ging zu Mona.

    „Hier bin ich. Sag, was du zu sagen hast, aber schnell, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ „Schonend“ konnte man dies nicht nennen, doch es war wirkungsvoll. Da ich Mona von hinten angesprochen hatte, fuhr sie vor Schreck zusammen, drückte ihre Zigarette unter dem Absatz aus und blieb stehen. Langsam drehte sie sich um. Zu meiner Überraschung sah sie aus, als ob sie geweint hätte. „Es tut mir leid Wispy, ich weiss wirklich nicht, mit wem ich sonst darüber sprechen könnte. Können wir uns setzen?“ Schweigend gingen wir zur nächsten Bank. Ich fand die offenbar aufgewühlte Mona fast noch unangenehmer als die zickige Version. Keinesfalls wollte ich ihre Vertraute werden und hoffte, das Gespräch nachher schnell wieder vergessen zu können. Als Mona schwieg, fing ich an, mit den Fingern auf die Bank zu trommeln. „Also?“ fragte ich nach einer Weile gereizt; und Mona holte tief Luft. Es tönte etwas zittrig wie ihre Stimme.

    „Timo hat mir seine neue Freundin Helene vorgestellt“, sagte sie schliesslich. Ich fühlte einen kleinen Stich der Eifersucht. „Schön für dich“, sagte ich mit möglichst gleichgültiger Stimme, „uns anderen gegenüber macht er bekanntlich ein grosses Geheimnis daraus.“ „Das ist so“, bestätigte Mona, „ er tut dies wegen den Schwestern. Timo weiss natürlich, was die beiden für ihn empfinden. Er hat Lola und Lilly sehr gern, doch nicht auf diese Weise. Lola ist für ihn eine Art Seelenverwandte mit ihrer Fähigkeit, die Tiere zu verstehen, während Lilly vor allem seine Beschützerinstinkte weckt. Er fühlt sich eher wie ein grosser Bruder der beiden. Selbst wenn es anders wäre, könnte er sich nicht für eine der jungen Frauen entscheiden, ohne einen grossen Zwist herbei zu führen. Mit dieser Freundin wird er die beiden zwar enttäuschen, jedoch nicht gegeneinander aufbringen. Er überlegt sich noch, wie er Helene am besten in die Gruppe einführen soll, um möglichst niemanden zu verletzen. So ist er halt, mein Sohn.“ „Wunschsohn, Mona“, berichtigte ich. Sie drehte sich um und schaute mir voll ins Gesicht. „Wispy, Timo ist mein Sohn.“ „Oh Gott“, dachte ich, „jetzt wird es wirklich übel. Mona ist komplett übergeschnappt. Wie hält man die irren Gedanken einer Person schonend an?“ „Mona“, sagte ich nach kurzem Nachdenken vorsichtig, „du hast dich da in etwas hineingesteigert. Timo sagt selbst, dass du dir einen Sohn wie ihn gewünscht hättest. Doch du bist nun mal nicht seine Mutter. Diese heisst Dawn und ist ursprünglich Engländerin. Timo ist sehr stolz auf sie, er erzählt viel von ihr und ich habe auch Fotos gesehen.“ Und, als Mona nicht gleich antwortete: „Wenn das alles war, würde ich jetzt gern gehen.“ Ich war aufgestanden und nahm meine Jacke von der Bank. „Dawn hat Timo aufgezogen und er nennt sie Mutter“, sagte Mona mit leiser Stimme gegen meinen Rücken, „doch glaub mir, zur Welt gebracht habe ich ihn. Leider weiss ich nicht, was er von seiner frühesten Kindheit weiss, was ihm von mir erzählt wurde. Ob ihm überhaupt von mir erzählt wurde. Ich weiss nicht, wie er über die Frau denkt, die ihn als Baby aufgegeben hat. Möchte er sie kennen lernen? Oder verachtet er sie so sehr, dass ihn ihre Seite der Geschichte gar nicht interessiert? Das sollst du für mich herausfinden.“ Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich und setzte mich wieder.

    Mona schaute nachdenklich auf die Limmat, als sie nach einer Weile zu erzählen begann: „Ich war sehr jung damals, jung und dumm, als ich Timos Vater Gian-Luca kennen lernte. Zwar war er ein paar Jahre älter als ich, doch sein italienischer Charme und sein Draufgängertum gefielen mir. Ich war noch dabei, meine Wirkung auf Männer auszuprobieren und sein Interesse schmeichelte mir. Ich hatte längst nicht so viel Erfahrung, wie ich vorgab, nur eine kurze Beziehung mit einem gleichaltrigen Jungen, der mir rückblickend kindisch und unreif vorkam. Gian-Luca hatte leichtes Spiel mit mir. Als das Thema Verhütung aufkam, versicherte ich ihm, dass ich die Pille nehme und zog die angefangene Packung aus der Handtasche. Dass ich wegen der Gewichtszunahme durch die Hormone schon länger keine Pille mehr geschluckt hatte, verschwieg ich. Ich sage ja…jung und dumm. Ausser Kleidern, Make-up und Partys hatte ich nicht viel im Kopf. „Warum überrascht mich das nicht?“ dachte ich bissig. Doch ich schwieg. Mona fuhr fort: „Ich wurde sofort schwanger. Meine Eltern machten mir endlos Vorwürfe und wollten mich zu einer Abtreibung drängen. Gian-Luca war geschockt und wütend, dass ich ihn quasi hereingelegt hatte, seine Verliebtheit war auf einen Schlag wie weggeblasen. Auf das Kind freute er sich dennoch sehr, er ist ein emotionaler Italiener wie er im Buche steht, ein richtiger Familienmensch. Für das Kind wollte er denn auch mit mir zusammen bleiben. Ich brach den Kontakt zu meinen Eltern ab und hoffte, ich könnte mit der Zeit Gian-Lucas Liebe zurückgewinnen. Ich zog zu ihm.

    Hatte ich es am Anfang noch irgendwie romantisch gefunden, ein Baby von meinem Freund zu erwarteten, verlor sich dieses Gefühl so schnell wie mein Bauch wuchs. Ich war erst dabei gewesen, meinen nun erwachsenen Körper richtig kennen zu lernen, nun fühlte er sich wie besetzt an. Rauchen war verboten, Alkohol trinken, ausgehen, Party machen…nichts durfte ich mehr, es ging nur noch darum, was das ungeborene Kind brauchte, 24 Stunden am Tag. Ich fühlte mich vernachlässigt. Ich hasste die Schwangerschaftskontrollen. Wenn die Ärztin mit diesem forschen „Dann wollen wir mal…“ ihre Untersuchungshandschuhe anzog, wäre ich am liebsten schreiend davongelaufen. Das wachsende Kind auf dem Ultraschallmonitor zu beobachten, gefiel mir jedoch. Ich stellte es mir dann irgendwo da draussen vor, in Sicherheit und Geborgenheit; dass es in Wirklichkeit in mir wuchs und ich dafür verantwortlich war, konnte ich für den Moment einfach ausblenden. Ich liebte dieses werdende Baby und wollte sein Bestes, doch nicht auf meine Kosten. Ich weiss, das tönt fürchterlich. Ich war selber noch ein Kind. Nicht nur das, sondern eine verwöhnte, egozentrische Göre dazu.“

    Ich musste mir heftig auf die Zunge beissen, um diesen letzten Satz unbeantwortet stehen zu lassen. Mona zündete sich eine neue Zigarette an. Wir schwiegen beide. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben konnte, doch wer würde so etwas erfinden? Mona wäre allerdings fähig dazu, aus was für Gründen auch immer, dachte ich gerade, als sie weiterfuhr. „Als Timo auf der Welt war, liebte ich ihn sehr, doch das Gefühl der Verantwortung erschlug mich  fast. Ich hatte keine Freundinnen mit Kindern, bei denen ich mich hätte aussprechen können. Mein Körper war mir unheimlicher denn je mit diesem leeren Bauch, der noch fast so gross war wie vor der Geburt, dem schmerzhaften, schlecht heilenden Dammschnitt und dem Milcheinschuss. Ich war mir fremd geworden. Tagsüber war ich unglücklich und überfordert mit dem schreienden Säugling und dem Haushalt, und abends, wenn Gian-Luca zuhause war, machte mich sein lockerer und entspannter Umgang mit Timo eifersüchtig und neidisch. Bei ihm schrie der Kleine nur selten, ihm schenkte er sein erstes, zahnloses Lächeln, ihm folgte er mit seinen Blicken, selbst wenn er in meinem Arm lag.

    Ich stillte Timo früh ab und fing an, so oft wie möglich mit ihm zusammen aus dem Haus zu gehen. Sobald er im Kinderwagen eingeschlafen war, setzte ich mich in ein Café und hoffte auf etwas Ruhe. So war ich eine leichte Beute für Alois, einen älteren, wohlhabenden Österreicher auf der Suche nach einer jungen Geliebten. Indem er auf mich einging, mir zuhörte, mich in den Mittelpunkt stellte und das Baby so gut wie möglich ignorierte, fühlte ich mich endlich wieder begehrenswert. Ich fing an, Timo für ein paar Stunden bei benachbarten Müttern zu lassen, indem ich vorgab, einen wichtigen Arzt- oder Zahnarzttermin zu haben. Ich liess mich auf Alois ein. Wenn ich in seiner schönen, aufgeräumten Wohnung war, war dies wie ein zweites, anderes Leben für mich und ich fühlte mich selbst wieder schön. Doch das schlechte Gewissen begleitete mich ständig. Ich musste immer neue Mütter finden, die mein Baby hüteten, damit nicht auffiel, wie oft ich weg war. Timo lernte früh, sich immer wieder auf andere Leute einzustellen. Vielleicht entwickelte er dadurch seine telepathischen Fähigkeiten. Die Grossmütter kamen als Babysitter nicht in Frage, da ich auf keinen Fall wollte, dass meine Affäre aufflog. Genau dies passierte dennoch. Ich hätte es wissen müssen.

    Scheinbar fanden es die Mütter der Umgebung nicht so toll, dass ich mein Kind ständig bei ihnen liess, mich im Gegenzug jedoch nie anerbot, ihre Sprösslinge zu hüten. Dies kam Gian-Luca zu Ohren. Ich mache es kurz: nachdem er alles erfahren hatte, warf er mich aus dem Haus und seine Mutter zog vorübergehend ein, um nach Timo zu schauen. Alois nahm mich auf. Nun hatte ich, was ich mir gewünscht hatte; einen stressfreien Alltag im Luxus ohne die Verantwortung für ein Kind. Doch schon bald vermisste ich Timo und Gian-Luca schmerzlich. Eigentlich hätte ich nur etwas Ruhe und ein paar ungestörte Nächte gebraucht. Ich durfte meinen Sohn jederzeit besuchen und machte am Anfang oft Gebrauch davon. Allerdings wurde mir nicht erlaubt, den Kleinen allein mit nach draussen nehmen. Ich war nur geduldet, in frostiger Atmosphäre. Gian-Luca ging mir möglichst aus dem Weg und seine Mutter murmelte immer etwas Böses vor sich hin, während sie mich mit vorwurfsvollem Blick anschaute.

    Bald darauf lernte Gian-Luca Dawn kennen. „Dawn“ heisst – „‘die Morgenröte‘, ich weiss“, fiel ich ihr ins Wort. „Oder ‚das Morgengrauen‘“, fuhr Mona fort, „so nannte ich sie bei mir, denn ein Grauen wurden ab dann die Besuche für mich. Die neue Freundin wohnte schon bald im Haus und verwöhnte Timo nach Strich und Faden. Sie war ihm eine fröhliche, warmherzige, aufmerksame Vorbildmutter, das genaue Gegenteil von mir. Dawn wurde mein personifiziertes schlechtes Gewissen. Mich behandelte sie korrekt, doch ohne jede Spur von Freundlichkeit. Ich weiss, man kann es ihr nicht verübeln. Als Timo anderthalb Jahre alt war, fing er an zu fremden und klammerte sich schreiend an Dawn, wenn ich ihn auf den Arm nehmen wollte. Es war offensichtlich, dass meine Anwesenheit die perfekte kleine Familie stresste und alle froh waren, wenn ich wieder ging. Meine Besuche wurden seltener.

    Als Gian-Luca und Dawn heirateten und offiziell das Sorgerecht für Timo beantragten, hatte ich keine Chance. Ich musste froh sein, dass nicht alle meine Unterlassungen auf den Tisch kamen. Zudem sicherten mir die beiden ein unbeschränktes Besuchsrecht zu, was sich vor Gericht gut machte. In Wirklichkeit waren sie erleichtert, dass ich immer seltener bei ihnen auftauchte und schliesslich ganz weg blieb. Später adoptierten sie Timo. Da ich mich nicht ernsthaft um das Kind gekümmert hatte, so das Beamtendeutsch, hatte ich dazu nichts zu sagen.  Aus Trotz hatte ich in der Zwischenzeit Alois geheiratet, obwohl er mich zu dem Zeitpunkt bereits tödlich langweilte. Umgekehrt war dies wohl auch der Fall, denn Alois sass schon bald wieder in den Cafés, auf der Suche nach einsamen jungen Frauen. Ich hätte Timo auch jetzt kein Zuhause bieten können, mein Mann mochte keine Kinder. Unsere Ehe hielt nicht lange, doch wir trennten uns in Freundschaft. Ich war erwachsen geworden. Meine Oberflächlichkeit und Leichtlebigkeit hatten einer deprimierten Ernüchterung Platz gemacht. Ich war noch keine 22 Jahre alt, geschieden, ohne abgeschlossene Ausbildung und mit einem Kind, welches ich schmählich im Stich gelassen hatte und nicht sehen konnte. Ich war nicht stolz auf mich.

    Alois beschloss, nach Österreich zurück zu kehren, doch er wollte mich nicht so perspektivlos zurück lassen. Da wir nur kurz verheiratet gewesen waren, musste er mir trotz seines Vermögens nur für wenige Jahre Unterhalt bezahlen. Durch seine Beziehungen schaffte er es jedoch, mich bei der Frauenzeitschrift als Praktikantin unterzubringen, die ich heute leite. Bevor Alois die Schweiz endgültig verliess, überschrieb er mir das Haus am Waldrand, als Dank dafür, dass ich ihm die Scheidung so einfach wie möglich gemacht hatte. Und aus Respekt davor, wie hart und zuverlässig ich nun arbeitete für meinen winzigen Lohn.

    Mehrere Jahre lang hatte ich das Glück, dass eine ehemalige Nachbarin den Kontakt zu mir Aufrecht erhielt. Sie war jung wie ich und hatte ein gewisses Verständnis für meine Situation. Sie berichtete mir ab und zu, wie Timo sich entwickelte. Manchmal gab es sogar ein Foto, aufgenommen auf dem Spielplatz oder an einem Quartierfest. Dann zog die Nachbarin weg und ich versuchte immer wieder, Timo wie zufällig über den Weg zu laufen, wenn er aus der Schule kam. Es gelang mir nicht allzu oft und wenn, war er von einer Gruppe anderer Jungs umgeben und erkannte mich nicht. Ich versuchte, ihn zu vergessen und kniete mich in meine Arbeit.“

    Mona hatte mich während dem Sprechen nicht angesehen. Nun drehte sie sich zu mir: „Hast du Kinder, Wispy?“ „Ich habe einen tollen Sohn, eine süsse Enkeltochter und eine sehr geliebte Schwiegertochter…“ Eine Welle von Sehnsucht nach den dreien stieg in mir hoch und ich konnte für den Moment nicht weiter sprechen. Mona sah mich fragend an. „Sie wohnen in Rom und ich sehe sie nur selten“, seufzte ich. „Dann muss ich dir nichts erklären“, sagte Mona und tönte fast zufrieden, „sein eigenes Kind zu vergessen, auch wenn es bereits erwachsen ist, ist unmöglich. Es ist, als versuchte man das Atmen zu vergessen. Es geht nicht.“ Wir schwiegen eine Weile und beobachteten die Spatzen, die sich lauthals um ein zerdrücktes Stück Sandwich auf dem Boden stritten. „Wie hast du den Kontakt zu Timo wieder aufgenommen?“ fragte ich schliesslich. „Ich hatte mir alle möglichen Szenarien ausgedacht, doch da ich nicht wusste, ob Timo von mir wusste, liess ich alle Ideen nach und nach wieder fallen. Dann kam mir an Ostern vor drei Jahren der Zufall zu Hilfe. Ich hatte mit einer Freundin in einem gepflegten Restaurant zu Mittag gegessen und ging soeben auf den Vorplatz, um eine Zigarette zu rauchen, als ein kleiner Transporter auf den Platz fuhr. Vier junge Männer sprangen heraus und holten aus dem Anhänger zwei süsse kleine Lämmchen und ein Zicklein. Vorsichtig nahmen drei von ihnen je ein Tierbaby auf die Arme und gingen ins Restaurant, ich neugierig hinterher. Der vierte junge Mann blieb im Auto sitzen, bei laufendem Motor.

    Die Männer gingen mit den leise blökenden Tieren zwischen den Tischen durch und fragten: „Wie viele Portionen Lamm oder Zicklein braucht es noch? Wer wartet noch auf sein Essen? Wir bringen diese drei gleich in die Küche zum Schlachten.“ Dabei kraulten sie die kleinen Köpfchen und flüsterten den Tieren etwas ins Ohr. Die Reaktion der Gäste war erstaunlich. Obwohl sie genau diese Tiere auf ihren Tellern hatten – wie auch ich zuvor – fingen einige Frauen an zu schreien und zu weinen und die Männer schienen durchs Band unangenehm berührt. Eine Frau rannte aufs Klo. „Was habt ihr denn?“ fragten die jungen Männer verwundert, „dachtet ihr, das Fleisch auf euren Tellern sei auf Bäumen gewachsen? Keine Angst, diese Kleinen können sich nicht wehren, wenn sie gleich für euch sterben.“  Die Kellnerin rief laut nach dem Wirt. Dieser kam aus der Küche und befahl den Männern, sofort das Restaurant zu verlassen. Doch sie machten in aller Ruhe ihre Runde um die Tische fertig. „Die haben hier ohnehin Hausverbot, ich rufe die Polizei“, versicherte der Wirt den Gästen. Daraufhin verliessen die jungen Männer das Restaurant und luden die jungen Tiere behutsam wieder in den Anhänger. Ich stand immer noch bei der Eingangstür. „Schreib die Autonummer auf“, rief der Wirt seiner Angestellten zu, die daraufhin zur Tür gelaufen kam. Doch ich nahm ihr Zettel und Stift aus der Hand und behauptete, die Nummer hätte ich mir bereits gemerkt. Während der Wagen wegfuhr, schrieb ich irgendwelche Zahlen auf. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass ich seither einen weiten Bogen um dieses Restaurant mache.“ Sie schwieg. „Einer der Männer war also Timo?“ fragte ich schliesslich. Erst jetzt merkte ich, dass Mona um ihre Fassung rang. „Mir liefen die Tränen übers Gesicht“, sagte sie schliesslich leise. „Doch dies fiel im allgemeinen Durcheinander nicht auf, mehrere Gäste hatten immer noch feuchte Augen. Auch wenn mir der Anblick der schutzlosen Tierbabys ebenfalls eingefahren war und ich das Bild bis heute nicht mehr aus meinem Kopf bringe, weinte ich aus einem anderen Grund. Der Fahrer und ich hatten einen kurzen Blick gewechselt. Ich hatte ihn sofort erkannt. Es war mein Sohn.“

    „Danach war es ziemlich einfach“, erzählte Mona weiter. „Ich habe das Internet, Twitter und Facebook nach Tierschutzaktivitäten durchsucht und bin überall hingegangen. Meist nur als Zuschauerin, doch ab und zu bin ich mit einbezogen worden und eines Tages stand plötzlich Timo vor mir. Es war eine legale, bewilligte Aktion gegen das Tragen von echtem Fell, und so machte ich Timo das Angebot, ein Interview mit ihm in meiner Zeitschrift zu bringen. Ich versprach ihm, dass wir danach keine Werbung mehr für Pelzmode drucken würden. Zum Glück bin ich in der Position, dies zu entscheiden. Timo sagte zu und nach dem Interview erzählte ich ihm die Geschichte von der falschen Autonummer. Er dankte mir, konnte sich jedoch nicht an mich erinnern. Ich beschrieb ihm mein Haus und machte das Angebot, seine Freunde und er dürften sich dort treffen und ihre Aktionen planen. Ich glaube, er fand mich ein wenig seltsam. Es brauchte denn auch einen kleinen Notfall, bis die Gruppe wirklich anfing, mein Haus zu nutzen.“  Wenn das wahr ist“, fragte ich, noch immer misstrauisch, „wie kommt es, dass Timo deine Gedanken nicht aufgefangen hat? Wir wissen doch alle, dass man nichts lange vor ihm verheimlichen kann.“ „Zum Glück erwähnte Timo im Interview etwas in dieser Richtung“, sagte Mona. „Wie weit es wirklich geht, wusste ich damals noch nicht. Doch ich machte es sofort zu meiner Angewohnheit, an Timo als den Sohn zu denken, den ich gern gehabt hätte. Ich glaube, ich bin damit durchgekommen.“

    „Und warum soll ich ihn jetzt über seine Vergangenheit ausfragen? Warum hast du es nicht längst über jemand anderes versucht?“, fragte ich. „Ich war lange Zeit einigermassen zufrieden mit der Situation“, erklärte Mona. „Ich konnte Timo sehen, hören, an seinem Leben teilnehmen. Doch ich musste einen gewissen Abstand halten, denn der Gedanke, wie er reagieren würde, falls er die Wahrheit herausfände, beschäftigte mich bis in meine Träume. Letzten Endes verarschte ich ihn ja eigentlich.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Und dann kam er mit dir an. Er geht anders um mit dir als mit den jungen Frauen, sehr locker, sehr entspannt. Er muss offenbar nicht aufpassen, was er in deiner Gegenwart sagt. Und du ebenfalls nicht. Ich habe dich glühend um eure ungezwungene Nähe beneidet.“ „Deshalb also die Giftelei“, konnte ich mir nicht verkneifen zu bemerken. Sie grinste. „Genau, und es wäre wohl dabei geblieben, hätte er mir nicht kurz darauf Helene vorgestellt.“ „Was ändert denn das?“ wunderte ich mich, worauf sie ungeduldig ausrief: „Alles! Bist du schwer von Begriff, Pusteblume?“ Monas schwacher Moment schien vorbei zu sein. „Stell dir vor, er heiratet diese Frau und sie gründen eine Familie“, fuhr sie fort. „Falls er etwas von mir weiss und mir verzeihen könnte, denkst du nicht, das wären Momente, die er gern mit seiner leiblichen Mutter teilen würde? Es könnte doch sein, diese Hoffnung lasse ich mir nicht nehmen. Ich muss natürlich auch mit dem Gegenteil rechnen, doch dann wüsste ich, woran ich bin und hätte zumindest die Erinnerung an diese schönen Jahre. Wenn es so ungewiss bleibt wie jetzt, muss ich Ausreden suchen, um weder an einer Hochzeit noch an anderen Familienfeiern dabei zu sein, damit seine Eltern mich nicht sehen. Ich bin sicher, dass sie mich sofort erkennen würden. Und wenn Timo mich dann als die Frau vorstellt, bei der er seit Monaten viel Zeit verbringt, ohne zu wissen, wer sie ist…ich weiss nicht, mit welchen Reaktionen von allen Beteiligten ich dann rechnen müsste.“

    „Was ist eigentlich mit deinem Namen?“ fragte ich. „Der müsste Timo aufgefallen sein, falls er von dir weiss.“ „Meinen jetzigen Nachnamen habe ich von Alois. Gian-Luca weiss nicht, dass ich ihn später geheiratet habe, der Name Mona Wagner wird ihm nichts sagen.  Er kannte mich als Ramona Frei. Doch wenn Timo mich ernsthaft gesucht hätte, hätte er mich natürlich gefunden. Dieser Gedanke hielt mich immer wieder davon ab, mit ihm über uns zu reden oder seinen Vater anzurufen. Ich wollte erst erreichen, dass Timo mich kennt und mag. Apropos Mona…unsere jungen Freunde denken, dies komme von Monika. Kann sein, dass ich das Missverständnis ein wenig gefördert habe.“ Mona musste lächeln. Dann wurde sie wieder ernst, stand abrupt auf und schaute auf die Uhr. „Ich muss zur Arbeit zurück. Also, lass dir etwas einfallen und gib mir so bald wie möglich Bescheid.“ Der neuerliche Befehlston ärgerte mich. „Eine ziemlich unmögliche Aufgabe, findest du nicht?“ schnauzte ich zurück. Sie verengte die Augen zu Schlitzen: „Dann lass uns hoffen, dass dein Gehirn nicht so flaumig ist wie dein Haar.“ Sie war wieder die alte Mona, kein Zweifel. Ich erhob mich ebenfalls und nahm meine Jacke von der Bank. Als ich mich wieder umdrehte, hatte Mona ein Couvert in der Hand. „Hier“, sagte sie kurz und legte es auf die Bank, bevor sie, ohne sich nochmals umzudrehen, davon stöckelte. Ich war noch immer nicht sicher, ob ich ihr glauben sollte. Vielleicht hatte sie sich diese Geschichte nur ausgedacht, weil sie so gern einen Sohn gehabt hätte. Ohnehin hatte ich keine Ahnung, wie ich an die gewünschten Informationen kommen könnte, selbst wenn die Geschichte wahr wäre. Ganz abgesehen davon hatte ich keinerlei Lust, Mona bei der Verarschung von Timo, wie sie es selbst genannt hatte, behilflich zu sein. Es war schlimm genug, dass ich dieses Gespräch für mich behalten musste.

    Ich setzte mich wieder auf die Bank und hing eine ganze Weile meinen Gedanken nach. Dann öffnete ich das Couvert. Es enthielt ein weisses Blatt Papier mit sechs ausgedruckten Fotos drauf. Alle zeigten Timo, als kleines und als etwas grösseres Kind. Ich erkannte ihn sofort wieder, eine süsse Miniaturform des jungen Mannes, den ich kannte. Die Fotos der Nachbarin! Die Geschichte war also echt und ich hatte somit ein wirkliches Problem.

    Auf dem Papier klebte ein gelber Post-it Zettel. Darauf hatte Mona in ihrer engen Schrift geschrieben: „Deine Hilfe gegen ein Heim für Destiny mit ihren Jungen.“ Nun hatte ich sogar ein Riesenproblem und der einzige Mensch, dem ich es unbedingt erzählen wollte, durfte nichts davon wissen. Hilfesuchend schaute ich zur Brunnenfigur hoch. „Ich weiss, ihr hattet damals grössere Sorgen, doch hast du einen Tipp für mich?“ Die Spatzen hatten ihr Gezänk aufgegeben und flogen auf den Brunnenrand. Einer flatterte bis zum Helm der kämpferischen, als Mann verkleideten Heldin aus dem 13. Jahrhundert, setzte sich auf dessen Rand und liess aus luftiger Höhe einen feuchten, weissen Klacks auf den Boden fallen. „Scheiss einfach drauf, meinst du..?!“ Wenn es doch nur so einfach wäre.

  • Schützenhilfe von unerwarteter Seite

    -13-

    Schliesslich machte ich mich auf den Heimweg, langsam und zu Fuss. Während dem Gehen kommen mir oft die besten Ideen und nun brauchte ich dringend eine! Ich beschloss, das Problem loszulassen, nicht mehr bewusst daran zu denken und auf eine Eingebung des Himmels zu warten. Allerdings war dies leichter gesagt als getan.

    „Zaubern müsste man können“, dachte ich und realisierte in dem Moment, dass ich gar nicht weit von der kleinen Buchhandlung entfernt war, aus der ich den Schmetterling gerettet hatte. „Was für ein lustiger Zufall“, schmunzelte ich vor mich hin und lenkte meine Schritte auf die andere Strassenseite. Beim Eintreten ins Geschäft sah ich, dass die Buchhändlerin am Ausräumen der Schaufenster war. Sie stand auf einer kleinen Leiter, sah verschwitzt aus und die Haare hingen ihr ins Gesicht. Auf dem Fussboden stapelten sich Bücher, daneben standen Eimer mit Wasser und Putzzeug.

    „Sieh an, die Schmetterlingsflüsterin“, sagte sie, als sie mich kommen sah. Da sie beide Arme voller Bücher hatte, nahm ich ihr diese ab und legte sie zu den anderen auf den Boden. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Ich habe Zeit, und da ich ein Problem im Kopf herum wälze, täte mir körperliche Arbeit sicher gut und würde mich ablenken.“ Sie zögerte und wollte höflich ablehnen, doch ich spürte, dass ihr meine Hilfe tatsächlich sehr gelegen käme. So zog ich meine Jacke aus und verstaute sie samt Handtasche hinter dem Kassenkorpus. „Sie wollen doch nicht im Ernst hundert Mal diese Leiter rauf- und runtersteigen? Zu zweit geht das Ausräumen viel einfacher und schneller.“  Sie sah mich dankbar an und reichte mir weitere Bücher. „Einfach auf den Boden stellen, sie müssen noch abgestaubt werden. Ich will die Schaufenster neu gestalten und bin dabei, mir ein Thema dafür auszudenken. Ich hoffe ebenfalls, dass mir während dem Arbeiten die richtige Idee einfällt.“ Ein paar Minuten lang arbeiteten wir schweigend. Dann lächelte sie mich an: „Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heisse Samira.“ „Schöner Name“, sagte ich. Sie lachte. „Er kommt aus dem Arabischen und bedeutet unter anderem ‘Unterhalterin‘. Ich mache meinem Namen nicht viel Ehre diese Tage, realisiere ich gerade. Ich habe diese Buchhandlung erst vor kurzem übernommen und wusste bei aller Liebe zu Büchern wohl nicht, was ich mir damit antat. Im Moment würde ‚Grüblerin‘  wohl eher zu mir passen.“

    Ich nannte ihr meinen Namen und fügte hinzu: „Es wird Zeit, dass mich wieder mal jemand damit anspricht. Vor einigen Monaten habe ich junge Leute kennen gelernt, die darauf bestehen, mich ‚Wispy‘ zu nennen. Ich höre meinen richtigen Vornamen kaum noch.“ „Hm“, schmunzelte Samira, „ich kann sehen, wie sie auf diesen Spitznamen kamen und er passt doch gut zu dir. Deine Haare sehen aus wie luftige Wattebäuschen, man bekommt Lust, rein zu pusten.“ „Dann kannst du mich auch gleich Pusteblume nennen“, sagte ich und bevor ich mich stoppen konnte, war ich mitten in einer Beschreibung von Mona. Nach ein paar Sätzen schüttelte ich den Kopf und hörte auf zu sprechen. „Entschuldige Samira, ich wollte dich nicht vollquatschen. Ich hatte gerade eine unangenehme Begegnung mit dieser Person. Ich rede jetzt nicht mehr davon.“ Unterdessen hatten wir das erste Schaufenster ausgeräumt und machten uns daran, die Scheiben zu putzen. Wir arbeiteten Hand in Hand, als ob wir nie etwas anderes gemacht hätten. „Schade“, lachte Samira. „Es fing gerade an, spannend zu werden und offensichtlich beschäftigt dich dieses Treffen sehr. Erzähl mir doch einfach die ganze Geschichte. Dir wird es gut tun und ich kann etwas Unterhaltung gebrauchen. Da ich weder dich noch deine Freunde kenne,  wird es mich auf keine Weise belasten und wenn du willst, vergesse ich alles gleich wieder, kein Problem.“

    Und so kam es, dass ich Samira erst zögernd, doch dann, von ihr ermutigt, ausführlich die ganze Geschichte erzählte, vom Moment an, als ich Timo kennen gelernt hatte. Sie war eine wunderbare Zuhörerin, die oft  laut lachte oder gespannt den Atem anhielt. Es tat gut, jemandem alles mitteilen zu können und mir wurde immer leichter ums Herz.  Als Samira von Destinys Rettung hörte, klatschte sie begeistert in die Hände. „Oh, ich wünsche mir schon lange einen Hund“, rief sie. „Darf ich vorbeikommen, wenn die Jungen auf der Welt sind?“ Und, als sie meinen Blick sah: „Keine Angst, deine Freunde  werden nicht merken, dass ich bereits so viel über sie erfahren habe. Mein grosses Hobby, neben Lesen, ist Schauspielern. Ich bin Mitglied einer sehr aktiven Theatergruppe. Und ich bin gut!“ Ich musste lächeln. „Na dann…ich freue mich natürlich, wenn du alle kennen lernst. Mich interessiert vor allem,  was du von Mona hältst. Denn nun erzähle ich dir den Rest, nämlich den Grund unserer Begegnung heute Nachmittag und was ich erfahren habe.“

    Als ich geendet hatte, blieb Samira eine ganze Weile lang still. Wir räumten bereits das dritte Schaufenster aus. Es war heiss und stickig im Laden, irgendwo brummte nervtötend eine Fliege. „Wenn ich dich richtig verstanden habe“, brach Samira schliesslich ihr Schweigen, „sollst du Timo fragen, was er über seine leibliche Mutter weiss, beziehungsweise ob er überhaupt etwas über sie weiss. Jedoch soll er nicht merken, dass du ihn das fragst? Oder sich zumindest nicht wundern, warum du ihm plötzlich solche Fragen stellst? Eine ziemlich unmögliche Aufgabe, finde ich.“ „Genau das habe ich Mona auch gesagt“, rief ich aus. „Doch sie erpresst mich richtiggehend, wie du gehört hast. Was soll ich bloss tun?“ „Hm“, meinte Samira, „ich denk mir etwas aus, doch jetzt machen wir erst mal Pause. Wir brauchen etwas zu trinken.“ Sie brachte grosse Gläser mit gekühltem Tee. Wir tranken schweigend und hingen unseren Gedanken nach, bis plötzlich  Samira ihr Glas so laut auf den Tisch knallte, dass ich zusammen zuckte. „Ich hab’s!“ rief sie triumphierend. „Wir fragen nicht Timo, wir fragen Dawn.“ Obwohl ich ihr „wir“ rührend fand und mich darüber freute, konnte ich mit der Idee nicht viel anfangen. Ich konnte Dawn wohl kaum anrufen und ihr solch private Fragen stellen. „Nicht du, ich mache das!“ Samira hatte meinen skeptischen Gesichtsausdruck richtig interpretiert. „Schauspielerin, erinnerst du dich? Dies wird eine tolle Übung für mich. Komm, machen wir mit dem Putzen weiter und ich weihe dich in meinen Plan ein.“

    Als erstes wollte Samira genau wissen, wie Dawn aussah, wo sie wohnte und was ich von ihrem Alltag wusste. „Sie ist sehr hübsch, mit dem hellen Teint vieler Engländerinnen und feinen Sommersprossen im Gesicht. Auf den Fotos, die ich gesehen habe, trug sie ihr dunkelblondes Haar meist auf Kinnlänge. Du wirst sie jedoch sofort an ihren auffallend blauen Augen erkennen. Sie und Gian-Luca wohnen am Stadtrand, im Auzelg Quartier. Dawn arbeitet Teilzeit, jeweils am Vormittag, leider weiss ich nicht wo und auch nicht, wann sie normalerweise nach Hause kommt“, berichtete ich. „Ich muss ihr wie zufällig begegnen“, sagte Samira nachdenklich. „Dann werde ich freudestrahlend auf sie zugehen und „Dawn! Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen!“ rufen. Mona hat dir genug über Timos erste Jahre erzählt, dass ich glaubwürdig eine ehemalige Nachbarin spielen kann. Eine sehr redselige ehemalige Nachbarin, die einen Besuch am alten Wohnort gemacht hat. Seit Dawns Heirat mit Gian-Luca sind wahrscheinlich etwa fünfundzwanzig Jahre vergangen, sie könnte leicht eine oberflächliche Bekanntschaft aus jener Zeit vergessen haben. Ich werde sie daran „erinnern“, wo ich damals gewohnt habe. Dann werde ich ihr versichern, wie sehr ich sie immer dafür bewundert hätte, dass sie so eine tolle Stiefmutter für Timo war. Ich selber hätte ihn zuvor auch ab und zu gehütet.“ Samira spielte mir die neugierige Nachbarin mit Leib und Seele vor. „Wie geht es Timo denn heute? Hat er noch Kontakt mit seiner Mutter? Das war ja vielleicht eine Schlampe…“ Samira bemerkte meinen Blick und verteidigte sich: „Was! Es muss nach echter Entrüstung aussehen. Ich werde Dawn nicht in Ruhe lassen, bis ich erfahren habe, was ich wissen will. Ich kann sehr hartnäckig sein.“ Ich fühlte mich nicht wohl beim Gedanken, Timo so zu hintergehen, doch ohne irgendeinen Trick ging es wohl nicht. „So viele Lügen…“ seufzte ich dennoch. „Lügen?“ Samira schaute mich fast beleidigt an. „Du schätzt meine Schauspielkunst nicht. Doch für mich ist es sicherlich einfacher, da ich die beteiligten Personen nicht persönlich kenne.“ Ich gab klein bei. Wenigstens war es ein Plan. Doch etwas war mir noch nicht klar. „Wie willst du es anstellen, dass du sie zufällig auf der Strasse triffst? So wie ich verstanden habe, wohnen Timos Eltern in einem typischen Familienquartier, wo man sich gegenseitig kennt. Du würdest auffallen. Ganz abgesehen davon, dass du bestimmt nicht die freie Zeit hast, mehrmals auf gut Glück dorthin zu gehen.“ „Da hast du allerdings Recht“, stimmte mir Samira zu. „Weisst du denn sonst etwas über Dawn? Wo sie einkauft? Ihre Hobbies?“ Ich musste nachdenken. „Yoga“, rief ich dann, „Timo hat gesagt, dass sie nie die Power Yoga Stunde in ihrem Fitnessstudio ausfallen lassen würde. Ich weiss sogar, wo dieses Center ist, ich hatte Timo für eine Nachbarin danach gefragt.“ Samira holte ihren Laptop hervor und wir öffneten die Webseite des Fitnessstudios.  „Oh, wir haben Glück“, meinte Samira, „Power Yoga gibt’s da nur zweimal pro Woche, am Montag und am Donnerstag. Heute ist Freitag, also gehe ich am Montag hin. Das passt gut, da meine Buchhandlung montags geschlossen ist. Was denkst du, fährt sie mit dem Auto hin oder nimmt sie die Strassenbahn?“ Das wusste ich leider nicht. „Kein Problem“, meinte Samira. „Dann spreche ich sie erst nach der Trainingsstunde auf der Strasse an. Das ist sowieso klüger, vorher wird sie mich vielleicht abwimmeln, vor allem, wenn sie zeitlich knapp dran ist. Oder noch besser“, wieder klatschte sie wie ein Kind in die Hände, „ich gehe zu einer Probelektion. Dazu muss man sich laut Webseite nicht mal anmelden. Wir haben schliesslich nur eine einzige Chance, diesen Plan durchzuziehen.“ Ich legte ihr die Hand auf den Arm und drückte ihn: „Dein selbstverständliches „wir“ tut so gut. Als ich hier reinkam, fühlte ich mich ziemlich allein gelassen. Normalerweise male ich, wenn ich mit etwas nicht zu Rande komme, doch heute zweifelte ich, dass es helfen würde.“ „Du malst? Richtige Bilder?“ fragte Samira interessiert und für den Rest des Nachmittags hatten wir ein neues Gesprächsthema. „Möchtest du ein paar kleinere Bilder in meinen Schaufenstern ausstellen?“ fragte sie mich schliesslich. „Zum Beispiel von deiner Katze? Wir könnten Haustiere zum Thema eines der Fenster machen, dazu habe ich viele Bücher. “ Wir holten Papier, um unsere vielen Ideen aufzuzeichnen und aufzuschreiben. Da wir uns gegenseitig mit Einfällen übertrumpften, hatten wir viel Spass. Gegen Abend machte uns Samira etwas Kleines zu essen. Während der ganzen Zeit meiner Anwesenheit hatten nur sechs Leute den Laden betreten, gekauft hatten bloss zwei davon etwas. Es wurde höchste Zeit, der Buchhandlung neue Kundschaft zu verschaffen.

    „Nun muss ich wirklich nach Hause, Bella braucht ihr Fressen“, sagte ich schliesslich. „Nochmals zu Dawn. Ich hoffe sehr, dass am Montag alles wunschgemäss klappt.  Nicht nur wegen Mona. Dawn und Gian-Luca haben demnächst eine längere Reise geplant.“ „Umso besser“, meinte Samira fröhlich, „dann wird sie die seltsame Begegnung mit mir schnell wieder vergessen haben. Magst du am Sonntag nochmals vorbei kommen? Ich wohne hier im Haus, ein Stockwerk höher. Dann üben wir meinen Auftritt.“

    In dieser Nacht schlief ich schlecht. Während sich Samira offensichtlich freute, ihre Schauspielkunst praktisch anwenden zu können, fühlte ich mich nicht wohl bei der Sache. Doch eine andere Lösung wollte mir nicht in den Sinn kommen. Am nächsten Tag schrieb ich Lilly eine Nachricht und fragte nach Destiny. Ich erklärte, dass ich bis etwa Mitte der nächsten Woche keine Zeit hätte, bei Mona vorbei zu kommen. „Wir haben ein volles Haus hier am Waldrand“, schrieb sie, „wir sind alle dabei, das Aussengehege und eine Hütte für die Hunde zu bauen. Destiny bleibt übers Wochenende beim Doktor, sie könnte bald gebären. Lola ist ebenfalls bei ihm, ich glaube sogar seit gestern. Jedenfalls war sie nachts weder hier noch zuhause.“ Aufs Wort „gestern“ folgten ein Smiley, zwei Herzen und eine ganze Reihe Fragezeichen. „Das wären doch schöne Neuigkeiten“, textete ich zurück und hoffte inständig, dass sich Lilly jetzt nicht noch mehr Hoffnungen auf Timo machen würde. Ich schickte einen Gruss an alle und legte das Telefon erleichtert zur Seite. Ich hätte im Moment mit niemandem der Gruppe sprechen wollen. Stattdessen holte ich meine Malsachen hervor. Samira hatte vorgeschlagen, im Herbst meine Bilder in ihrer Buchhandlung auszustellen. „Wir organisieren eine kleine Feier zur Eröffnung und verschicken Einladungen“, hatte sie gleich Pläne gemacht. Ihr Enthusiasmus und ihre Begeisterung waren ansteckend und ich fand den Gedanken an eine Ausstellung aufregend. Als erstes entwarf ich einen provisorischen Flyer für die Vernissage mit einem meiner Lieblingsbilder. Als ich meinen Namen darunter setzte, bekam ich richtig Herzklopfen. Ich hatte meine Bilder noch nie öffentlich gezeigt. Den Flyer klebte ich zur Motivation an die Staffelei. Dann fing ich ernsthaft an zu malen und arbeitete bis tief in die Nacht.

    Am Sonntag legte Samira eine so gekonnte Show hin, dass ich ihr die ehemalige Nachbarin glatt abgenommen hätte. Um ihr Interesse zu erklären, hatte sie einen Neffen erfunden, der sich schwer tat mit dem Gedanken, adoptiert worden zu sein. Sie war wirklich eine tolle Schauspielerin, sagte nicht zu viel und nicht zu wenig. Ich gab mir die grösste Mühe, die überrumpelte Dawn zu spielen, der es zwar peinlich war, dass sie die ehemalige Nachbarin nicht erkannte, die jedoch überhaupt keine Lust hatte, mit ihr über vergangene Zeiten zu sprechen. Doch Samira kitzelte all die Informationen aus mir heraus, die sie haben wollte. Wenn es sich nicht um Timos Geschichte gehandelt hätte, hätte ich die Vorführung total geniessen können. „Du warst aber auch nicht schlecht“, lobte Samira nachher. „Komm doch mal mit zur Theatergruppe und schau, ob es dir da gefällt. Du würdest lernen, mit noch festerer Stimme zu sprechen und selbstbewusster für dich einzustehen. Du wirst sehen, solche Fähigkeiten können sehr nützlich sein. Ich konnte dich zu leicht manipulieren vorhin. Diese Mona zum Beispiel soll ja nicht denken, dass sie dich je wieder für ihre Sache einspannen kann.“  Dann betrachtete sie mich kritisch von oben nach unten. „Du würdest zudem lernen, dich ein wenig zu schminken und Kleider in Farben anzuziehen, die dir stehen. Weisse Haare brauchen kräftige Kontraste. Dezent und Pastell ist vorbei für uns, sonst werden wir glatt übersehen. Da kommt mir in den Sinn, ich brauche etwas zum Anziehen für die Yogastunde morgen. Kommst du am Vormittag mit mir einkaufen?“ Ich sagte sofort zu. So würde der Tag schneller vergehen und ich hätte weniger Zeit zum Grübeln und Zweifeln. Zudem tat mir Samiras Gesellschaft gut. So gern ich mit meinen jungen Freunden diskutierte und lachte, bei intensiveren Gesprächen machte sich naturgemäss der Altersunterschied bemerkbar. Samira war nur wenige Jahre jünger als ich und hatte offenbar viel Lebenserfahrung. Ihre energievolle und tatkräftige Art, die Dinge anzupacken, wirkte  erfrischend. Als typische Vertreterin des Sternzeichens Waage drehte ich hingegen fällige Entscheidungen manchmal endlos im Kopf herum.

    Als wir am nächsten Tag durch die Läden schlenderten, wurde bald klar, dass diese Shoppingtour wohl eher mir galt als Samira. Bestimmt hatte sie den Schrank voller Sachen, die sich für eine Yogastunde eigneten. Sanft von ihr gedrängt, probierte ich schliesslich ein paar Kleider an, die ich vorher nicht mal angeschaut hätte. In den Umkleidekabinen schüttelte ich den Kopf, wenn ich mich im Spiegel sah, doch Samira zerrte mich heraus, liess mich hin und her gehen, mich drehen und wenden. „Toll, wie die Farben wirken, du siehst gar nicht mehr wie eine graue Maus mit weisser Krone aus“, rief sie, nicht gerade feinfühlig. Doch da ich vor ein paar Tagen ähnlich über mich selbst gedacht hatte, musste ich lachen und kaufte mir tatsächlich ein paar neue Sachen. „Die stehen dir alle super, nun zieh sie auch an, du wirst schliesslich nicht jünger“, sagte Samira auf ihre unverblümte Art, als wir danach einen Kaffee tranken. Sie hatte sich schliesslich ein Paar Leggins und ein sportliches Top gekauft, weil ich sie mehrmals daran erinnert hatte, dass sie doch Yogakleidung kaufen wollte. „Wie konnte ich das nur vergessen“, hatte sie gerufen und mich angeblinzelt dabei. Ich hatte jedoch die Ahnungslose gespielt, eine winzig kleine Rache meinerseits. Samira fiel überall auf, wo wir hinkamen. Es war nicht nur ihre lebhafte Art, sie sah auch besonders schön aus an diesem Tag. Sie trug einen langen Jupe, eine Bluse und eine ärmellose, kurze Weste, alles in aufeinander abgestimmten Blau- und Purpurtönen. Sie würde bei Dawn auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

    Als wir uns verabschiedeten, wurde ich wieder nervös. Samira spürte es. „Mach dir keine Sorgen, Dawn wird nicht wissen, wie ihr geschieht. Bevor sie es selbst richtig realisiert, wird sie mir bereits die ganze Geschichte erzählt haben.“ Samiras Selbstvertrauen war beneidenswert. Ich schaute ihr nach, wie sie leichtfüssig davon ging, während die lange, weisse Haarmähne auf ihrem Rücken hin und her schwang.

    Zuhause nahm ich Bella auf den Schoss und schaltete den Fernseher ein. Vor dem Abend würde ich nichts mehr von Samira hören. Ich machte mich auf eine  Wartezeit gefasst, die mir wohl unendlich lange vorkommen würde. Drei Stunden später wünschte ich mir fast, es wäre so. Lola hatte mich angerufen. Bei Destiny hatten erste Wehen eingesetzt, doch es ging nur langsam vorwärts und die Hündin war sehr unruhig. „Die Geburt kann lange dauern und man sollte Destiny nicht allein lassen. Der Doktor hat noch mehrere Patienten im Wartezimmer und braucht meine Hilfe. Es geht heute besonders hektisch zu und her bei uns, das macht Destiny zusätzlich nervös. Timo hat einen wichtigen Abgabetermin morgen und muss seine Übersetzung fertig schreiben. Die andern arbeiten oder sind nicht zu erreichen…kannst du sofort kommen, um auf Destiny aufzupassen?“ Ich machte mich gleich auf den Weg, erleichtert, dass ich Timo nicht begegnen würde, bevor ich meine Informationen hatte. Doch als ich die Tür zur Praxis öffnete, trottete mir Buddy entgegen. „Es geht Destiny nicht gut“, berichtete eine aufgelöste, sichtlich gestresste Lola. „Ich habe Timo nochmals angerufen und er konnte seinen Abgabetermin verschieben. Er ist bereits im Nebenzimmer. Sein Vater kommt gleich und holt Buddy. Kannst du solange mit ihm im Wartezimmer bleiben? Es geht nicht, dass er hier überall rumläuft, nicht heute.“ Damit verschwand sie wieder im Behandlungszimmer.

    Mir blieb nichts anderes übrig, als mich ins Wartezimmer zu setzen und auf den Mann zu warten, dessen Frau wohl gerade in diesem Moment kräftig an der Nase herumgeführt wurde. Und das meinetwegen.

  • Die lange Nacht

    -14-

    Buddy wollte weder bei mir bleiben noch gestreichelt werden, sondern ging unruhig im Zimmer auf und ab. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Von Zeit zu Zeit heulte er kurz auf. Mit uns sass ein junges Pärchen mit zwei Ratten, von denen die eine nervös an ihren Käfigstangen nagte und  die andere ständig quiekte,  im Wartezimmer. Nebenan konnte man Destiny winseln hören. Buddy kratzte an der Verbindungstür, er wollte zu Timo. „Bleib bei mir, gleich wirst du abgeholt und darfst raus. Destiny braucht jetzt ihre Ruhe“, versuchte ich ihn erfolglos zu beruhigen. Es lag eine Spannung in der Luft, die man fast mit Händen greifen konnte. Meine eigene Nervosität beim Gedanken, dass gleich Timos Vater auftauchen würde, half auch nicht gerade. Schliesslich nahm ich Buddys Leine: „Komm, wir warten draussen auf Gian-Luca.“

    Kaum waren wir im Freien, klingelte mein Handy. Samira! Ich nahm den Anruf entgegen und obwohl mich niemand hören konnte, flüsterte ich unwillkürlich. Samira schien dies nicht zu bemerken. „Diese Dawn ist ja vielleicht eine harte Nuss“, rief sie. Sie tönte höchst entrüstet. Offenbar hatte ihr Plan nicht nach Wunsch funktioniert. „Jetzt verstehe ich den Ausdruck „eine kühle Blonde“, fuhr sie fort. „Da holst du dir ja glatt eine Erkältung. Steht da, schaut mich an mit ihren unglaublich blauen Augen und sagt: „Wirklich, eine ehemalige Nachbarin sind Sie?“ Sie hat mich nicht geduzt, was das Ganze sehr peinlich machte, ich selbst konnte wohl nicht mehr zurück zur Höflichkeitsform. „Komisch, ich vergesse nie ein Gesicht und Ihres hab‘ ich noch nie gesehen“, fuhr sie fort.  Ich zog all meine Schauspielregister. „Es ist lange her, ich habe mich sicherlich verändert und natürlich war mein Haar damals noch nicht weiss“, versuchte ich es lachend herunterzuspielen. „Wir hatten nicht sehr viel Kontakt, es ist verständlich, dass du mich vergessen hast.“ Sie glaubte mir ganz offensichtlich kein Wort. Also erzählte ich die Geschichte vom Neffen, der in einer ähnlichen Situation sei wie Timo damals und dem ich gern helfen würde. Dawn nahm einen Zettel aus der Handtasche und kritzelte einen Link hin. „Diese Webseite beschäftigt sich mit dem Thema auf gute, hilfreiche Weise. Ich kann Ihnen nicht zwischen Tür und Angel Ratschläge geben, zudem liegt jeder Fall anders.“ Das war’s! Nach der Yogastunde fing sie demonstrativ ein Gespräch mit einer anderen Frau an und ignorierte mich. Die Webseite gibt vor allem Anleitungen, wie man ein Kind altersgerecht mit seiner Geschichte bekannt macht. Timo weiss also bestimmt, dass Dawn nicht seine richtige Mutter ist. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr erreichen konnte.“ Ich dankte Samira und verabschiedete mich schnell, denn ich sah aus dem Augenwinkel, wie ein Auto auf den reservierten Parkplatz des Tierarztes fuhr. Es war Timos Vater, ich erkannte ihn sofort von den Fotos her. Ein attraktiver, kräftiger Mann mit kurzen, grauen Locken und einer markanten Nase. Kaum hatte er die Autotür geöffnet, klingelte sein Handy. Er nahm es aus der Hosentasche und hörte einen Moment lang schweigend zu, dann schloss er die Tür wieder. Offenbar stellte er sich auf ein längeres Gespräch ein. Ab und zu schaute er zu uns herüber. Buddy hatte ihn noch nicht entdeckt, er schnüffelte und pinkelte ausgiebig in der Wiese neben der Praxis herum. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. „Bestimmt ist Dawn am Apparat, die ihm von der Begegnung mit der taktlosen Samira erzählt“, dachte ich. „Und wenn er mich jetzt ansieht, weiss er sofort, dass dies mit mir zu tun hat. Ich habe sicherlich einen ganz roten Kopf bekommen.“

    Schliesslich stieg Gian-Luca aus dem Auto und gleichzeitig kam Timo aus dem Haus. „Dachte ich doch, dass ich dein Auto vorfahren hörte“, rief er seinem Vater zu. Buddy schoss um die Ecke, winselte vor Freude und rannte zwischen den beiden Männern hin und her. „So enthusiastisch kenne ich ihn gar nicht“, sagte ich zu Timo, nachdem wir uns begrüsst hatten. Der tätschelte seinen vierbeinigen Freund. „Er kann schon, wenn er will, er ist nur nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. Doch die Aufregung in der Praxis hat ihm aufs Gemüt geschlagen. Du bist sehr mitfühlend, nicht wahr, Buddy?“ „Auch das nur, wenn er will“, behauptete Gian-Luca, der unterdessen sein Gespräch beendet hatte und zu uns gestossen war. Timo stellte uns vor. Bildete ich es mir ein oder musterten mich Gian-Lucas Augen misstrauisch? Jedenfalls war die Begrüssung bei weitem nicht so herzlich, wie ich sie von einem gebürtigen Italiener erwartet hätte.

    Vater und Sohn wechselten ein paar Worte, während sie Buddy, der bereits ins Auto gesprungen war, mit einem Hundegurt sicherten. Dann gingen Timo und ich zu Destiny zurück. Die Hündin lag in einer grossen Box, die mit Tüchern ausgelegt war und fiepte und hechelte unruhig. Lola war bei ihr, wurde jedoch gleich wieder im Behandlungszimmer gebraucht. Destiny beachtete mich nicht, sondern drängte sich in Timos streichelnde Hände. Ihr Bauch war in den letzten Tagen richtig prall und fast kahl geworden.  Die meisten Haare waren ausgefallen, um den Weg zu den Zitzen freizumachen.   „Obwohl der Doktor sie mit Infusionen aufgepäppelt hat, ist Destiny noch nicht wirklich stark genug für eine lange Geburt. Wir hoffen, dass es schnell geht, wenn die Austreibungsphase beginnt. Wahrscheinlich wird sie 3, höchstens 4 Welpen gebären. Die Eröffnungsphase hat erst vor etwa 8 Stunden angefangen, es kann also noch eine Weile dauern. Wir sollen den Doktor rufen, falls sie erbricht, vorzeitig Fruchtwasser verliert oder nochmals ins Freie will. Im letzteren Fall müssten wir aufpassen, dass sie uns nicht entwischt. In dieser Phase rennen Hündinnen manchmal weg“,  informierte mich Timo. „Destiny versteht nicht, was mit ihr passiert, da sie zum ersten Mal gebärt. Sie ist nervös und unruhig, ich kann nicht richtig mit ihr kommunizieren. Gleichzeitig will sie auf keinen Fall, dass ich auch nur einen Schritt von ihr weggehe, ausser Lola löst mich ab.“

    Ich war froh, dass in diesem Moment der Doktor ins Zimmer kam und die Hündin untersuchte. „Es hat sich noch nicht viel verändert“, meinte er, „bis die Presswehen beginnen, kann es noch dauern. Ich hoffe nur, dass Destiny genug Kraft hat für die Geburt. Unser Wartezimmer ist endlich leer, wir können die Praxis für heute schliessen. Ist es in Ordnung, wenn Lola und ich etwas essen gehen und uns frisch machen nach diesem langen Tag? Falls etwas Ungewöhnliches passiert, ruft an und wir sind sofort da.“ Natürlich waren wir einverstanden, ja, wir drängten die beiden, sich für eine Weile hinzulegen oder zumindest auszuruhen. Mir entging nicht, dass Lolas Gesicht eine feine Röte erhalten hatte. Lilly hatte offenbar Recht, da lief etwas mit dem Doktor. Ich lächelte ihre Schwester an, bestimmt freundlicher denn je zuvor. Diese realisierte, was ich dachte, wurde noch verlegener und warf Timo einen schnellen Blick zu, den dieser jedoch nicht bemerkte.

    Dann waren wir allein im Haus. Zum ersten Mal, seit ich Timo kannte, konnte ich seine Gegenwart nicht einfach unbeschwert geniessen. Er schien es nicht zu merken und erzählte mir begeistert vom Aussengehege, welches sie für die Hündin und ihre Jungen gebaut hatten. „Sie haben ein grosses, überdachtes Holzhaus bekommen. Patrick und Johanna haben gepolsterte Hundebetten spendiert und ich habe all das Spielzeug gebracht, welches ich im Laufe der Zeit für Buddy gekauft habe. Das meiste hat er sowieso nicht mal angeschaut. Am Anfang sind die Welpen ohnehin fast nur im Haus. Wir durften eine ganze Ecke des Wohnzimmers für sie einrichten. Das haben wir dir zu verdanken.“ Er drückte meinen Arm und fuhr fort: „Ich würde zu gern wissen, wie du Mona dazu überreden konntest.“ Nun erst merkte Timo, dass ich bisher nicht viel gesagt hatte. Er blickte mir prüfend ins Gesicht. „Dich beschäftigt etwas, doch du willst es mir nicht erzählen.“ Wie immer hatte er mich sofort durchschaut. Ich nickte und versuchte, nicht an Mona, Dawn oder Samira zu denken. Es gelang mir natürlich nicht. Also erhob ich mich vom Stuhl und kauerte mich zu Destiny auf den Boden. Ich fasste in ein nasses Fell. „Ich glaube, sie verliert gerade Fruchtwasser“, rief ich und da schob sich auch schon die erste Fruchtblase langsam aus dem Körper der Hündin. „Ruf den Doktor, schnell, der Welpe kommt mit dem Hintern zuerst zur Welt“, drängte ich  voller Angst. Timo nahm sein Telefon und wählte die Nummer, beruhigte mich jedoch gleichzeitig: „Dies ist bei Hunden nicht unüblich, die Geburt darf nun bloss nicht allzu lange dauern.“ Es brauchte jedoch noch einige Presswehen, bis Destiny ihr erstes Junges ganz zur Welt gebracht hatte. Da war Lola bereits bei uns. Sie half der erschöpften Hündin, die Fruchtblase des Welpen zu öffnen und rieb den Kleinen mit einem Lappen kräftig ab, da Destiny ihn nicht energisch genug leckte, um die Atmung anzuregen. „Es ist ein kleiner Rüde, schwarz mit weissen Füsschen“, lachte Timo, „was hatte der wohl für einen Vater?“ Unterdessen war auch der Doktor da und so ging ich allen aus dem Weg und setzte mich auf einen Stuhl. Meine Knie waren plötzlich weich geworden.

    Eine Stunde lang passierte nichts mehr. Der Welpe hatte getrunken und maunzte leise vor sich hin. Destiny leckte ihn hin und wieder und stupste ihn mit der Schnauze, doch manchmal schien sie einzuschlafen. „Meistens werden die Welpen in kürzeren Abständen geboren, doch es kann vorkommen, dass sich die Mutter zwischendurch ausruhen muss, vor allem wenn es ihre erste Geburt ist“, erklärte uns Lola. Dann ging es plötzlich schnell, gleich zwei  weibliche Babys kamen hintereinander zur Welt. Wieder brauchte die Mutter Hilfe beim Öffnen der Fruchtblasen. Timo und Lola massierten je eines der Kleinen mit einem Lappen, bis sie selbständig atmeten. Auch die beiden Schwestern waren schwarz mit weissen Beinchen. Sie wurden gewogen, dann durften sie zu ihrer Mutter. Wir konnten uns nicht satt sehen an den tapsigen kleinen Fellknäueln, die übereinander purzelten auf der Suche nach der nächsten freien Zitze. Als sie getrunken hatten, untersuchte der Doktor Destiny. „Da sind bereits die Nachgeburten“, sagte er zufrieden, „und es wartet ein letztes Hundebaby darauf, zur Welt zu kommen. Ich hoffe, dass die Mutter noch genügend Kraft aufbringt für diese Geburt.“ Zwei Stunden vergingen, ohne dass die Hündin nochmals presste. Sie schien sehr mitgenommen. Wir boten ihr frisches Wasser und Futter an, doch sie nahm nur wenig zu sich. „Das Kleine liegt richtig und es lebt“, sagte der Doktor nach einer weiteren Untersuchung, „doch nun sollte es vorwärts gehen, sonst muss ich einen Kaiserschnitt in Erwägung ziehen. Ein wehenanregendes Mittel habe ich bereits ohne Erfolg gespritzt.“ Da stand Destiny auf, ging auf unsicheren Beinen zur Tür und wollte offenbar ins Freie. „Sie wird ihr Geschäft erledigen müssen“, meinte Lola. Und zu mir und Timo: „Geht ihr beide raus mit ihr? Leint sie unbedingt an und vergesst nicht die Taschenlampe und eine Decke mitzunehmen. Ihr müsst genau sehen, was sie da draussen macht.“ Dies war leichter gesagt als getan. Destiny schätzte es gar nicht, dass wir sie an der kurzen Leine hielten. Erst nach einigem Zerren gab sie auf, hockte sich hin und pinkelte lange. Wir waren bereits wieder im Treppenhaus vor der Praxistür, als sie aufjaulte, sich hinkauerte und ihren letzten kleinen Welpen gebar. Ich konnte gerade noch die Decke unter ihren Körper schieben. Der Doktor und Lola hatten uns gehört und waren bereits da, um beim Öffnen der Fruchtblase und dem Abnabeln zu helfen. Doch das winzige Fellbündel blieb reglos. Ich führte Destiny zu ihren anderen Jungen und ging zurück in den Behandlungsraum. Lola hatte Tränen in den Augen, während der Doktor vorsichtig Schleim aus der Nase des Hundebabys absaugte und aus seinem Mund wischte. Es war goldbraun gelockt wie die Mutter und atmete noch immer nicht. „Ein Rüde“, flüsterte Lola. Der Doktor schaute uns an und schüttelte langsam den Kopf, während er nochmals versuchte, den Kreislauf des Kleinen durch rubbeln mit einem Tuch anzuregen. „Lass es mich versuchen“, sagte Lola plötzlich, beugte sich über das Hundebaby und blies ihm ganz sachte etwas Luft ins Näschen. Dazu presste sie sanft zwei Finger auf seinen Brustkorb. Sie wiederholte dies einige Male, während wir anderen vor Anspannung den eigenen Atem anhielten. Endlich löste sich ein Seufzer aus dem winzigen Mund und der Welpe fing an zu röcheln. Kleine Bläschen bildeten sich an den Nasenlöchern, die der Doktor vorsichtig abwischte. Wir trugen den Kleinen zu seiner Mutter, die ihn unerwartet energisch ableckte. Offenbar waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt. Nur Minuten später nuckelte der Nachzügler zufrieden an einer Zitze und wir konnten aufatmen.

    „Zum Glück hat Destiny ihre Jungen so gut angenommen, dies ist bei unerfahrenen Müttern nicht immer der Fall“, sagte Timo nachdenklich und ich warf ihm einen schnellen Blick zu, den er nicht beachtete. Ich fragte mich, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Wir hatten dem Doktor und Lola angeboten, für den Rest der Nacht bei Destiny zu bleiben, damit sie beide sich ein paar Stunden hinlegen konnten. Wir wollten die neue Familie nicht allein lassen und vor allem das letztgeborene Junge beobachten. Doch der Doktor war schon zwei Stunden später wieder in der Praxis und meinte, er hätte ohnehin noch einiges für den Tag vorzubereiten. „Geht nach Hause“, sagte er zu uns. „Danke für eure wunderbare Hilfe, doch nun kann ich wieder übernehmen. Ihr müsst unterdessen todmüde sein.“

    Zwar spürte ich tatsächlich Müdigkeit bis in die Knochen, doch gleichzeitig war ich hellwach. Draussen dämmerte der Tag mit erstem Herbstnebel. Die Umgebung sah unwirklich aus, irgendwie mystisch und passte zu meiner Stimmung. Timo und ich sahen uns an und ich ahnte, dass er sich genauso fühlte wie ich mich. „Könntest du jetzt schlafen?“ fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Weisst du was?“ schlug er daraufhin vor, „wir kaufen uns Kaffee und Frühstück am Bahnhof und nehmen die erste Bahn auf den Uetliberg. Mit etwas Glück sind wir dort über dem Nebel und sehen den Sonnenaufgang.“ Ich war sofort einverstanden. Im Zug sahen wir ausser dem Personal des Hotels Uto Kulm mehrere Leute mit Fotoapparaten und Stativen. Dies liess uns hoffen, dass wir es über die Nebelgrenze schaffen würden. Und tatsächlich: hinter der grauweissen Schicht, die wie Watte aussah, dämmerte bereits ein prächtiger Morgen und zeichnete helle Streifen an den Himmel. Wir setzten uns bei der Aussichtsplattform ins Gras und assen schweigend unser Frühstück. Ich spürte, wie die Anspannung der letzten Stunden von mir abfiel. Plötzlich wurde ich doch sehr müde. Ich lehnte mich an Timo, nicht mehr fähig oder willens, meine Gedanken vor ihm zu verbergen. Er legte den Arm um meine Schultern und wir beobachteten zusammen, wie die Sonne aufging. Sie tauchte erst die ferne Alpenkette in ein goldenes Licht, dann nahm der Wald unter uns Konturen an und schimmerte glänzend in allen Grüntönen. Dazwischen lagen immer noch dichte Fetzen von grauem Nebel, doch schon bald wärmte die Sonne unsere Gesichter. Nach dieser intensiven Nacht wollte ich das Zusammensein mit Timo wieder ohne Heimlichkeiten geniessen können und so liess ich die Gedanken an Mona und ihr Geheimnis einfach zu. Timo liess seinen Arm sinken und atmete tief durch. „Ist sie wirklich meine Mutter?“ fragte er schliesslich. Ich nickte. „Hast du es geahnt?“  Nach einigem Nachdenken meinte er: „Nein, bis vor kurzem nicht – vielleicht wollte ich es auch bloss nicht wahrhaben. Ich wusste nicht viel über meine leibliche Mutter. Zwar habe ich schon als Kind erfahren, dass ich nicht in Dawns Bauch gewachsen war. Mein Vater sagte, dass er für mich die beste Mama der Welt gefunden hätte und es mir jetzt viel besser gehe als früher. Ich hatte natürlich viele Fragen dazu, doch merkte ich bald, dass meine richtige Mutter ein heikles Thema war in der Familie. Mein Vater schaute sofort finster und Dawn presste ihre Lippen zusammen, wenn ich wieder damit anfing. Sie erklärten, dass ich noch zu klein sei, um mehr zu erfahren und dass sie mir später alles erzählen würden. Doch ich beschloss irgendwann, die beiden mit meinen Fragen zu verschonen. Ich dichtete mir eine eigene Wahrheit zusammen. Wenn jedoch Verwandte oder Nachbarinnen auf meine Mutter zu sprechen kamen, spielte ich ihnen das Kind vor, das gerade selbstvergessen in seiner eigenen Welt spielte, während ich stattdessen die Ohren spitzte, um ja kein Wort zu verpassen. Ich vernahm ein paar Dinge über diese Ramona, die offenbar verabscheuenswürdig waren, doch ich verstand nicht, was gemeint war.  Was ich jedoch immer wieder hörte, war: „Wenn der Kleine einen anschaut, sieht man direkt die Mutter vor sich. Er hat ihre Augenfarbe und dieselben unglaublich langen Wimpern.“ Und letzthin sagte Lola  beim Haus oben genau das: „Mona hat fast dieselben Augen wie Timo.“ Dieser Satz löste einiges aus bei mir. Ich fing an, Mona genauer zu beobachten und ich musste zum ersten Mal den Gedanken zulassen, dass sie tatsächlich meine Mutter sein könnte. Daraufhin stellte ich ihr sogar Helene vor, weil ich dachte, dass dies ihr den Impuls geben könnte, ehrlich zu mir zu sein. Direkt fragen konnte und wollte ich sie nicht.“ „Stattdessen kam sie zu mir“, seufzte ich und erzählte, wie sie mich unter Druck gesetzt hatte. Die  Geschichte ihrer Schwangerschaft und der ersten Jahre mit dem kleinen Kind liess ich aus, das sollte sie ihrem Sohn selbst erzählen. Auch Samira und die Rolle, die sie gespielt hatte, erwähnte ich für den Moment nicht. „Wie fühlst du dich Mona gegenüber?“ fragte ich stattdessen nach einer Weile. Timo hatte schweigend über den Nebel geschaut, der sich immer mehr auflöste. Man sah bereits ein Stück Zürichsee und die ersten Häuser darunter auftauchen. „Ich weiss es ehrlich gesagt nicht“, sagte er schliesslich. „Dawn ist meine Mum und das wird für mich so bleiben. Ich kenne Mona unterdessen und schätze ihre guten Seiten, doch ich kann sie nicht plötzlich als meine Mutter ansehen. Ich hatte auch ohne sie die beste Kindheit, die ich mir wünschen konnte, ich trage keinen Groll in mir. Und ich bin sicher, wenn sie mir alles erklärt, werde ich ihre Seite wenigstens ansatzweise verstehen können. Doch es scheint mir so unfair Dawn gegenüber. Sie hatte kein leichtes Los mit mir und meinem Vater. Kaum hatte sie ihn getroffen, war sie auch schon Ersatzmutter. Die beiden hatten keine Zeit, sich erst in Ruhe kennen zu lernen, romantische Reisen zu unternehmen, Wochenenden im Bett zu verbringen oder spontan auszugehen. Mein Vater wünschte sich sehnlichst Stabilität und Ruhe für mich. Dawns Flitterwochen bestanden wahrscheinlich darin, dass sie morgens um fünf Uhr aufstand, um meine Windeln zu wechseln. Ich weiss, dass sie ursprünglich gern eigene Kinder gehabt hätte, dies habe ich ebenfalls beim Lauschen erfahren. Doch mein Vater war tief in seinem Vertrauen verletzt worden durch meine Mutter und vertröstete Dawn immer wieder auf später. Erst einmal sollte ich völlige Geborgenheit in der Familie erfahren. Es drehte sich alles immer um mich, dies war sicher nicht einfach für Dawn. Irgendwann begrub sie offenbar ihren eigenen Kinderwunsch. Ich hoffe nur, dass nicht ich daran schuld bin. Ich war zwar kein schwieriges, jedoch ein sehr eigenartiges Kind mit meiner altklugen Intuition, meiner strikten Weigerung, Tiere zu essen und meiner Gabe, die Gefühle anderer am eigenen Leibe zu spüren. Wenn man mir eine Freude mit einem Zoo- oder Zirkusbesuch machen wollte, weinte ich vor Mitleid mit den eingesperrten Tieren. Ich war nie wie die anderen Kinder. Dawn hat das alles respektiert.  Es scheint mir einfach nicht fair, sie jetzt mit einer Mutter zu überraschen, die schon monatelang ein fester Bestandteil meines Lebens ist und mit der ich bereits so vieles erlebt und besprochen habe.“ Darauf wusste ich nichts zu sagen. Wir schwiegen beide und hingen unseren Gedanken nach. Timo hatte mich wieder fest in den Arm genommen und ich lehnte mich dankbar an ihn. Seine Freundschaft zu verlieren, wäre für mich das Schlimmste gewesen.

    Unterdessen war es endgültig Tag geworden und immer mehr Leute drängten sich auf die Aussichtsplattform. Mit der Ruhe war es vorbei. „Wollen wir gehen?“ fragte Timo und fing gerade an, unseren Abfall in eine der Papiertüten zu packen, als wir direkt hinter uns ein freudiges Jaulen hörten. Buddy schoss schwanzwedelnd und glücklich auf Timo zu, dahinter stand Gian-Luca. Er sah übernächtigt und unrasiert aus. „Sie haben mir in der Tierarzt Praxis gesagt, wo ihr seid“, sagte er mit finsterem Gesicht zu seinem Sohn. „Wir drei müssen reden, und zwar jetzt. Sofort.“ Timo schaute verwirrt von seinem Vater zu mir und zurück: „Du hast etwas so dringendes mit Wispy und mir zu besprechen, dass du extra hierher kommst?“ „Nicht mit ihr“, sagte Gian-Luca ungeduldig mit einer Kopfbewegung in meine Richtung und tat einen Schritt zur Seite. Hinter ihm stand in modischen Sportsachen, jedoch ungeschminkt, offenbar ungekämmt und mit verheultem Gesicht, Mona. Ich weiss nicht, ob es daran lag, dass sie für einmal Sneakers trug statt hochhakigen Schuhen, plötzlich schien sie mir klein und schutzbedürftig.  Doch noch bevor ich so etwas wie Mitleid für sie empfinden konnte, fauchte sie mich an: „Das hast du ja perfekt hingekriegt, Pusteblume.“

  • Und nun?

    Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Was ist denn jetzt los? Wie habt ihr zwei euch überhaupt gefunden…?“ doch ich bekam keine Antwort. Timo kraulte Buddys Kopf, ohne aufzusehen, Mona betrachtete intensiv ihre Schuhspitzen und Gian-Luca schaute mit undurchdringlicher Miene in die Ferne. Da endlich realisierte ich, dass ich bei dieser längst fälligen Familienaussprache überflüssig und fehl am Platz war. Ich verabschiedete mich rasch und machte mich zu Fuss auf den Rückweg. Nur Buddy schaute mir verdutzt nach.

    Ich hatte für den Abstieg den Wanderweg statt der Bahn gewählt, damit ich in Ruhe nachdenken konnte. Selbst wenn Dawn und Gian-Luca von selbst auf die Idee gekommen waren, dass Mona hinter Samiras Fragen stecken könnte, wie kamen sie auf mich? So wie mich Mona angefunkelt hatte, war es offenbar mein Fehler, dass das Ganze aufgeflogen war. Die Situation schien mir wie ein Puzzle, zu dem mir mindestens ein ganz wichtiges Teil fehlte.

    Trotz meiner Müdigkeit ging ich nicht nach Hause, sondern direkt zur Buchhandlung. Nachdem ich alle Fakten im Kopf gedreht und gewendet hatte, kam ich immer wieder auf Samira zurück. Sie musste mir etwas verheimlicht haben. Dieser Verdacht bestätigte sich umgehend, als die Buchhändlerin mich kommen sah. Ihre Verlegenheit war offensichtlich. Ich liess ihre viel zu überschwängliche Begrüssung – sie nannte mich sogar bei meinem richtigen Namen – und ihre Fragen nach Destiny und den Jungen ohne ein Wort über mich ergehen. Dann zog ich einen Stuhl an den kleinen Tisch, zeigte auf den zweiten und sagte, da sich keine Kundschaft im Laden befand: „Setz dich bitte, Samira. Ich habe eine schlaflose Nacht und heute Morgen eine Begegnung der unangenehmen Art mit Mona und Timos Vater hinter mir. Nun bin ich müde und bekomme langsam, aber sicher eine sehr schlechte Laune. Du erzählst mir jetzt sofort, was ich noch nicht weiss, und zwar alles.“ Samira schaute sehnsüchtig den vor der Buchhandlung vorbeigehenden Leuten nach, bevor sie sich setzte. Sie hoffte offensichtlich, dass jemand den Weg in den Laden finden und sie damit vor meinen Fragen retten möge. „Dann möchtest du sicher einen starken Kaffee, soll ich nach oben gehen und uns einen brauen?“ fragte sie in einem weiteren Versuch, mir noch etwas auszuweichen. „Samira, jetzt. Ich habe keine Nerven mehr für Spielchen.“

    Und so erfuhr ich, wie es weitergegangen war. Samira hatte das missglückte Gespräch mit Dawn keine Ruhe gelassen. Sie hatte deren Adresse im Internet eingegeben und eine Festnetz Telefonnummer gefunden. „Ich überlegte hin und her, ob ich sie anrufen sollte. Ich hätte mich für meine indiskrete Fragerei entschuldigt und vielleicht doch noch etwas herausgefunden. Spontanität ist meine Stärke, musst du wissen, deshalb bin ich im Theater zusätzlich in einer Improvisationsgruppe. Da bekommst du erst auf der Bühne eine Vorgabe -“ „Das kannst du mir ein anderes Mal erzählen“, unterbrach ich sie schroffer, als ich gewollt hatte. „Du hast sie also nicht angerufen?“ „Doch… zumindest wollte ich es. Als du dich so schnell verabschiedet hast mit den Worten, Gian-Luca fahre soeben auf den Parkplatz der Tierarztpraxis, sah ich meine Chance gekommen. Denn zuvor hatte mich vor allem der Gedanke abgehalten, der Ehemann könnte den Anruf annehmen. Also dachte ich, falls Dawn jetzt zuhause sei, dann sicher allein. Doch ich wurde direkt auf ein Handy umgeleitet und hatte zu meinem Schreck Gian-Luca am Apparat. Vor lauter Überrumpelung stammelte ich irgendetwas. Er hörte schweigend zu und so redete ich in meiner Verlegenheit immer weiter und verplapperte mich schliesslich. Meine gewohnte Schlagfertigkeit liess mich glatt im Stich. Es tut mir leid, Wispy. Offenbar wusste Gian-Luca bereits von meiner Begegnung mit seiner Frau und kombinierte sofort, dass ich das gewesen sein musste. Er unterbrach mich schliesslich und sagte, dass er gleich mit Buddy zur Allmend fahren werde, damit dieser sich austoben könne. Er werde mich auf dem Parkplatz erwarten. Dann hängte er auf. Ich fand, ich sei es ihm schuldig, hinzufahren.“

    Samira stand auf und bediente zwei Kundinnen, die lachend und schwatzend ins Geschäft gekommen waren. Sie war offensichtlich erleichtert, dass diese unser Gespräch unterbrochen hatten. Nun wusste ich, dass meine Intuition mich nicht völlig fehlgeleitet hatte, als ich Gian-Luca am Telefon beobachtet hatte. „Findest du Timos Vater auch so attraktiv?“ fragte Samira, nachdem sie sich wohl oder übel wieder zu mir gesetzt hatte. „Samira, lenk jetzt nicht ab. Ich will einfach wissen, was passiert ist. Danach gehe ich heim ins Bett und mein Handy bleibt vorderhand ausgeschaltet. Mir reicht es im Moment mit euch allen.“ „Ich versuchte nur zu erklären…“, Samira tönte plötzlich ziemlich kleinlaut, „attraktive Männer sind seit jeher mein schwacher Punkt, vor allem, wenn sie genau wissen, was sie wollen. Wir gingen eine Weile mit Buddy spazieren und ich weiss nicht, wie es kam…Ich erzählte ihm nach und nach alles. Er hatte so eine bestimmte Art, nicht locker zu lassen. Dann fragte er mich nach Monas vollem Namen und ihrer Adresse, da er bisher vermutet hatte, sie lebe in Österreich mit seinem Nachfolger Alois. Beide Fragen konnte ich nicht beantworten, doch du hattest mir erzählt, dass sie die Chefredakteurin dieser grossen Frauenzeitschrift sei. Gian-Luca zückte sein Smartphone und hatte die gewünschten Informationen innert wenigen Augenblicken. Daraufhin sprach er nicht mehr viel, sagte bloss noch zu Buddy: „Was meinst du, holen wir die morgen früh aus dem Bett?“ Wir gingen zu den Autos zurück und machten uns beide auf den Heimweg.“ Samira sprang auf, da ihr Telefon klingelte. So hatte ich Zeit, diese Neuigkeit setzen zu lassen. Ich schaute schweigend aus dem Fenster, als sich Samira zehn Minuten später wieder zu mir setzte.

    „ Bist du mir sehr böse?“ fragte sie nach einer Weile. „Nein, eigentlich nicht“, antwortete ich wahrheitsgetreu. „Auf der einen Seite bin ich sehr erleichtert, dass die Heimlichkeiten ein Ende haben. Du hast zumindest etwas versucht, als ich selbst keinen Plan hatte. Andererseits hätte ich Timo warnen können, wenn ich alles gewusst hätte. Und ich wäre Mona vorhin anders begegnet.“ „Ich weiss“, sagte Samira zerknirscht, „Ich hätte dich anrufen sollen. Ich habe mich sehr geschämt, als mir klar wurde, was ich da angerichtet hatte und dass ich dich mit hineingezogen habe.“ „Mein Handy war ohnehin die meiste Zeit auf lautlos gestellt“, räumte ich ein. „Nun ist es halt so passiert. Für die Hundefamilie ist schon alles eingerichtet, Mona kann keinen Rückzieher mehr machen. Vor allem jetzt nicht, da Timo alles weiss.“ Ich fühlte mich auf einen Schlag wie ausgelaugt und erzählte Samira nur noch kurz das Wichtigste rund um die Geburt der Welpen, bevor ich die Strassenbahn nach Hause nahm.

    Obwohl ich bloss schlafen im Sinn hatte, musste mein Bett noch eine Weile warten. Denn vor meiner Eingangstür sass Timo auf dem Boden, die langen Beine ausgestreckt und den Kopf an die Wand gelehnt, mit seiner Jacke und einem Rucksack als Polsterung im Rücken. Er war mit dem Telefon in der Hand eingenickt. Ich setzte mich neben ihn und weckte ihn mit sanften Stupsern. „Oh gut, du bist es“, sagte er, als er endlich die Augen geöffnet hatte. „Wen hast du denn sonst vor meiner Wohnung erwartet?“ fragte ich und er grinste schief: „Ach, ich habe gerade etwas Wirres geträumt. Ich dachte, es sei eine meiner vielen Mütter.“ In meiner Übermüdung fing ich an zu kichern, als ob Timo einen ausserordentlich guten Witz gemacht hätte und steckte ihn an damit. Wir lachten noch immer, als ich die Tür aufschloss. „Nun im Ernst, Timo, was machst du hier? Ihr habt euch doch nicht schon ausgesprochen?“ fragte ich mit einem ungläubigen Blick zur Uhr. Er zuckte mit den Schultern. „Mona und mein Vater stehen bestimmt noch wie zwei funkensprühende Zankteufel auf dem Berg. Es ist ein Wunder, dass du sie nicht bis hierhin schreien hörst. Während den ersten Minuten ging es noch einigermassen zivilisiert zu und her. Mein Vater hatte beschlossen, dass er Dawn die ganze Geschichte erst auf der Reise erzählen wird, zu der sie in den nächsten Tagen aufbrechen. Er hofft, dass er ihr durch die Ferienstimmung und den Abstand zum Alltag schonender beibringen kann, dass sich meine Mutter in mein Leben zurückgeschlichen hat. Er verlangte jedoch, dass Mona Dawn einen ausführlichen Brief schreibt und sich für die Heimlichtuerei entschuldigt. Diesen wird er ihr unterwegs geben, sobald sie alles erfahren hat. Ich glaube, ich schreibe ebenfalls einen Brief und erkläre Mum, wie ich alles erlebt habe.“ Timo liess sich müde aufs Sofa fallen.

    „Worüber streiten sie sich denn immer noch?“ fragte ich. „Über alles und jedes. Ich bekam gar nicht mehr gross die Gelegenheit, etwas zu sagen. Dafür kann ich mir jetzt vorstellen, wie es war, als die beiden noch zusammen lebten. Offenbar hatten sie sich schon auf dem ganzen Hinweg gestritten. Da scheint auf beiden Seiten noch nichts bewältigt oder abgeschlossen zu sein. Der Zank drehte sich denn auch nicht um die Ereignisse der letzten Tage, sondern um die Zeit nach meiner Geburt. Stell dir das vor! Im Stil von: wer hat damals mehr Fehler gemacht, wer hat wen vernachlässigt, wer hat besser zu mir geschaut? Kurz, wer ist an allem schuld? Ich stand daneben und fühlte mich wieder wie ein kleines Kind. Niemand interessierte sich für meine Fragen. Als sie allen Ernstes anfingen zu diskutieren, wer öfters aufgestanden sei in der Nacht, um meine Windeln zu wechseln oder mich zu beruhigen, reichte es mir endgültig. Ich drückte meinem Vater die Hundeleine in die Hand, bat ihn, noch ein paar Tage zu Buddy zu schauen und ging wortlos davon. Ich glaube, die beiden realisierten es nicht einmal wirklich. Erst auf der Talfahrt fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, wo ich jetzt bleiben sollte. Ich brauche für den Moment dringend einen ruhigen, stressfreien Ort, um meine Übersetzung fertig zu schreiben.“ Er zeigte auf den Rucksack. „Ich habe meinen Laptop von zu Hause geholt. Darf ich hier arbeiten? Die Auftraggeber sind mir entgegen gekommen und haben Destiny zuliebe den Abgabetermin auf morgen verschoben. Diesen gilt es nun unbedingt einzuhalten.“

    Natürlich durfte er bleiben, ich freute mich darüber. Doch ich konnte nicht umhin mir zu überlegen, weshalb er nicht zu Helene gegangen war. So wie er von ihr sprach, schien es etwas Ernstes zu sein zwischen ihnen. Allerdings hatte er mir nie erzählt, wie diese Liebesgeschichte begonnen hatte. Ich überlegte gerade, ob ich ihn einfach fragen sollte, als sein Handy mehrmals hintereinander piepste. Lola schickte viele süsse Fotos von der Hundefamilie und schrieb, dass alles in bester Ordnung sei und Destiny sich hingebungsvoll um ihre Babys kümmere. „Offenbar ist heute Muttertag“, textete Timo zurück, „ich habe nämlich gerade eine zusätzliche geschenkt bekommen. Erzähle dir alles demnächst.“ Obwohl er viele Smileys anfügte, sah er plötzlich traurig und müde aus. Gedankenverloren streichelte er Bella, die sich sogleich nahe zu ihm gesetzt hatte. „Hey“, sagte ich leise und holte eine Decke. „Schlaf erst mal ein bisschen, das wird dir gut tun. Mein Sofa ist sehr bequem. Du hast viel erlebt seit gestern Abend.“ „Ja, das kann man so sagen. Ich bin in wenigen Stunden um vier Hunde und eine Mutter reicher geworden. Ich glaube, das ist mein Rekord.“ Timo versuchte zu lächeln, doch seine Augen blieben ernst. Er nahm den Laptop aus dem Rucksack und zögerte einen Moment, bevor er sprach. „Wispy, ich kann jetzt nicht mit Mona sprechen. Ich brauche erst Zeit, um über alles nachzudenken. Eine vage Ahnung, die man ignorieren kann, ist eins, die Gewissheit etwas ganz anderes. Bis gestern war Mona einfach eine gute Freundin und heute soll sie plötzlich meine richtige Mutter sein? Ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen.“ Er nahm ein paar Kleider aus dem Rucksack und hielt sie fragend in der Hand hoch: „Darf ich ein paar Tage hier bleiben? Wenn meine Eltern abgereist sind, kann ich im Haus wohnen. Solange ich noch etwas vor Mum verbergen muss, möchte ich das lieber nicht.“ Ich nickte und beschloss, Helene nicht zu erwähnen. Wenn Timo in diesem Moment etwas bestimmt nicht brauchte, waren es meine neugierigen Fragen. Er würde mir von selbst erzählen, was los war, wenn er dazu bereit war. Ich liess eine Reservezahnbürste und ein Duschtuch für ihn im Badezimmer und schlüpfte endlich ins Bett.

    Bella folgte mir wie üblich ins Schlafzimmer. Mir schien, dass sie immer dünner wurde. In letzter Zeit liess sie wieder bedeutend mehr Futter im Napf zurück, egal, wie sehr ich sie fürs Fressen lobte. „Es tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe“, versicherte ich ihr und kraulte sie hinter den Ohren, wie sie es gern hatte. „Die Nachbarin hat doch sicher gut zu dir geschaut?“ Bella fing an zu schnurren und kuschelte sich an mich. Gerade als ich in den Schlaf glitt, merkte ich jedoch, wie sie wieder vom Bett sprang und aus dem Zimmer verschwand.

    Ich hatte länger geschlafen, als ich vorgehabt hatte, es war bereits späterer Nachmittag, als ich erwachte. Timo sass arbeitend am Küchentisch und Bella direkt neben dem Laptop, als ob sie mitlesen würde. Die Verbundenheit der beiden war von weitem spürbar. „Na du, hast du gut geschlafen?“ fragte Timo eine Spur zu fröhlich. Ich hatte von ihm gelernt, auf die kleinsten Untertöne und die Körpersprache der Menschen zu achten. Etwas stimmte hier nicht. Ich beschloss, für den Moment nicht zu fragen und wollte anfangen, uns etwas zu essen zu machen. „Lass doch“, meinte Timo, „ich bin fast fertig. Ich lade dich nachher in ein Restaurant ein, das haben wir uns verdient.“ Er schaute mich dabei nicht an. Etwas war nicht in Ordnung, nun war ich sicher. Ich liess ihn vorerst in Ruhe seine Arbeit fertig schreiben und ging unter die Dusche. Das flaue Gefühl, etwas Unangenehmes komme auf mich zu, liess sich jedoch nicht wegwaschen.

    „Es macht mir wirklich nichts aus, für uns zu kochen“, sagte ich, als ich in die Küche zurückkam. „Ich möchte meine Katze nicht schon wieder allein lassen. Sie macht mir diese Tage erneut Sorgen.“ Timo klappte eben seinen Laptop zu, als Bella vom Tisch sprang und zu ihrem Wassergeschirr im Bad ging. „Sie trinkt auch ziemlich viel. Kannst du sie bitte fragen, wie sie sich fühlt und warum sie nicht richtig fressen mag?“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wusste ich, was in der Luft lag. „Du hast bereits mit ihr gesprochen, nicht wahr?“ Meine Stimme tönte fremd durch den Kloss, der sich sofort in meiner Kehle gebildet hatte. Als Timo nicht gleich antwortete und dafür nach meiner Hand fasste, traten mir die Tränen in die Augen. „Stirbt sie?“ flüsterte ich kaum hörbar. Timo drückte liebevoll meine Hand. „Noch nicht jetzt. Doch sie macht sich langsam bereit, denn die Krankheit wird ihr immer mehr Beschwerden bringen. Du weisst ja, dass chronische Niereninsuffizienz meistens unheilbar ist. Wie viele Haustiere hat sie jedoch das Gefühl, für ihren Menschen so lange wie möglich durchhalten zu müssen. Sie hat mir eine ganze Reihe Bilder glücklicher, inniger Momente mit dir gesandt, um zu zeigen, wie geliebt sie sich fühlt. Doch Katzen sehen das Sterben anders als wir. Von allen Tieren wechseln sie am mühelosesten zwischen den Welten, es macht ihnen keine Angst. Viele waren schon mehrmals auf der Erde. Bella weiss, dass sie nach ihrem Tod weiterhin bei dir sein kann, nur auf eine andere Art und Weise. Wenn dir das bewusst ist und du aufmerksam bist, wirst du sie spüren und hören können. Zu intensives Trauern hingegen würde es für sie schwierig machen, zu dir durchzudringen.“ „Wie lange haben wir noch?“ fragte ich durch meine Tränen. „Wahrscheinlich einige Wochen oder gar Monate“, beruhigte mich Timo. „Es kann gut sein, dass sich Bella nochmals für eine Weile erholt. Doch sie spürt, dass ihre Zeit abläuft und will dich nicht unvorbereitet verlassen.“ In diesem Moment kam meine geliebte kleine Katze in die Küche zurück und strich erst Timo, dann mir um die Beine. Ich hob sie auf und drückte meine feuchte Wange gegen ihr Fell. „Ich kann mir das Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen“, flüsterte ich in ihr Ohr. „Das weiss sie, das ist es ja. Loslassen ist unendlich schwer und schmerzhaft, doch wir müssen es unseren Tieren zuliebe lernen. Bella möchte, dass ich dir dabei helfe und dir alles erzähle, was ich vom Übergang der Tiere und ihrem Leben danach weiss.“ Timo zog mich vom Stuhl hoch. „Doch es muss nicht heute sein. Ihr habt wirklich noch Zeit. Komm, wir gehen bei der Tierarztpraxis vorbei und besuchen die Hundefamilie. Lola und der Doktor sind vielleicht froh, wenn wir Destiny kurz nach draussen mitnehmen. Danach gehen wir fein essen.“ Als ich mit einem Blick auf Bella protestieren wollte, versicherte er mir: „Glaub mir, es ist ihr bedeutend lieber, wenn du mit mir weggehst, als wenn du sie nun jeden Moment ängstlich beobachtest. In ein paar Stunden sind wir wieder da. Vorläufig musst du noch nicht mit dem Schlimmsten rechnen, sie wird es uns wissen lassen, wenn ihre Zeit näher kommt.“ Ich gab nach. Als wir uns zum Gehen bereit machten, begann ich mich auf die Hundefamilie zu freuen und war eigentlich doch ganz froh, dass ich nicht kochen musste. Zudem hatte ich endlich die Gelegenheit, meine neuen, modernen Kleider auszuführen. Die kräftigen Farben schmeichelten mir wirklich, bemerkte ich zufrieden, als ich mich im Spiegel betrachtete.

    Auf dem Weg nach unten klingelte ich bei Erna, der Nachbarin, die Bella gefüttert hatte, um mich zu bedanken. Timo war vorausgegangen, sie sah ihn nur noch durchs Treppenhaus verschwinden. „War das jetzt dein Sohn?“ fragte sie neugierig, doch ich konnte sehen, dass sie etwas anderes vermutete. Ich nickte bloss kurz. „Ich erkläre ihr den Irrtum ein anderes Mal“, dachte ich, „sonst kommen wir nie weg“, und folgte Timo die Treppe hinunter. „Du siehst übrigens zehn Jahre jünger aus, ich habe dich noch nie in solch auffallenden Kleidern gesehen“, rief Erna mir nach. „Ich glaube, sie hält dich tatsächlich für meinen jungen Liebhaber“, erzählte ich Timo ungläubig. „Vielleicht denkt sie, dass ich reich sei und dich aushalte. Erna wohnt noch nicht lange hier und ist eigentlich nett und hilfsbereit, bloss leider viel zu schwatzhaft. Sie liebt Tratsch und Klatsch über alles.“

    Es wurde ein lustiger Abend. Nachdem die Hunde versorgt waren, gingen wir zu viert essen. Timo erzählte Lola und dem Doktor kurz die grosse Neuigkeit und bat sie dann, das Thema für den Abend ruhen zu lassen. Die beiden kamen seinem Wunsch nach, obwohl ich Lola ansah, dass sie ihren Ohren nicht traute und viele Fragen gehabt hätte. Dafür hörten wir die neuesten Geschichten aus dem Tierarztalltag und hatten viel zu lachen. Als ich mich im Restaurant umblickte, sah ich einige verstohlene Blicke auf uns ruhen. Lola und der Doktor waren ein auffallendes Paar. Rein optisch passten sie absolut nicht zusammen, doch es war offensichtlich, dass sie sehr verliebt waren. Der Tierarzt wirkte auch in den Privatkleidern seriös, sie umso ausgeflippter. Timo ging wie immer sehr liebevoll mit mir um. „Du gibst den anderen Gästen Ideen, wäre ja nicht das erste Mal heute Abend, dass du jemanden verwirrst“, schmunzelte ich, worauf er mich erst recht fest drückte.

    Ich hatte ein bisschen mehr Wein getrunken, als ich mich gewöhnt war und fand plötzlich alles sehr lustig. Auch Timo spürte irgendwann die Müdigkeit und den Alkohol. Als wir ziemlich spät so leise wie möglich die Treppe hochgingen, mussten wir ein Kichern unterdrücken beim Gedanken, was Erna oder die anderen Leute im Haus jetzt wohl denken würden, wenn sie uns begegnen würden. Wir erschraken richtig, als sich plötzlich eine Tür öffnete und Erna im geblümten Morgenrock im Treppenhaus stand. Sie musste gelauscht haben, um uns zu hören. „Ich hätte deinem anderen Sohn gesagt, wo du bist und wann du nach Hause kommst“, sagte sie mit vorwurfsvollem, leicht beleidigtem Unterton. „Doch du hast mir ja nichts erzählt. Er wollte partout nicht bei mir in der Wohnung warten. Ich habe ihm ein paar Kissen hochgebracht. Dein Handy funktionierte wohl nicht heute Abend?“ Sie musterte Timo ungeniert. „Wer wartet oben?“ fragte ich verwirrt. Auf den Rest wollte ich um diese Nachtzeit nicht eingehen. „Nach dem Namen habe ich nicht gefragt“, sagte Erna süffisant. “Konnte ich denn ahnen, dass du nicht mehr nur einen, sondern offenbar plötzlich mehrere junge Söhne hast? Ein weiterer sitzt jedenfalls oben vor deiner Tür.“

  • Engel in Not

    Und tatsächlich: Zum zweiten Mal an diesem zu Ende gehenden Tag fand ich einen jungen Mann schlafend vor meiner Türe. Diesmal handelte es sich wirklich um meinen Sohn Cedric. Voller Sorge weckte ich ihn auf, beunruhigt, dass in Italien etwas passiert sein könnte. Vor Schreck fühlte ich mich wieder total nüchtern. Ceddie war sofort wach und auf den Beinen. Er umarmte und beruhigte mich: „Es ist alles in Ordnung zuhause, Mama. Ich erzähl dir drinnen, warum ich hier bin. Es geht um etwas Berufliches.“ Die beiden jungen Männer kannten sich noch nicht persönlich, obwohl ich jedem viel vom anderen erzählt hatte. Ich stellte sie einander vor und konnte es meinem Sohn nicht verübeln, dass er Timo misstrauisch musterte. Immerhin stand dieser um fast Mitternacht und nach einem offensichtlich feucht-fröhlichen Abend mit seiner Mutter vor deren Wohnungstür. Ich wünschte, wir hätten ein Pfefferminz- Bonbon lutschen können auf dem Heimweg. Timo hatte vor ein paar Tagen plötzlich mit dieser Gewohnheit aufgehört und ich selbst hatte keine dabei. „Ich erkläre Cedric alles in Ruhe in der Wohnung“, dachte ich und wühlte in der Tasche nach dem Schlüssel. Worauf Timo zu meinem Schrecken ziemlich laut ins nachtstille Treppenhaus hinaus sagte: „Das weisst du wohl noch gar nicht, Cedric: du wirst dich an mich gewöhnen müssen. Deine wundervolle Mutter und ich, wir leben seit heute zusammen.“ Dazu gab er mir einen gut hörbaren Kuss auf die Wange. Bevor ich reagieren konnte, legte er verschwörerisch den Finger an den Mund und zeigte nach unten. Dort schloss sich erst jetzt leise die Wohnungstür hinter Erna. „Sie sollte doch etwas haben für ihr Lauschen. Du kannst ihr morgen immer noch erklären, dass es ein Scherz war, wenn du die Kissen zurückbringst“, grinste Timo.

    Doch in der Wohnung war nicht zu übersehen, dass mein Sohn erst ganz beruhigt war, als er Timos Sachen auf dem Sofa sah. „Mal ehrlich, Ceddie“, schimpfte ich. „Spinnst du? Was hast du denn von mir gedacht?! Heute ist offenbar der Tag der Unterstellungen.“ „Hm“, verteidigte sich dieser. „Du siehst ungewohnt aufgebrezelt aus und wenn ich mich nicht irre, habt ihr beide eine Alkoholfahne. Ausserdem kommst du zu einer Zeit nach Hause, zu der du früher bereits tief geschlafen hast. Dein Handy war offenbar den ganzen Abend über ausgeschaltet. Kannst du mir verübeln, dass ich nicht wusste, was für Überraschungen noch auf mich warten?“ So erklärten wir ihm als erstes die Situation mit Timo. „Dann darf ich dich also nicht Papa nennen?“ schmollte Cedric zum Spass und die beiden Männer kriegten sich kaum mehr ein vor Lachen. Schliesslich fanden wir alle drei, dass wir trotz der späten Stunde Lust auf einen Kaffee hatten und während ich diesen für uns braute, überlegte ich laut, wie wir es mit den Schlafplätzen regeln könnten. „Zum Glück kann man das Sofa im ehemaligen Kinderzimmer ausziehen“, kam mir in den Sinn. „Es ist zwar etwas kompliziert und ich muss meine Malsachen zur Seite räumen, doch zu dritt schaffen wir das.“ „Ich bleibe nur für zwei oder drei Nächte“, sagte Ceddie dazu. „Da in der Firma ein grosses Projekt ansteht, brauchte ich noch einige wichtige Details zu den Plänen und beschloss heute Nachmittag ganz spontan, hierher zu fliegen und morgen die Punkte mit dem Projektleiter der Zürcher Firma gleich persönlich zu klären. Ich freue mich darauf, bei dieser Gelegenheit auch mein ehemaliges Arbeitsteam wieder einmal zu sehen. Gleichzeitig wollte ich meine Mama mit einem Besuch überraschen.“ „Quatsch“, sagte ich laut. Beide Männer sahen mich erstaunt an. „Du hast dich bestimmt nicht so sehr verändert in Italien, dass du zu einem derart spontanen Menschen geworden bist, Cedric. Also, rück raus damit, was ist los?“ Mein Sohn verdrehte die Augen: „Mütter! Also gut, ich muss etwas mit dir besprechen. Doch damit möchte ich gern bis morgen warten. Es ist nichts, was dir heute Nacht Sorgen machen müsste.“ Ich liess mir nochmals ausdrücklich versichern, dass mit Angelita und Sofia alles in Ordnung sei. Zusammen richteten wir Ceddies Schlafplatz her und gingen bald darauf zu Bett. Der Kaffee und meine Gedanken hielten mich zwar noch eine Weile wach, doch dann schlief ich tief und traumlos.

    Als ich am nächsten Morgen früh erwachte, hörte ich unterdrücktes Gelächter und angeregtes Geplauder aus der Küche. Die beiden Männer verstanden sich offenbar prächtig und dem Kaffeeduft nach zu urteilen, hatten sie bereits Frühstück gemacht. Als ich die Küche betrat, erzählte mein Sohn soeben eine lustige Episode aus Rom und hatte in die italienische Sprache gewechselt, übersetzte jedoch sofort für mich. „Das wirst du nicht mehr lange tun müssen, Cedric“, schmunzelte Timo, „Wispy hat mich nämlich gebeten, ihr Italienisch beizubringen. Wir haben bereits angefangen und sie lernt schnell.“ „Sprechen kann ich noch nicht viel“, erklärte ich meinem Sohn, „doch mit Timos spezieller Methode fange ich bereits an, recht gut zu verstehen.“ Cedric freute sich sehr. „Toll, dass du das noch auf dich nimmst, Mama. In deinem Alter ist es sicher nicht einfach, eine neue Fremdsprache zu lernen.“ „Sehr charmant, die Erwähnung meines Alters, sie wäre nicht nötig gewesen“, konterte ich mit einer Grimasse. „Doch ich kann dir versichern, so wie ich lernen darf, ist es ein wunderbares Abenteuer.“ Darüber wollte Cedric mehr wissen und so erklärten wir ihm über dem Frühstück Timos Methode.

    „Ich habe eigentlich keine Lust, mit dir Vokabeln und Sätze zu büffeln“, hatte er zu mir gesagt. „Bist du offen für ein Experiment? Ich möchte, dass du lernst wie die kleinen Kinder, indem du die neue Sprache auf der rein emotionalen Ebene aufnimmst. Italienisch eignet sich hervorragend dafür. Ich werde dir etwas erzählen und du gehst einfach mit dem Herzen mit, hörst auf die Melodie meiner Sätze und spürst die Gefühle, die mitschwingen. Man weiss heute, dass das Herz über ein eigenes Gehirn von etwa 40‘000 Neuronen verfügt, welches zwar in ständigem Austausch ist mit dem Kopf-Gehirn, jedoch unabhängig davon eigenständig arbeitet, lernt und denkt. Es hat ein ungefähr 60 Mal stärkeres elektrisches Feld und ein bis zu 5000 Mal grösseres magnetisches Feld als das Gehirn, stell dir das einmal vor! Man kann es mehrere Meter vom Körper entfernt noch messen. Über diese unsichtbare Energie sind wir mit allen und allem verbunden und haben Zugang zu unendlich viel kollektiver Information. Auf diesen Wellen verstehe ich die Tiere und lese fremde Gedanken. Ob man auf dieselbe Art eine Fremdsprache lernen kann, weiss ich nicht, doch es müsste möglich sein. Am Anfang werde ich dir zuerst in grossen Zügen auf Deutsch erzählen, wovon ich nachher sprechen werde, das macht es einfacher für dich. Versuch danach nicht, die italienische Sprache bewusst zu verstehen. Indem du die Bilder zulässt, die in deinem Inneren aufsteigen, wirst du plötzlich auf einer Wellenlänge sein mit mir und intuitiv wissen, wovon ich spreche. Schalte den Verstand aus und hol dir deine Informationen einfach mit dem Herzen – mühelos, leicht und magisch.“ Am Anfang konnte ich mich nicht richtig darauf einlassen, mein Hirn funkte dazwischen und ich versuchte ständig, einzelne Wörter und Sätze zu verstehen und einzuordnen. Timo zeigte mir eine kurze Atemmeditation, die mein Bewusstsein vom Kopf aufs Herz lenkte. Zudem versprach er mir, während der Erzählung die wichtigsten Ausdrücke aufzuschreiben, damit ich sie nachher mit ihm zusammen anschauen und lernen konnte. Nun war mein Verstand zufrieden und es wurde mir möglich, loszulassen und Timo sozusagen auf einer Reise ins Unbekannte zu folgen und diese zu geniessen.

    Als er mir während der Nacht in der Tierarztpraxis, kurz vor Tagesanbruch, einen Ferientag im Heimatdorf seines Vaters beschrieb, gelang es mir besonders gut. Vielleicht lag es an der Stille rundum und an der speziellen Situation, vielleicht auch daran, dass all meine Sinne bereits für Destiny hellwach und offen waren. Ich wusste sofort, dass Timo in der Erzählung barfuss unterwegs war, ich konnte den sonnenwarmen Boden unter meinen Füssen spüren. Er war offenbar noch ein Kind, denn er erzählte von seiner Nonna und dem Nonno. Ich streifte mit ihm durch die Strassen des Dorfes, sah ihn auf dem Pausenplatz des einzigen Schulhauses Fussball spielen mit seinen Freunden und hörte, dass er ausgeschimpft wurde zuhause, weil er schon wieder zu spät zum Essen kam und die neue Hose bereits Löcher und Risse aufwies. Danach erzählte Timo die Geschichte nochmals, diesmal ausführlicher, indem er die Gespräche zwischen seinen Kollegen und die Schelte seiner Grossmutter wörtlich mit einbezog. Da ich mich nicht mehr auf den Ablauf seiner Erzählung konzentrieren musste und Timo sehr lebhaft und mit viel Pantomimik erzählte, realisierte ich plötzlich, dass ich praktisch alles verstand. Die Notizen waren nur noch eine Bestätigung und Unterstützung.

    „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, das zu hören“, sagte Cedric mit so viel Nachdruck, dass ich ihn erstaunt ansah. Dadurch entging mir nicht, dass die beiden jungen Männer einen schnellen Blick wechselten. Ich schob meine Kaffeetasse zurück. „Nun bist du dran, mein Sohn“, sagte ich mit Bestimmtheit. „Erzähl mir den wahren Grund deines Besuches.“ Cedric sah Timo hilfesuchend an. „Ich möchte dich um etwas bitten, doch ich weiss nicht recht, wo ich beginnen soll….“zögerte er und ich sah plötzlich so etwas wie Tränen in seinen Augen. „Du hast doch gesagt, dass nichts passiert sei? Brauchst du Geld?“ Meine Stimme tönte schrill. Ich habe meinen Sohn nur selten weinen sehen, seit er erwachsen war, gar nie mehr. Timo nickte ihm aufmunternd zu. „Fang einfach von vorne an, mit dem, was du ihr bisher noch nicht erzählt hast. Sie wird dich verstehen.“ Er lächelte mir beruhigend zu, doch griff er weder nach meiner Hand noch nahm er mich in den Arm wie sonst, wenn es mir nicht gut ging. „Wegen Ceddie“, dachte ich und mir wurde klar, dass diese Vertrautheit auf meinen Sohn in der Tat ein wenig seltsam wirken könnte. Cedric hatte sich wieder gefasst und nahm einen tiefen Atemzug. „Ich mache es kurz. Angelita war in den letzten Monaten zwei Mal schwanger. Wir wünschen uns so sehr ein weiteres Kind. Sie wollte dich mit der Nachricht überraschen, sobald die ersten drei Monate überstanden gewesen wären. Soweit kam es leider beide Male nicht, sie verlor ihre Babies jeweils nach wenigen Wochen. Selbst wenn man anfangs Schwangerschaft bekanntlich mit so etwas rechnen muss, hatten wir eine schwere Zeit. Angelita war untröstlich und weinte tagelang. Sie wollte mit niemandem darüber sprechen und bat mich, es dir noch nicht zu sagen. „Wir erzählen es Mamita, wenn das nächste Kindlein unterwegs ist und die Schwangerschaft gut verläuft. Dann ist es weniger schlimm, weil wir zugleich eine gute Nachricht haben“, meinte sie. „Doch nun…“ Cedric suchte nach Worten. „….Klappt es nicht mehr?“ fragte ich und dachte an meine eigenen kinderlosen Jahre zurück. Cedric machte eine ratlose Handbewegung. „Das wissen wir noch gar nicht. Der Arzt gab zwar grünes Licht, doch Angelita wagt es nicht mehr. Die schwierige erste Schwangerschaft hinterliess bereits eine gewisse Angst in ihr, dazu kamen die Hormonschwankungen der letzten Wochen und die Achterbahn der Gefühle. Das Schlimmste ist, dass sie nicht darüber reden will. Es ist ja nicht so, dass wir nicht zuwarten könnten. Wir sind noch jung und es hat in der Familie und Nachbarschaft genügend Kinder, die wie Geschwister sind für Sofia. Doch ich erkenne Angelita nicht mehr wieder. Sie lacht und tanzt nur noch selten und ist oft in Gedanken versunken. Sie vermisst dich so sehr, Mama. Sie weint manchmal nach dem Skypen mit dir. Unser Alltag ist oft sehr chaotisch mit dem ständigen Kommen und Gehen und dem vielen Lärm. Bisher hatte Angelita das genossen, doch nun ist es manchmal zu viel für sie. Du könntest ihr Ruhe und Stabilität geben. Ich habe ihr vorgeschlagen, für eine Weile hierhin zu ziehen mit Sofia, doch das will sie nicht, da ich in absehbarer Zeit nicht mitkommen könnte wegen der Arbeit. Kannst du nicht für ein paar Wochen oder Monate zu uns nach Rom kommen?“ „Ich kann doch nicht einfach plötzlich weg von hier“, sagte ich überrumpelt. „Da ist Bella…und ich habe fest versprochen, mit den jungen Hunden zu helfen. Zudem hast du bestimmt die Bilder im Malzimmer gesehen, ich plane im Oktober eine kleine Ausstellung in einer Buchhandlung. Diese könnte ich allerdings absagen, mein Engel ist mir natürlich wichtiger.“ So hatte ich Angelita immer genannt. Selbstverständlich wollte ich helfen, dennoch fühlte ich mich im ersten Moment überfordert von der überraschenden Bitte. „Ich meinte nicht, dass du gleich alles Stehen und Liegen lassen sollst“, versicherte mir Cedric. „Nur schon zu wissen, dass du kommst, würde Angelita aufmuntern. Vielleicht an Weihnachten? Da hättest du uns ohnehin besucht, wie wäre es, wenn du früher anreisen und länger bleiben würdest? Bis es in der Schweiz wieder Frühling wird? Den Winter hier magst du ja ohnehin nicht.“

    „Das würde ich wirklich gern, doch was mache ich mit Bella? Es geht ihr nicht mehr gut.“ Während ich Cedric traurig die neue Entwicklung in der Krankheitsgeschichte meiner Katze schilderte, sagte Timo kein einziges Wort und zeichnete mit der Gabel konzentriert Muster auf seine Papierserviette. Ich stupste ihn an. „Timo, was meinst du? Bella lebt doch hoffentlich noch an Weihnachten?“ Nun endlich blickte er auf und sah mir direkt in die Augen. „Sie könnte dir zuliebe solange durchhalten. Doch sie hat jetzt ständiges Magenbrennen, eine Folge der Nierenkrankheit. Viele Katzen bekommen davon irgendwann Entzündungen im Hals oder Geschwüre im Mund. Vorhin zeigte sie mir, dass sie die Kraft in den Hinterbeinen verliert, ich nehme an, dass sie einen Kalzium- oder Kaliummangel und vielleicht eine Blutarmut hat. Ihr ist jetzt oft übel. Katzen leiden still, mach dir keine Vorwürfe, dass du die Verschlechterung nicht bemerkt hast. Selbst ich musste heute nochmals nachbohren, gestern kamen nicht viele Detailinformationen zu ihrem Gesundheitszustand. Ich schlage vor, dass wir Bella so bald wie möglich zum Doktor bringen. Mit Medikamenten kann sie noch ein paar Wochen bei recht guter Lebensqualität bei dir bleiben. Doch wie ich dir gesagt habe, ist sie bereit, bald einmal zu gehen.“ Er beobachtete Bella, die gerade gründlich ihr wunderschönes, dreifarbiges Fell putzte und schüttelte lächelnd den Kopf: „Diese Katzen! Solche Antworten bekomme ich nur von ihnen. Sie nehmen das Sterben wirklich leicht. ‚Es ist doch nur ein Körper‘, sagte sie mir soeben. ‚Wenn ich will, bekomme ich einen neuen. Doch ohne kann ich immer bei ihr sein. Ich gehe nicht wirklich weg, ihr werdet mich weiterhin spüren und hören. Du weisst das, also sag es ihr!‘“

    Dies war zwar schön zu hören, dennoch wurde ich sehr traurig und machte mich daran, die Küche aufzuräumen, um mich wieder zu fangen. Das Gespräch der Männer drehte sich nun um eine grosse Aktion, die Timo im Herbst plante, schweizweit. Noch nie hatte er mit so vielen Leuten Flashmobs durchgeführt, doch das Thema lag ihm offenbar besonders am Herzen. Er ereiferte sich, als er es Cedric erzählte und ich hörte überrascht, wie seine Stimme immer lauter und wütender wurde. Lilly kam mir in den Sinn und wie sie mir erzählt hatte, dass er sich bei Leuten in Pelzmänteln oder mit Fellkrägen manchmal nicht mehr im Griff hätte. Ich hörte genauer hin und wirklich: es ging um Pelz. „Dass es Menschen gibt, denen es egal ist, dass wehrlose Tiere ihretwegen lebendig gehäutet werden, werde ich nie verstehen können. Es schockiert mich zutiefst. Wenn jedoch in den Läden Jacken mit dem Vermerk: „Synthetischer Fellbesatz“ verkauft werden, obwohl es echtes Fell ist, für das Tiere ihr kurzes Leben lang und erst recht beim Sterben fürchterlich leiden mussten, dann macht mich das so was von zornig. Ich verstehe nicht, dass man die Leute so irreführen darf. Dies muss verboten werden. Da will man sich nicht mitschuldig machen an diesem Elend und wählt im guten Glauben das, was man für unechten Pelz hält, vielleicht überzeugt, dass der tiefe Preis dies bestätigt. Doch die traurige Wahrheit ist, dass lebendig häuten leider nochmals billiger kommt. Diese Kragen, Bommeln und Pelzbesätze werden so unglaublich brutal hergestellt, dass man zur Sicherheit überhaupt nichts mit Fellverzierung kaufen sollte. Wir wollen mit einer grossen Aktion aufklären und die Geschäfte brandmarken, die den Betrug mitmachen. Im Namen des Profits darf nicht einfach alles erlaubt sein. Es soll eine laute Sache werden, die hoffentlich viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und den Medien erfährt. Leider weiss ich noch nicht genau, wie wir es am besten anpacken.“

    „Du hast doch bestimmt viele Helfer?“ fragte Cedric. „Zum Organisieren habe ich leider nur wenige aktive Helfer, unter den Flashmobbern hat es vor allem Achso-ser.“ „Es hat– was?!“ fragten Ceddie und ich gleichzeitig. „So nenne ich sie bei mir, all diejenigen mit den tollen Ideen und Vorschlägen und den hochfliegenden Plänen, gern auch radikal, doch sobald ich ihnen eine konkrete Aufgabe übergeben will, kommt dieses langgezogene: ‚Ach so…nein, weisst du…‘ und dann folgt die Ausrede. Keine Zeit, keinen Mut, keine Lust. Achso-ser gibt es überall, ihr kennt sie bestimmt. Sie jammern jahrelang über dieselben Probleme in ihrem Leben, doch wenn man ihnen vorschlägt, etwas drastisch zu ändern, kommt unweigerlich: ‚Ach so, nein…das dann doch nicht.‘ Oder in meinem Fall: Grossartige Reden schwingen bei jedem Treffen und mich als zu wenig radikal beschimpfen, selbst jedoch möglichst nichts beitragen und sich nicht die Finger verbrennen. Wenn alles organisiert ist und man nur noch mitmachen muss, kann ich zum Glück auf viele Leute zurückgreifen.“

    Cedric schaute auf die Uhr und sprang auf. „Tut mir leid Timo, ich muss los zum Termin mit dem Projektleiter. Doch ich werde ebenfalls darüber nachdenken. Vielleicht kommt mir eine gute Idee.“ Dann ging er zu seinem kleinen Rollkoffer und kam mit einer hübschen Schachtel, die mit farbigen Froschköpfen verziert war, zurück. Ich liebe alle Tiere, doch Frösche besonders. „Von Angelita“, sagte Cedric. Neugierig öffnete ich die Schachtel, die ganz leicht war. Sie war bis obenhin gefüllt mit Post-it Zetteln, kleinen Notizen von Angelita an mich, wie sie sie früher in der Wohnung verteilt hatte. „Die schreibt sie jedes Mal, wenn sie dich vermisst“, rief Cedric vom Korridor her, wo er bereits dabei war, seine Schuhe und Jacke anzuziehen. So sah er nicht, wie gerührt und den Tränen nah ich mit der Schachtel am Küchentisch sass. Angelitas weiche, schwungvolle Schrift verschwamm vor meinen Augen. Ich konnte nicht mehr sprechen. Timo stand auf und fuhr mir mit der Hand leicht über den Rücken: „Ich brühe uns frischen Kaffee auf, ok?“ So hatte ich einen kleinen Moment für mich. Wenn meine Entscheidung nicht bereits festgestanden hätte, so wäre sie es jetzt. „Timo, ich -„ fing ich zögernd an. Er drehte sich um. So sehr es mich am Anfang irritiert hatte, dass er alle Gedanken auffing, so angenehm fand ich dies unterdessen. „Es ist die richtige Entscheidung“, sagte er und ich war ihm dankbar, dass ich nicht weiter sprechen musste. „Ich helfe dir durch die letzte Zeit mit Bella hindurch. Bis du gehst, haben wir bestimmt liebevolle Plätze für die Welpen gefunden. Italien wird dir gut tun. Die Sprache lernst du im Nu, du wirst sehen.“ Er setzte sich hin und füllte unsere Tassen mit frischem Kaffee. „Ich werde dich so sehr vermissen“, dachte ich. Er schaute auf und lächelte. „Ich weiss. Ich dich auch.“ Hatte er das gesagt – oder nur gedacht? „Timo…habe ich soeben deine Gedanken gelesen?“ fragte ich ihn ungläubig. „Du hast vorhin nicht gesprochen, oder?“ „Nein, du Musterschülerin, du machst Riesenfortschritte, ich bin total stolz auf dich“, strahlte Timo.

    Als er uns Kaffee eingeschenkt hatte, räusperte er sich. „Wispy, ich konnte nicht wissen, dass dein Sohn hier auftaucht und dir diesen Vorschlag macht. Ich weiss nicht, ob das nun etwas ändert. Ich habe nämlich ebenfalls eine ganz grosse Bitte an dich. Ich spreche sie jetzt einfach offen aus. Du hast nachher genügend Zeit, darüber nachzudenken.“ Ich lächelte ihm aufmunternd, doch mit leicht mulmigem Gefühl zu. Timo war selten so ernst. „Diese Anti-Pelz Kampagne startet vermutlich Ende Oktober oder Anfangs November, wenn die Winterkleider in den Verkauf kommen. Dann bist du wahrscheinlich noch hier. Bevor wir etwas unternehmen, werden wir in den Geschäften sorgfältig recherchieren, sprich die Herkunft der Pelzprodukte und die Einhaltung der Deklarationspflicht überprüfen. Schwarze Schafe erhalten später einen besonderen Besuch von uns. Doch da es absolut keinen Pelz ohne Tierleid gibt, soll überall aufgeklärt werden, auch in den teuren Pelzläden. Dort würden wir jungen Leute vermutlich sofort weggeschickt oder zumindest scharf beobachtet. Du hingegen würdest als interessierte Kundin durchgehen, könntest dich in den Geschäften umsehen und uns danach einen ungefähren Übersichtsplan zeichnen, falls wir den für die Aktion brauchen. Ich frage dich wirklich ungern, doch unter den Flashmobbern gibt es keine Frau in deiner Altersklasse.“ „Das Alter allein macht noch keine potentielle Kundin“, gab ich zu bedenken. „Ich sehe nicht aus, als ob ich das Geld für einen echten Pelzmantel hätte.“ „Das stimmt, wir werden dich ein wenig stylen und entsprechend einkleiden müssen. Dies ist kein Problem und Schauspielern hast du bei mir bereits recht gut gelernt. Falls du nein sagst, und das darfst du wirklich, finden wir eine andere Lösung oder lassen diesen Teil der Aktion aus. Ich respektiere jede deiner Entscheidungen, das weisst du. Überleg es dir in Ruhe. Immerhin müsstest du einige Tage deiner Zeit opfern und vermutlich in der ganzen Schweiz umher reisen. „Ach so…nein, das wäre mir viel zu anstrengend“, entgegnete ich und es brauchte einen Moment, bis Timo realisierte, dass ich ihn hochnahm. Natürlich sagte ich zu. Endlich durfte ich bei einer Aktion mitmachen. „Heisst das, dass ich vom Aussendienst in den Innendienst wechsle?“ foppte ich ihn mit der lustigen Umschreibung, die er am Anfang unserer Bekanntschaft gemacht hatte. „Oh nein, wenn es ernst wird, bleibst du schön brav zu Hause. Ich bitte dich nur ums Rekognoszieren.“ Ich nickte folgsam, während ich innerlich vor mich hin lächelte. Ich hatte ganz andere Pläne, doch diese musste ich in Timos Gegenwart für mich behalten.

  • Familienbande

    -17-

    Nachdem wir uns telefonisch angemeldet hatten, packten wir Bella in ihre Tragetasche und fuhren zur Tierarztpraxis. Destiny und die Welpen waren tagsüber noch immer im Nebenzimmer untergebracht. „Es ist am einfachsten so“, meinte Lola, „im Moment schlafen die Kleinen noch fast den ganzen Tag. Doch bald werden sie anfangen, ihre Umgebung zu erkunden, deshalb wollen wir die Hundefamilie zu Mona bringen, sobald wir deren Betreuung untereinander organisiert haben. Wir dürfen das Auto ausleihen, wärst du bereit zu fahren, Timo?“ Als er nicht gleich Antwort gab, realisierte sie offenbar, dass nichts mehr war wie früher. „Kein Problem, ich frage jemand anderes“, sagte sie schnell, ohne Timo anzuschauen.

    Bellas Gesundheit hatte sich tatsächlich massiv verschlechtert. „Sie ist nun im vierten und letzten Stadium der Krankheit, doch für den Moment geht sie gut damit um“, informierte mich der Doktor und sah mich mit seinen dunklen Augen mitfühlend an. „Wie Timo vermutet hat, braucht deine Katze Kalium und leidet unter Blutarmut. Die kam wohl schleichend, und da ich die Ursache, die Insuffizienz der Nieren, nicht beseitigen kann, wird es schwierig werden, etwas dagegen zu unternehmen. Ich spüre trotz allem Energie und Lebenskraft in ihr, sie bleibt dir sicher noch eine Zeitlang erhalten. Doch leider kann es irgendwann plötzlich schnell gehen.“ Ich liess mir die Medikation erklären und setzte Bella wieder in ihren Tragekorb, nur wenig beruhigt. „Komm, schauen wir uns die jungen Hunde an“, schlug Timo vor. „Das wird dich aufheitern.“ Wir durften meine Katze bei Lola am Empfang lassen und gingen ins Nebenzimmer. Destiny lag auf der Seite, während drei ihrer Babys selig am Nuckeln waren. Sie machten zufrieden schmatzende Geräusche, während ihre kleinen Stummelschwänzchen begeistert hin und her wackelten. Nur der kleine, goldfarbene Nachzügler schlief, an den Bauch seiner Mutter gepresst. „Er ist unser Sorgenkind“, hatte uns Lola bereits erzählt. „Zwar trinkt er brav, doch er wird schnell müde und schläft ein, bevor er die nötige Menge Nahrung zu sich genommen hat. Er wiegt dementsprechend ein bisschen weniger als seine Geschwister. Wir achten nun darauf, dass er möglichst an einer der hinteren Zitzen saugt, die produzieren in der Regel mehr Milch als die vorderen.“ Nun kam sie mit der Waage ins Zimmer. „Ich werde die Jungen nach dem Trinken wiegen und kurz mit Destiny rausgehen. Könnt ihr in der Zwischenzeit die Tücher in ihrem Korb auswechseln? Danach lassen wir die Hundefamilie wieder in Ruhe, in den ersten Tagen sollte sie so wenig wie möglich gestört werden.“

    Als wir gegen Mittag wieder zuhause waren, rief Cedric an und berichtete, dass er am Abend mit seinem ehemaligen Arbeitsteam essen gehen werde. „Ich fliege am Freitagmorgen zurück. Kochst du morgen zum Abschied für mich, Mama? So sehr ich das italienische Essen geniesse, ich vermisse deine Küche. Vor allem die superfeine Rahmwähe – bäckst du mir eine zum Dessert?“ Ohne die Antwort abzuwarten, redete Cedric weiter. So merkte er nicht, dass ich schlucken musste und nicht wusste, was ich sagen sollte. Zwar war mein Sohn darüber informiert, dass ich mich unterdessen vegan ernährte. Was er offensichtlich nicht realisiert hatte, war, dass ich es nicht mehr übers Herz brachte, überhaupt noch Milchprodukte zu kaufen. Früher nahm ich gedankenlos an, dass Kühe ohnehin Milch produzieren und gemolken werden müssten. Dass dies nur möglich ist, indem man die Muttertiere immer wieder schwängert und ihnen dann ihre Kälbchen sofort wegnimmt, damit nicht diese, sondern wir Menschen die Muttermilch trinken können, verdrängte ich lange. Erst als ich Timo und seinen kompromisslosen Tierschutz kennenlernte, stellte ich mich der Wahrheit und schaute mir sogar ein Video zum Thema an. Das sehnsüchtige, verzweifelte Muhen von Mutter und Kind, die in verschiedenen Teilen des Stalles untergebracht waren und sich hören, jedoch nicht sehen konnten, ging mir nie mehr aus dem Kopf.

    „Du siehst nicht glücklich aus“, bemerkte Timo, als ich den Hörer aufgelegt hatte. „Cedric würde sich sehr freuen, wenn du mit uns isst morgen Abend“, richtete ich ihm aus, „doch nun weiss ich ehrlich gesagt nicht, was ich kochen soll und vor allem, welches Dessert ich meinem Süssigkeiten liebenden Sohn zubereiten könnte, wenn es schon nicht seine Lieblingswähe sein wird. Er wird so oder so enttäuscht sein.“ Als ich Timo mein Dilemma erklärt hatte, schmunzelte dieser und startete seinen Laptop. „Ich glaube, da kann ich dir helfen…Rahmwähe und Nidelwähe ist dasselbe, oder?“ Als ich nickte, rief er zufrieden: „Da habe ich es doch bereits. Wir kaufen seit Neuestem fast alles, was wir brauchen, übers Internet ein. Wir haben da einen ganz tollen veganen Shop gefunden, der stets prompt und zuverlässig liefert. Albert bringt die Pakete jeweils mit ins Haus. So einfach hatten wir es noch nie mit Kochen, schau dir mal die vielen feinen Vorschläge auf diesen Seiten an! Und hier hab ich’s schon gefunden: das Rezept für vegane Nidelwähe.“ „Sieht fantastisch aus“, musste ich zugeben, „doch ob sie auch gut schmeckt? Das Original bestand doch fast nur aus Rahm.“ „Das tut sie bestimmt! Wir waren noch nie von einem der Rezepte enttäuscht. Wie wäre es, wenn du Cedric gar nichts sagst und schaust, ob er den Unterschied überhaupt merkt?“ Ich nickte bloss, denn ich war überrascht über die vielen kreativen Koch- und Backvorschläge und scrollte ungläubig durch die Seiten: „Schau mal! Ob Sauce Hollandaise, Käsefondue, Muffins, Weihnachtsgebäck, Dreikönigskuchen, Brownies, Panna Cotta …alles kannst du vegan herstellen! Das wusste ich ja gar nicht! Doch nun ist bereits Mittag vorbei und ich brauche die Produkte morgen, ist es nicht zu spät für eine Bestellung?“ „Im Gegenteil“, meinte Timo vergnügt, „wir können uns noch über eine Stunde Zeit nehmen, in Ruhe einkaufen und dennoch kommt das Paket morgen pünktlich mit der Post. Dieser tolle Service rettet uns jeweils bei Mona. Was denkst du, was da diskutiert wird, bis wir die Bestellung zusammen haben und jeder seinen Senf dazu gegeben hat.“

    Bella bekam ihre neuen Medikamente und legte sich erschöpft schlafen. Sie, die früher Tierarztbesuche stoisch über sich ergehen liess, regte sich nun jedes Mal fürchterlich auf. Je älter sie wurde, desto entschlossener war sie, sich von niemandem in einer Praxis anfassen zu lassen. Dies war der Grund dafür, dass ich die nötigen Kontrollen gern hinauszögerte, oft fast zu lange. Meine vierbeinige Seniorin wollte partout nicht mehr untersucht werden, sie fauchte, kratzte und versuchte zu beissen. Vor lauter Entrüstung hörte sie weder auf Timo noch auf Lola und dass sich nun ein besonders attraktiver Tierarzt um sie kümmern wollte, beeindruckte sie schon gar nicht. Sie konnte sich kaum mehr beruhigen und pinkelte auf dem Heimweg aus Protest in ihren Tragekorb. Erst zuhause, mit Leckerli verwöhnt und ausgiebig gestreichelt, hatte sie sich langsam wieder beruhigt.

    Während Timo und ich nun unsere gewünschten Lebensmittel in den virtuellen Warenkorb legten, sah ich meinen Moment gekommen. „Weisst du was“, sagte ich möglichst nebenbei, „wir können doch Helene zum Essen einladen morgen Abend. Dann lerne ich sie endlich richtig kennen und Cedric freut sich sicher auch.“ „Guter Versuch, du Wundernase“, lachte Timo und knuffte mich in die Seite, „du willst schon lange wissen, was zwischen uns los ist. Beziehungsweise, ob überhaupt noch etwas los ist.“ Dann seufzte er theatralisch. „Gut, dies ist wohl mein Preis für die Unterkunft hier. Lass uns die Bestellung fertig machen und dann erzähle ich dir alles.“ Und so hörte ich bei einer Tasse Tee, dass Timo schon länger ein Auge auf die hübsche Frau geworfen hatte, die er immer wieder mal im Shoppingcenter antraf. Als er mich damals losschickte, um mit ihr zu sprechen, hatte er ihren Frust und die Mutlosigkeit darüber gespürt, dass keine Boutique ihren Schmuck verkaufen wollte. Insgeheim hatte er gehofft, dass ich im Gespräch mehr über sie erfahren würde. Da dies nicht der Fall war, musste Timo selber aktiv werden „Zum Glück kauft sie oft in denselben Geschäften ein und dass man sie von weitem an ihrem Afrolook erkennt, half ebenfalls.“ Die Erinnerung liess Timo lächeln. „Dennoch brauchte ich Tage, bis ich den Mut fand, sie anzusprechen. Wir verstanden uns auf Anhieb und hatten eine wunderbare erste Zeit zusammen, doch jetzt…“ Er zuckte mit den Schultern und suchte nach Worten. Ich goss Tee nach und liess ihn in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. „Helene hat einen grossen Bekanntenkreis. Die meisten sind nicht Künstler wie sie, sondern Leute, die sie durch ihren älteren Bruder kennt“, fuhr Timo schliesslich fort. „Mit diesem kam ich vom ersten Moment an nicht klar und dies beruht auf Gegenseitigkeit. Wenn Helene und ich allein waren, verstanden wir uns prächtig. Ich half ihr, einen mehrsprachigen Online Shop für ihren Schmuck einzurichten, der bereits guten Erfolg hat. Für ihre Freundinnen und Freunde war und blieb ich jedoch der Eigenartige, der Sonderling, der Verrückte, der mit den Tieren spricht. Sie nannten mich den Hundeflüsterer und meinten dies nicht etwa als Kompliment. „Obendrein ist er ein überzeugter Veganer? Überrascht mich nicht. Die sind doch alle total extrem, wie jedermann weiss“, stichelte der Bruder dazu. Er behandelte sein Schwesterchen, wie er sie nannte, immer sehr fürsorglich und beschützend. Ich glaube, er hatte sich einen anderen Freund für sie vorgestellt. In einer solchen Runde bringt diskutieren nichts, das weiss ich unterdessen und spare mir normalerweise die Energie. Doch weil ich für Helene von ihrem Freundeskreis akzeptiert werden wollte, habe ich irgendwann versucht, zu erklären. „Ich bin nicht extrem“, begann ich. „Ich bin einfach gegen Gewalt an sensiblen, leidensfähigen Lebewesen und gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung von Tieren.“ Als ich mich so reden hörte, merkte ich, wie sehr ich mich bereits daran gewöhnt hatte, dass immer mehr Leute in meinem Umfeld ganz selbstverständlich vegan oder vegetarisch leben. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal für meine Überzeugung hatte rechtfertigen müssen. Doch in diesem Kreis kamen sofort Spötteleien. Die Männer ereiferten sich zum Teil auch aus Eifersucht, wie ich bald merkte, denn Helene gefällt vielen. Ihr Bruder förderte das, ich glaube, jeder in der Clique wäre ihm lieber gewesen als Freund für sein Schwesterchen. Selbst die Gewissensfrage wurde mir gestellt!“ Ich lachte laut heraus. „Tatsächlich! Und was hast du geantwortet?“ Die Gewissensfrage nannten wir das Szenarium, welches den meisten von uns früher, als der vegetarische und vegane Lebensstil den Leuten noch exotisch erschien, immer wieder mal ausgemalt wurde. Es lief stets ungefähr nach diesem Muster: Wie würden wir entscheiden, wenn wir auf einer einsamen Insel gestrandet wären und nun wählen müssten zwischen verhungern oder den mitgestrandeten, süssen Hund aufessen. Wahlweise hatten wir soeben ein Erdbeben oder einen Flugzeugabsturz überlebt, immer allein und mit einem herzigen Tier als einzig Essbarem. Timo grinste: „Ich sagte mit ernster Stimme, dass mir dieses Risiko sehr bewusst sei, da so etwas offenbar zwangsläufig passiere, sobald man aufhöre, Fleisch zu essen. Ich hätte deshalb immer Energieriegel in der einen Hosentasche und Hundefutter in der anderen, damit ich gewappnet sei. Sie fanden es nicht lustig. Ich hätte ihre Sticheleien dennoch problemlos ignorieren können, schliesslich wollte ich einfach mit meiner Freundin zusammen sein, doch mir blieb nicht verborgen, dass sie selbst zunehmend hin- und hergerissen war. Obwohl sie kaum Fleisch isst und Milchprodukte ohnehin schlecht verträgt, war sie eine „Normale“ für ihre langjährige Clique. Manchmal beneide ich sie fast, die Leute, die so unbelastet durchs Leben gehen und sich absolut keine Gedanken darüber machen, was sie mit ihrem Konsum anrichten. Ich möchte natürlich nicht zu ihnen gehören“, sagte er schnell, als er meinen Blick bemerkte, „doch Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen macht nicht immer nur Spass.“

    Timo hatte während dem Sprechen seine Unterlagen für einen neuen Übersetzungsauftrag zusammen gesucht, doch er fing noch nicht an zu arbeiten, sondern schaute aus dem Fenster. „Habt ihr euch getrennt?“ fragte ich vorsichtig. „Auf das kommt es wahrscheinlich heraus“, sagte er leise und traurig. „Im Moment bezeichnen wir es als Beziehungspause. Macht es jedoch nicht besser.“ Mir tat das Herz weh für Timo. In seinem Freundeskreis war er eine Art Leader, geachtet und respektiert von allen und der Kopf hinter den Flashmob-Aktionen. Liebevolle Spötteleien waren an der Tagesordnung und es gab auch mal Streit, so hatte man mir zumindest erzählt, doch gegenseitiger Respekt war immer da. „Ja, meine Flashmobber“, griff Timo meine Gedanken auf, „es gab tatsächlich einen davon in Helenes Clique. Ich hatte ihn sofort erkannt, doch er tat so, als ob er mich zum ersten Mal sehen würde und schaute schnell weg, wenn ich zu ihm hinblickte. Er passte sich seinen Freunden an und hatte nicht den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, wohl um nicht ausgelacht zu werden. Hättest du gedacht, dass es das noch gibt? Ein Problem waren auch Helenes Eltern. Da gab es den traditionellen Sonntagsbraten und die Einstellung, dass Tiere schliesslich zum Essen da seien, wozu denn sonst? Bloss ihrem Chihuahua gestanden sie Gefühle zu. Im Urlaub geht der Vater gern zum Hobbyangeln, daraus ergab sich natürlich auch kein erfreulicher Gesprächsstoff für uns beide. Kurz: der neue Freund ihrer Tochter war kein durchschlagender Hit bei der Familie.“ „Aber diese Tochter ist doch erwachsen“, warf ich ein. „Wohnt sie denn immer noch zu Hause?“ „Nein, das nicht; und am Anfang hielt sie fest zu mir und versicherte, dass ihr die Meinung anderer egal sei. Doch mit der Zeit merkte ich, dass es ihr halt doch etwas ausmacht. Sie ist noch jung und leicht beeinflussbar. Die Clique rund um ihren Bruder bedeutet ihr viel und wenn da jedes Mal Sprüche und Witze über meine offenbar übertriebene Tierliebe gemacht wurden und ich der Aussenseiter war, merkte ich immer öfters, dass sie lieber einen Freund hätte, der sich nicht so angreifbar macht. „Hat sie die Beziehungspause vorgeschlagen?“ fragte ich. Helene war mir damals sehr sympathisch gewesen und ich war enttäuscht, dass sie und ihre Clique nicht toleranter waren. „Intolerant würde ich die meisten nicht nennen“, erriet Timo wieder einmal meine Überlegungen. „Eher gedankenlos. Ich glaube der Hauptgrund, warum die Leute Tiere essen, ist, dass sie so aufgewachsen sind. Lange Zeit haben das die wenigsten hinterfragt, es war einfach normal und man machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Durchs Internet kommen jetzt jedoch die üblen Praktiken der Massentierhaltung ans Licht, wie auch die verheerenden Auswirkungen für die Umwelt. Man kann die Augen nicht mehr davor verschliessen. Manche Leute ändern daraufhin ihre Lebensweise über Nacht, für andere braucht das Umdenken mehr Zeit. Du kennst sicher das Zitat von Mark Twain: ‚Eine Gewohnheit kann man nicht einfach zum Fenster hinauswerfen; man muss sie Stufe für Stufe die Treppe hinunterlocken‘. Je nach Quelle heisst es auch: ‚die Treppe hinunterprügeln‘ oder ‚hinunterboxen‘. Für mich machen die verschiedenen Übersetzungen Sinn: nicht jede Gewohnheit will schliesslich gleich behandelt werden. Die einen sind hartnäckiger und aufsässiger als andere.“ Wir schwiegen beide. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Timo. Er sah niedergeschlagen aus, Helene hatte ihm offenbar viel bedeutet. „Apropos hartnäckig, Timo“, sagte ich leise, „ vielleicht musst du um Helene kämpfen? Wie seid ihr denn verblieben, hört ihr voneinander?“ „Im Moment nicht – es gab letzte Woche eine Art Eklat. Wir waren zur Grillparty in einer Waldhütte eingeladen. Ich hätte zwar viel lieber den Abend mit Helene allein verbracht, doch es wurde die Verlobung einer ihrer Freundinnen gefeiert, da wollte sie nicht fehlen. Als wir ankamen, sah ich nur Maiskolben, Gemüsespiesse und grosse Champignons auf dem Grill, sowie Salat und Brot auf den Tischen. Dies erstaunte mich für einen kurzen Moment, doch dann roch ich den Fleischgeruch in der Luft, den ich natürlich erwartet hatte. „Hier drüben wartet ein Tier auf dich, Timo, willst du ihm nicht noch etwas sagen zum Abschied?“ johlte Helenes Bruder über den Platz. Er hatte offenbar bereits einige Biere intus. ‚Es gibt Spanferkel‘, verkündete die Gastgeberin stolz. Ein Spanferkel, Wispy, das heisst, es würde eigentlich noch gesäugt von der Mutter! Mir wurde übel angesichts dieses Tierbabys mit dem feinen, jetzt verbrannten Gesichtchen, der empfindsamen Schnauze und den zarten Ohren, den Körper von einem Stab durchbohrt, welches sich über einem Feuer um sich selbst drehte. Schweine sind noch intelligenter als Hunde, ihr Bewusstsein entspricht etwa dem eines fünfjährigen Kindes. Dieses Tier hat Angst und Entsetzen erlebt, als es geschlachtet wurde, seine Mutter vermisst es schmerzlich und trauert. Mit einem Schlag vertrug ich die blöden Sprüche nicht mehr, das herzlose Lachen rundum; und ich gebe zu, ich bin ausgerastet. Ich weiss gar nicht mehr, was ich alles gesagt habe, doch ich glaube, es machte Eindruck. Wahrscheinlich nicht auf eine positive Art, allerdings waren alle ganz still, als ich wegging. Ohne Helene. Am nächsten Tag textete sie mir: ‚Ich hatte noch nie einen Mann so lieb wie dich, doch nun weiss ich nicht mehr, ob wir überhaupt eine Zukunft haben‘.“ Ich schrieb zurück: ‚Ich glaube, wir brauchen eine Pause, um nachzudenken‘ worauf sie nur noch mit ‚Ok‘ antwortete. Wahrscheinlich ist sie froh, dass sie mich los ist. Ich war ihr wohl zu unbequem. Heute Abend stand Kino auf dem Plan, wir wollten uns mit der Clique zusammen den neuen Star Trek Film ansehen. Ich werde stattdessen meine Eltern besuchen, sie reisen nun bald ab. So haben wir ein unverfängliches Gesprächsthema für den Abend, Mona wird mir nicht mal in den Sinn kommen. Am liebsten würde ich selbst auf eine lange Reise gehen. Oder auswandern.“

    So kannte ich Timo gar nicht, ich hatte ihn schon wütend, jedoch nie traurig oder mutlos gesehen. „Helene weiss gar nicht, was für einen besonderen, wunderbaren Menschen sie hier im Begriff ist zu verlieren“, ereiferte ich mich. „Vielleicht sollte ich einmal mit ihr sprechen?“ Timo lächelte müde. „Ich habe zwei Mütter, Wispy, das reicht.“ „Hast du ihr denn von mir erzählt? Weiss sie, dass wir uns kennen?“ wollte ich doch noch wissen. Er schüttelte den Kopf. „Noch nicht, ich wollte ihr erst noch alles erklären, bevor ich sie dir demnächst offiziell vorgestellt hätte. Sie hat dich bestimmt nicht vergessen.“ Timo trank seinen Tee aus und meinte, er mache sich jetzt besser hinter die Arbeit. Zuvor drückte er, zum wiederholten Mal heute, einen Anruf auf seinem Handy weg. „Meine Mutter“, sagt er auf meinem fragenden Blick hin. „Diejenige, die mich zur Welt gebracht hat. Ich bin noch nicht bereit, mit ihr über die ganze Sache zu sprechen. Ganz Mona kann sie nicht verstehen, dass es sich hier für einmal nicht nur um sie dreht.“ Mir kam eine Idee. „Timo“, fragte ich, „wenn du schon hier arbeitest, könntest du zu Bella schauen wenn sie wieder erwacht und sie füttern, bevor du zu deinen Eltern gehst? Ich würde gern auf einen Schwatz bei Samira vorbeischauen und das könnte dauern.“ Timo sagte sofort zu, ich glaube, er war froh, für eine Weile allein zu sein. Ich fuhr direkt zur Buchhandlung. Samira war offensichtlich erleichtert, mich zu sehen und zu hören, wie es weiter gegangen war. Als sie sich nochmals für ihre Schwatzhaftigkeit Gian-Luca gegenüber entschuldigte, hatte ich mein Stichwort. „Das kannst du wieder gutmachen, meine Liebe. Du begleitest mich heute Abend ins Kino und zeigst mir nochmals ein Muster deiner Schauspielkunst. Bis zum Ladenschluss bleibt mir genug Zeit, um dich genau zu instruieren.“

    Ich hatte Tickets für die zwei äussersten Sitze in der hintersten Kinoreihe besorgt, so dass wir vor der Pause aufstehen und ins Foyer gehen konnten, ohne jemanden zu stören. Helene und ihre Clique sassen viele Reihen weiter vorne, ich war nun ebenfalls froh, dass die junge Frau eine so auffallende Frisur hatte und leicht auszumachen war. Als sie sich während der Pause in die lange Reihe der Wartenden vor den Toiletten einreihte, standen Samira und ich sofort hinter ihr. Zum Glück waren ihre Freundinnen zum Kiosk gegangen, so hatten wir die junge Frau für uns. „Helene!“, tat ich überrascht, „Wie schön, dich zu sehen! Kannst du dich an mich erinnern? Ich habe dich vor einigen Wochen in einem Einkaufszentrum auf deinen Schmuck angesprochen.“ „Sicher erinnere ich mich an dich, du hast mir damals den Mut gegeben, meine Kollektion weiter anzubieten. Unterdessen verkaufe ich sie online und es läuft recht gut“, lächelte Helene freundlich. Ich stellte ihr Samira vor. „Ich habe meiner Freundin gerade heute von dir erzählt. Sie führt eine kleine, feine Buchhandlung in der Innenstadt. Im Oktober wird sie Bücher zum Thema ‚Kunst und Kreativität‘ ausstellen und ich darf bei der Gelegenheit meine Bilder präsentieren. Wir suchen noch weitere Künstlerinnen und Künstler, die etwas beisteuern können und die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, nutzen möchten.“ Nun überliess ich Samira das Feld, die erst mal überschwänglich den Schmuck bewunderte, den Helene trug und ihr ihre Visitenkarte gab. Ich war froh, dass sich die Schlange so langsam vorwärts bewegte. Die beiden schönen, auffallenden Frauen waren sich nicht nur vom Typ her etwas ähnlich mit ihren lockigen Haaren, sie hatten offenbar auch denselben Geschmack in Kleidern. Beide trugen lange Röcke und luftige Blusen über engen Tops, die ihre schlanken Figuren zur Geltung brachten. Sie verstanden sich auf Anhieb und waren gleich in ein angeregtes Gespräch über alles Mögliche verwickelt. Doch als die Schlange vor den Toiletten kürzer wurde und wir aufschliessen konnten, warf ich Samira einen warnenden Blick zu. Sie begriff sofort und sagte, als ob es ihr gerade in den Sinn gekommen wäre: „Nochmals zu meiner Buchhandlung…wir wollen vor der Kunst noch das Thema veganes Essen aufgreifen, um unsere vielen tollen Kochbüchern zu präsentieren. Die vegane Küche wird immer populärer. Ich dachte an einen Degustationsabend zum Auftakt und brauche noch Helferinnen. Würdest du mitmachen?“ Helene rollte die Augen: „Nein danke, von diesem Thema habe ich im Moment mehr als genug.“ „Warum denn das? Will dich jemand überzeugen?“ lachte Samira. „Das nicht, aber mein Freund ist Veganer und es ist nicht immer einfach.“ „Ja, die können recht intolerant und missionarisch sein“, nickte Samira. „Nein, das ist er überhaupt nicht. Wenn ich es mir recht überlege, sind in meinem Fall die Fleischesser die Intoleranten“, seufzte Helene mit einem schnellen Blick zu den anderen, die in einer Gruppe zusammen standen und unter viel Gelächter Popcorn in die Luft warfen und reihum versuchten, dieses mit dem Mund aufzufangen. Ich wusste sofort, welcher der jungen Männer Helenes Bruder war, selbst wenn sie sich äusserlich nicht besonders ähnlich sahen. Ich habe einen Blick für den Anführer oder das Alphatier einer Gruppe. „Doch sie sind meine langjährige Freundinnen und Freunde und ich mag sie“, fuhr Helene fort, „zudem schlägt meine ganze Familie in dieselbe Kerbe. Sie sind keine schlechten Menschen, nur manchmal gedankenlos und oberflächlich. Mein Freund missioniert zwar nicht mit seinen Ansichten, doch steht er klar zu dem, was er glaubt und wovon er überzeugt ist. Ich vermute, vor allem die Männer in meinem Freundeskreis sind ein wenig eifersüchtig auf ihn. Er ist auf eigenwillige Art attraktiv und weiss, was er will im Leben. Zudem hat er gewisse…na ja, aussergewöhnliche Fähigkeiten. Er versteht zum Beispiel immer, was andere Leute denken.“ „Hm“, sagte Samira nachdenklich zu mir. „Einen offenbar gut aussehenden Freund zu haben, der integer ist, klar zu seinen Überzeugungen steht und dennoch tolerant ist, das tönt wirklich nach einem schwierigen Schicksal.“ Und zu Helene gewandt: „Ich würde ihn sofort loswerden.“ Zum Glück hatte Helene Sinn für Humor und lachte laut heraus. „OK, das habe ich verdient. Wir sehen uns im Moment tatsächlich nicht, weil wir uns gestritten haben. Ehrlich gesagt, vermisse ich ihn sehr, doch ich spüre auch meine verdammte Harmoniesucht. Ich merke, dass ich automatisch von einem neuen Freund erwartete, dass er sich nahtlos in mein Leben einfügt und mich überall hin begleitet, ohne durch Anderssein anzuecken. Apropos Intoleranz: Mir wird grad einiges klar.“ Dann, mit einem schnellen Blick in Richtung ihres Bruders: „Doch es ist nicht einfach.“ „Tönt für mich, als ob du dir besser einen Hund statt eines Freundes zulegen würdest“, sagte Samira gnadenlos. „Wenn du Glück hast, liegt der brav und ruhig unter dem Tisch, stört nicht und bringt niemanden zum Nachdenken.“ „Ja, ja, ich hab’s verstanden, du kannst aufhören damit. Schönen Abend noch“, meinte Helene nun leicht genervt und verschwand in einer freien Toilette. „Ich habe noch viel zu sagen“, Samira war so richtig in Fahrt, „ich warte hier auf sie.“ „Ganz sicher nicht“, protestierte ich und zog sie weg. „Du hast das gut gemacht, doch du musst auch merken, wenn es genug ist. Du hast Helene auf jeden Fall einen Gedankenanstoss gegeben. Das reicht für heute. Ich wollte vor allem wissen, wie sie über Timo spricht und ob es noch eine Chance gibt für die beiden. Ich glaube, das kann man mit ‚Ja‘ beantworten. Sie hat nun deine Adresse, vielleicht nimmt sie das Angebot für eine Ausstellung an oder kommt zur veganen Degustation. Gute Idee übrigens! Wir müssen sofort die Webseite aktualisieren.“ „Ach, weisst du, das war nur so ein spontaner Gedanke, um aufs Thema zu kommen, eigentlich hatte ich für die nächsten Wochen eine Ausstellung über Fotografie geplant“, fing Samira an, doch mit einem Blick in mein Gesicht versicherte sie schnell: „Vegane Küche, geht klar. Zwei Schaufenster reichen, oder?“ „Eines der grossen ist genug, finde ich, dafür braucht es zusätzlich eine Themenecke im Ladeninneren. Dort, wo der Tisch und die Stühle stehen, damit es sich Interessierte mit den Büchern gemütlich machen und Rezepte nachschlagen können. Das Ganze muss nicht zwingend lange dauern, wenn du willst, kannst du eine vegane Woche daraus machen, dann hast du immer noch Zeit für deine Fotoausstellung.“ Ich hatte absolut nicht im Sinn, Samira so leicht davonkommen zu lassen.

    Den zweiten Teil des Films schenkten wir uns. Es war lange her, seit ich die Originale von Star Trek gesehen hatte und im Moment stand mir der Sinn weniger nach galaktischen Abenteuern. Dass ich bald für Monate nach Italien ziehen würde, beschäftigte mich zunehmend, selbst wenn ich mich sehr auf Angelita und meine kleine Enkeltochter freute. Timo hatte getextet, dass er bei den Eltern übernachten und erst am nächsten Vormittag wieder zu mir kommen würde. „Buddy hat sich so sehr über mein Kommen gefreut und Mom braucht Hilfe bei den Reisevorbereitungen. Sie kann sich nicht vorstellen, mit nur wenig Gepäck wochenlang unterwegs zu sein. Mein Vater ist da keine Hilfe“, schrieb er. „Zudem will er die Reiseroute nur in grossen Zügen festlegen und viel Platz für Spontanität lassen, eine Herausforderung für einen Kontrollfreak wie meine Mutter. Sie braucht ein bisschen moralische Unterstützung.“

    Cedric war noch nicht zuhause, als ich es mir mit Bella auf dem Schoss vor dem Fernsehgerät bequem machte. Doch die Fernbedienung blieb unberührt. Ich streichelte hingebungsvoll meine schnurrende Katze und liess die letzten Monate nochmals vor meinen Augen Revue passieren. So viel hatte sich in meinem Leben verändert, seit ich Timo kennengelernt hatte. Es war bewegter und schöner geworden, vor allem viel aufregender. Doch was auch immer passiert war, ich hatte stets diese gemütliche Wohnung als Rückzugsort, wo meine geliebte Katze auf mich wartete. Die Zukunft hielt plötzlich viel Ungewisses für mich bereit. Als Bella aufstand, um zu fressen, ging ich ins Malzimmer und schaute mir die angefangenen und die bereits fertigen Bilder an. Es roch nun immer ein wenig nach Farbe in der Wohnung. Ich hatte mir mit meinem Hobby ein Stück meiner Seele zurückgeholt. Wie hatte ich es so lange ausgehalten ohne zu malen? Der Gedanke, meine Werke zum ersten Mal öffentlich zu zeigen, machte mich jedoch sehr nervös. Samira hatte sich als Sujet Tiere und Wildnis gewünscht, passend zu ihren Reisebüchern. Konnte ich diesen Auftrag überhaupt erfüllen? Früher hatte ich eher abstrakt gemalt. Waren die Bilder denn schön genug für eine Ausstellung? Hätte ich doch besser wieder einmal einen Malkurs belegen sollen? Plötzlich waren da so viele Selbstzweifel in meinem Kopf. Während ich grübelnd mitten im Zimmer stand, hörte ich trotz der ziemlich späten Stunde Ernas Stimme unten im Treppenhaus. Mein Blick fiel auf die Kissen, die sie Cedric ausgeliehen hatte. „Oh gut“, dachte ich. „Die bringe ich ihr jetzt gleich zurück. Wenn sie mit jemand anderem im Gespräch ist, wird sie mich nicht auszufragen versuchen.“ Erst im helleren Licht des Treppenhauses sah ich die vielen Katzenhaare auf dem samtähnlichen Stoff. Bella hatte der weichen Unterlage offenbar nicht widerstehen können. Ich ging zurück in die Wohnung, um die Kleiderbürste zu holen und blieb dann horchend stehen. Da ich die Wohnungstüre offen gelassen hatte, hörte ich bis in die Wohnung, wie im unteren Stock eine tiefe, kräftige Männerstimme ungeduldig sagte: „ Nein, natürlich bin ich nicht ihr Ex-Mann, sonst wüsste ich ja wohl, wie sie mit richtigem Namen heisst. Sie ist eher klein und sieht irgendwie zipfelig aus, wie eine Troll Puppe mit schneeweissen Haaren. Sie wohnt bestimmt in diesem Haus, zumindest habe ich meinen Sohn einmal hier abgesetzt, als er sie besuchte. Er nennt sie nur Wispy.“ Ich ahnte gleich, dass es mit dem friedlichen, ruhigen Abend abrupt vorbei sein würde.

     

    Anmerkung: Wer neugierig ist, woher die Inspiration zu der veganen Nidelwähe kam, dem verrate ich hier den Link:

    https://www.hellovegan.ch/shop/rezepte/desserts/zutaten-vegane-nidelwaehe/

    Lasst euch überraschen! Maja

  • Bleibt nichts, wie es war?

    -18-

    Ich ging Gian-Luca auf der Treppe entgegen und drückte im Vorbeigehen Erna die Kissen in den Arm. Sie öffnete den Mund, wohl um etwas zu fragen, doch ich sagte nur kurz: „Jetzt nicht bitte!“ und wandte mich Timos Vater zu. „Ich nehme an, dass du mich meinst?“ Er nickte, offensichtlich erleichtert, von meiner neugierigen Nachbarin wegzukommen. „Ist etwas passiert?“ fragte ich, plötzlich alarmiert, doch Gian-Luca schüttelte bloss den Kopf und machte beruhigende Gesten mit den Händen. „Nun sag schon was“, dachte ich ungeduldig. Ich hatte überhaupt keine Lust, ihn um diese Zeit in meine Wohnung mitzunehmen, zudem war ich überzeugt, dass Timo nicht ahnte, dass sein Vater mich aufsuchte. Gian-Luca wirkte unbehaglich und warf Erna finstere Blicke zu, doch diese lehnte erwartungsvoll an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. So standen wir alle abwartend da, als einen Moment später die Haustüre unten geöffnet wurde und wir Schritte hörten auf der Treppe. Zu meiner Erleichterung kam Cedric nach Hause. Erstaunt musterte er unsere kleine Dreiergruppe. „Was ist denn hier los? Brauchst du Hilfe, Mama?“ Offenbar hatte er die angespannte Stimmung richtig gedeutet. Ernas Gesicht hingegen hatte bei seinem Anblick aufgeleuchtet, offenbar hoffte sie auf ein interessantes Abendprogramm direkt vor ihrer Wohnungstüre. Innerlich seufzend gab ich auf und stellte die drei einander kurz vor. „Ich nehme an, dass Gian-Luca etwas mit mir besprechen will“, bemerkte ich, bevor ich die Treppe hoch zurück in meine Wohnung ging. Dieser nickte und die beiden Männer folgten mir.

    Während ich Bella in der Küche gefüttert hatte, war es ruhig geblieben im Wohnzimmer. Gian-Luca hätte ganz offenbar gern mit mir allein gesprochen. Er sah aus, als ob er gleich platzen würde und ging nervös hin und her. Cedric lehnte sich in seinem Sessel zurück und machte ohne Worte klar, dass er nicht im Sinn hatte, sich zurückzuziehen. „Du bist nicht mit dem Auto hier, oder?“ fragte ich Timos Vater. Ich hatte plötzlich die Idee gehabt, dass vielleicht ein klein wenig Alkohol Gian-Lucas Zunge lösen könnte und nahm die noch ungeöffnete Flasche Zwetschgenschnaps, die mir meine Freundin Britta einst geschenkt hatte, aus dem Schrank. „Du musst allerdings wissen“, hatte sie mich gewarnt, „er könnte stark sein. Mein Nachbar, der Bio-Bauer, hat ihn selbst gebrannt.“ Seit Britta aufs Land gezogen war und eine Familie gegründet hatte, sah ich sie leider nicht mehr oft. War sie früher mit ihren eigenen Kindern beschäftigt, so hütete sie jetzt hingebungsvoll die Enkelkinder. Seit wir beide Internet und Smartphones besassen, war unser Kontakt zwar wieder reger geworden, doch wir trafen uns nur noch selten.

    „Doch“, sagte Gian-Luca, „mein Auto steht vor dem Haus und Buddy wartet drinnen auf mich. Ich will dich nicht lange stören.“ Ich stellte die Flasche zurück auf den Küchentisch und setzte mich ins Wohnzimmer zu den beiden Männern. „Dawn und Timo wissen nicht, dass ich hier bin und ich möchte auch nicht, dass sie es erfahren“, fing er an. „Sie denken, ich ginge mit Buddy spazieren.“ Dies hatte ich erwartet und nickte bloss. „Ob ich mich daran halten werde, hängt ganz davon ab, was du mir erzählst“, dachte ich. Gian-Luca setzte sich endlich hin und nahm zwei oder drei Seiten zusammengefaltetes Papier aus der Kitteltasche. „Du musst mit Ramona, ich meine Mona, sprechen“, stiess er schliesslich heftig hervor, zu mir gewandt. „Ich weiss nicht, wen ich sonst darum bitten könnte.“ Nach Bitte hat dies nun nicht gerade getönt, dachte ich verstimmt, und laut sagte ich: „Ich bin nicht Monas Freundin, falls du da etwas falsch verstanden hast. Im Gegenteil, ein persönliches Gespräch mit ihr finde ich etwa so erfreulich wie einen Zahnarztbesuch. Einmal alle 12 Monate reicht vollkommen und somit habe ich beides für dieses Jahr bereits hinter mir.“ Gian-Luca trommelte nervös mit den Fingern auf den Kaffeetisch und überhörte meinen Einwand geflissentlich. „Sie hat dies hier gestern Nacht geschrieben. Es ist der Brief, den sie mir für Dawn mitgeben will. Ich habe darauf bestanden, dass sie meiner Frau selbst erklärt, weshalb sie uns alle so verarscht hat in den letzten Monaten.“ Ich schaute demonstrativ auf die Uhr: „Dann ist doch alles in Ordnung, oder nicht?“ Timos Vater wirkte plötzlich kleinlaut, als er murmelte: „Eben nicht. Das Problem ist….“ Wieder schaute er meinen Sohn an, als ob er ihn gern wie von Zauberhand verschwinden lassen würde, doch der setzte sich interessiert auf und warf mir einen schnellen Blick zu. „Ich erzähle dir die Vorgeschichte dazu später, Cedric“, sagte ich und zu Gian-Luca: „Ich habe keine Geheimnisse vor meinem Sohn. Doch ich bin müde und möchte ins Bett. Also…?“

    Und so erfuhren wir, dass Mona noch einen Trumpf im Ärmel versteckt hatte. Sie war offenbar entschlossen, reinen Tisch zu machen und Dawn alles zu erzählen, auch wie es zu ihrer Schwangerschaft, dem Fremdgehen und der Trennung von damals gekommen war. Zudem wollte sie Dawn verraten, dass ihr Ehemann eine heftige Affäre mit einer ehemaligen Nachbarin gehabt hatte. „Natürlich bevor ich Dawn kennen lernte“, versicherte Gian-Luca schnell auf meinen verblüfften Blick hin. „Es begann gleich, nachdem ich von Monas Fremdgehen erfahren hatte und war zuerst wohl eine Art kindischer Rache. Diese Marisella hatte schon lange ein Auge auf mich geworfen, dies nutzte ich aus.“ „Du hast es Dawn nie erzählt“, kombinierte ich. „Warum nicht, wenn diese Beziehung wirklich beendet war, als ihr beide zusammen kamt?“ „Diese…Beziehung, wie du es nennst, war…wie soll ich sagen…na ja, mehr auf der körperlichen Ebene und ziemlich leidenschaftlich. Marisella hatte sich damals soeben von ihrem Mann getrennt und da sie seine Eifersucht fürchtete, trafen wir uns nur heimlich. Sie war eine heissblütige, sexy Latina…“ Unwillkürlich lächelte Gian-Luca mit anerkennender Miene bei dem Gedanken, hatte sich jedoch sogleich wieder unter Kontrolle. „Ich musste mir die Zeit für sie stehlen, da Mona bereits ausgezogen war und meine Mutter und ich gemeinsam zu Timo schauten. Nach dem erlebten Verrat war Marisellas unverblümtes Verlangen Balsam für meine Seele. Bald war ich ihr total verfallen und drängte sie nach kurzer Zeit, ihren Ehemann vor vollendete Tatsachen zu stellen und sich zu mir und meinem Sohn zu bekennen. Doch sie dachte nicht im Traum daran. Ihr gefiel ihre neue Unabhängigkeit. ‚Ich werde nie wieder für einen Mann Socken waschen oder putzen, ich will nur noch die schönen Seiten einer Liebe geniessen. Windeln wechseln gehört definitiv nicht dazu‘, war ihre Antwort. In ihrer grossen Familie und Verwandtschaft gab es bereits viele Kleinkinder, die sie manchmal hütete, dies reichte ihr vollkommen. Ich glaube nicht, dass sie andere Männer hatte, sie war ziemlich verrückt nach mir…“ Wieder schmunzelte Gian-Luca einen Moment lang bei der Erinnerung. Ich räusperte mich und er fuhr fort: „Ich versuchte eine ganze Weile lang, sie zu dazu zu bringen, es wenigstens zu versuchen. Doch als ich mir eingestehen musste, dass sie meinen Sohn immer als Störfaktor zwischen uns sehen würde, machte ich schweren Herzens Schluss. Kurz darauf lernte ich Dawn kennen. „Doch du warst immer noch in Marisella verliebt“, vermutete Cedric. „Am Anfang schon“, gab Gian-Luca zu. „Obwohl da sicher mehr Lust als Liebe im Spiel war. Und ich bewunderte Dawn vom ersten Moment an. Dass sie sich für mich interessierte, schien mir wie ein unverdientes Geschenk. Als ich sah, wie sie Timo sofort akzeptierte und sich liebevoll um ihn zu kümmern begann, hätte ich alles getan, um diese Frau nicht wieder zu verlieren. Es dauerte bedeutend länger, bis ich sie wirklich erobert hatte, sie war viel zurückhaltender und reservierter als Marisella. Ich hätte mich nie getraut, ihr von der so kurz zurückliegenden Affäre zu erzählen, und diese neue Liebesgeschichte damit zu gefährden. Ich wollte nicht, dass sie denkt, ich hätte mich nur meines Sohnes wegen für sie entschieden. „Obwohl es so war“, warf Cedric trocken ein. „Nicht wirklich“, wehrte sich Gian-Luca. „Ich fand Dawn von Anfang an wunderschön, faszinierend und sehr begehrenswert. Doch sich emotional von jemandem zu lösen und wieder neu zu verlieben, geht bei mir nicht über Nacht. Dies erklärte ich Dawn sogar und sie verstand es völlig, doch sie münzte es auf Mona und ich berichtigte sie nicht. Dawn ist meine Traumfrau. Sie kämpfte auf ihre eigene Art um mich, indem sie alles für Timo tat und mir damit zeigte, wie ernst es ihr mit uns war. Wir sind nach einer nicht immer einfachen Anfangszeit zusammen sehr glücklich geworden. In den ersten Jahren war sie mir manchmal zu reserviert und ich ihr zu emotional und zu stürmisch, doch unterdessen hat sich dies ausgeglichen.“ „Und Marisella?“ fragte ich. „Da sie ihre Meinung nicht änderte, musste sie meine Entscheidung wohl oder übel akzeptieren. Als sie jedoch realisierte, dass es bereits eine neue Frau in meinem Leben gab, machte sie mir einige sehr eifersüchtige und emotionale Szenen und hatte meistens verheulte Augen, wenn wir uns zufällig in der Nachbarschaft begegneten. Irgendwann zog sie weg. Darüber war ich sehr erleichtert, hatte ich doch immer befürchtet, sie würde Dawn etwas erzählen.“ Gian-Luca atmete tief durch und bat mich um ein Glas Wasser. Dann fuhr er fort: „Marisella hatte dies auch im Sinn gehabt, doch das weiss ich erst seit heute. Offenbar fing sie Mona nach einem ihrer Besuche bei uns ab, erzählte ihr alles von uns beiden und versuchte, sie mit unwahren Behauptungen gegen Dawn aufzuhetzen. Doch Mona durchschaute sie sofort und glaubte ihr kein Wort. Sie hatte Dawn mit ihrem Sohn zusammen beobachtet und obwohl es ihr das Herz brach, wie sie schreibt, beschloss sie das zu tun, was für Timo am besten war. Ja, sie drehte sogar den Spiess um und drohte Marisella damit, sie in der ganzen Nachbarschaft als Schlampe hinzustellen. Offenbar wusste sie noch ein paar weitere Details aus deren Liebesleben. Dass Mona die ganze Sache bis heute für sich behalten hat, muss ich ihr hoch anrechnen. Doch jetzt findet sie, wenn die Wahrheit auf den Tisch müsse, dann die Ganze. Ohne meine Affäre mit Marisella, so glaubt sie nämlich bis heute, hätten wir beide noch eine Chance gehabt und sie hätte ihren Sohn nicht zurücklassen müssen. Irgendwie verstehe ich sie sogar, doch ich weiss nicht, wie Dawn auf gleich zwei solche Eröffnungen reagieren wird. „Ihr seid ja dann auf Reisen“, gab ich zu bedenken. „Vielleicht nimmt sie es weit weg vom Alltag ziemlich entspannt und sonst habt ihr viel Zeit, darüber zu reden, bis ihr wieder zurück kommt.“ „Das ist es ja“, seufzte Gian-Luca. „Jetzt, wo es ans Packen geht, realisiere ich erst, dass dieser Urlaub mein langgehegter Traum ist, nicht ihrer. Ich glaube, ich überfordere sie damit. Und wenn ich ihr noch mit solchen Enthüllungen komme…“

    Wir schwiegen eine ganze Weile lang. Dann fragte ich: „Und was genau sollte ich mit Mona besprechen, Gian-Luca?“ „Ihr sagen, dass sie die Marisella-Geschichte auslassen soll in ihrem Brief und sie allgemein nicht mehr erwähnen….“ Doch Timos Vater merkte wohl selber, dass dies ein illusorischer Wunsch war, denn seine Stimme verlor sich. Offenbar war er ein impulsiver Mensch, der handelte, bevor er lange nachgedacht hatte. Ich fühlte mich plötzlich fürchterlich müde. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Mona von ihrem Vorhaben abbringen lässt“, sagte ich schliesslich. „Doch es gibt bestimmt eine Lösung. Heute Nacht mag ich jedoch nicht mehr darüber nachdenken. Du solltest jetzt nach Hause gehen, Gian-Luca.“ Als er sich erhob, fügte ich an: „Und vergiss nicht, Timo zu erzählen, dass du bei mir warst. Ich werde ihn morgen danach fragen.“ Gian-Luca drehte sich überrascht zu mir um. „Cosa? Assolutamente no!!“ rutschte ihm vor Überraschung auf Italienisch heraus. Ich stand ebenfalls auf und hielt mich sehr gerade. Ich versuchte, aus meinen knappen ein Meter sechzig herauszuholen, was möglich war, um neben dem grossen und kräftigen Mann selbstbewusst und stark zu wirken. „Du bist mit einer Bitte zu mir gekommen, Gian-Luca“, sagte ich mit fester Stimme. „Und hier gelten meine Regeln. Ich habe mir vorgenommen, keine Geheimnisse mehr vor Timo zu haben, schon gar nicht wegen Mona. Das eine Mal hat mir gereicht.“ „Was soll ich ihm denn sagen?“ fragte Gian-Luca entgeistert und wollte sich wieder setzen. Doch ich stand bereits im Korridor und hielt die Türe auf. „Das kannst du dir auf der Heimfahrt zurechtlegen. Dass du meinen Rat brauchtest für etwas, was du nun zuerst mit deiner Frau ausdiskutieren müsstest zum Beispiel. Timo wird es verstehen. Bleib einfach bei der Wahrheit. Gute Nacht, Gian-Luca.“

    Endlich konnte ich die Tür hinter Timos Vater schliessen. „Das sind ja ganz neue, resolute Töne von dir, Mama“, rief Cedric aus der Küche. „Hast du dir vorher kräftig Mut angetrunken?“ Er kam mit der Flasche Zwetschgenschnaps ins Wohnzimmer und prüfte mit zusammengekniffenen Augen scherzhaft den Inhalt. „Ist da überhaupt noch etwas drin? Muss ich mir Sorgen machen?“ „Schau nach, sie ist noch voll“, beruhigte ich ihn lachend. „Zudem stand sie schon länger im Schrank.“ „Sieht nach Eigenbrand aus“, meinte Cedric, öffnete die Flasche und roch mit Kennermiene am Inhalt. „Nehmen wir ein Glas zusammen?“ Eigentlich war ich unterdessen zu müde dafür, doch gemeinsame Stunden mit meinem Sohn waren selten genug und ich wollte jeden Moment geniessen. Wir setzten uns mit der Flasche und kleinen Gläsern ins Wohnzimmer. Sofort spürte ich den Alkohol warm durch meinen Körper fliessen. Er entspannte mich und so protestierte ich nur halbherzig, als Cedric uns das zweite Glas einschenkte. „Wie war es eigentlich für dich, eine alleinerziehende Mutter zu sein?“ fragte mein Sohn plötzlich und zum ersten Mal konnte ich mit ihm, unterdessen erwachsen und selbst Vater, offen über alles sprechen. Ich hatte immer versucht, Paul nicht schlecht zu machen in seinen Augen, doch nun sprach ich ehrlich über die Turbulenzen und Schwierigkeiten unserer Ehe und erzählte kurz, weshalb sie zu Ende gegangen war. Daraufhin stellte Cedric die Frage, die ich spätestens seit seiner Teenagerzeit eigentlich immer erwartet hatte: „Weisst du, wo mein Vater sich jetzt aufhält?“ „Nein, ich habe nie wieder von ihm gehört, nachdem er seine Abfindung geleistet hatte. Falls du nach ihm suchen möchtest, helfe ich dir selbstverständlich dabei. Es sollte nicht allzu schwierig sein, ihn zu finden. Du musst einfach bedenken…“ ich zögerte und wusste nicht, wie ich es formulieren sollte. Cedric schenkte uns schon wieder ein. „Stopp“, rief ich, „nicht für mich! Ich bin mich starken Alkohol nicht gewöhnt.“ „Eigenbrand macht nicht so schnell betrunken, es ist eine ganz andere Qualität von Schnaps“, versicherte mir Cedric, und tatsächlich fühlte ich mich immer noch klar im Kopf, gleichzeitig gelöster und weniger müde als zuvor. „Also, was muss ich wissen, Mama?“ „Paul hatte wie ich schon lange jede Hoffnung auf Nachwuchs aufgegeben. Ich habe ihn mit der Schwangerschaft völlig überrumpelt und daraufhin die Tatsache für mich ausgenutzt während der Scheidung. Dass er in den ersten Monaten nicht nach dir gefragt hatte, konnte ich verstehen. Damals war er ohnehin im Ausland mit seiner Freundin. Doch als die Jahre vergingen, heilten auch meine Wunden aus der schiefgelaufenen Ehe, und seine bestimmt ebenfalls…“ Wieder wusste ich nicht weiter. „Du willst sagen, wenn es ihn interessiert hätte, sein Kind kennenzulernen, hätte er die Initiative ergriffen.“ „Richtig. Ich hatte eigentlich immer damit gerechnet und es auch gehofft. Ich hätte dir einen anwesenden Vater so sehr gegönnt. Du hast zum Glück nicht oft nach ihm gefragt.“ „Als Kind spürt man, was solche Fragen auslösen und ich wollte dich nicht traurig machen. Doch ich war oft wütend auf diesen unbekannten Vater. Seit ich selbst eine Tochter habe, kann ich seine Reaktion noch weniger begreifen. Angelita könnte mir nichts antun, was mich dazu bringen würde, Sofia zu verlassen.“ „Die Situation ist nicht ganz dieselbe“, gab ich zu bedenken. „Du kanntest deine Tochter vom ersten Augenblick an, warst sogar dabei als sie zur Welt kam. Paul weiss überhaupt nichts von dir, wahrscheinlich nicht einmal, ob er einen Sohn oder eine Tochter hat. Glaub‘ mir, wenn er dich gesehen hätte…“ Mir kamen die Tränen. Vom Alkohol oder weil diese eine Wunde doch noch nicht ganz geschlossen war? Cedric griff nach meiner Hand. „Lass gut sein, Mama. Wir werden ihn finden und uns seine Seite anhören. Er kann kein völlig schlechter Mensch sein, wenn du so lange mit ihm verheiratet warst.“ Dieser ungewohnte Versuch meines Sohnes, mich zu trösten, rührte mich und ich heulte eine weitere Runde, worauf uns Cedric erneut einschenkte. Danach liessen wir die Flasche stehen, doch wir redeten fast die ganze Nacht durch. Noch nie waren wir uns so nah gewesen. Ich erfuhr alles über seine Eifersucht auf die anderen Kinder, die Vater und Mutter hatten und seine Schwierigkeiten während der Pubertät. In dem Alter hatte er sich einen Vater ausgemalt, der technisch bewandert war und seine Liebe zu IT und Architektur teilte. In seiner Vorstellung war dieser Mensch perfekt in jeder Beziehung, während ich im realen Leben den Alltag bewältigen musste, Regeln aufstellte und ab und zu mit ihm schimpfte. Da er seine Gedanken und Fantasien nicht mit mir teilen konnte, hatte er sich von mir zurückgezogen. Angelita rückte jedoch seinen Kopf zurecht. „Mamita musste deine Pubertät allein durchstehen? Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das bedeutet? Da gehst du an manchen Tagen barfuss zur Hölle und wieder zurück. Ich glaube, ich würde meinen Sohn stattdessen bei den Grosseltern abgeben, bis er erwachsen und vernünftig ist.“ Dies glaubte ihr Cedric zwar nicht, doch zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass unsere Situation nicht nur für ihn oft schwierig gewesen war. In der italienischen Grossfamilie sei ihm zudem schnell klar geworden, dass alles seine Vor- und Nachteile hat. „Du warst immer für mich da und hast mich in allem gefördert und unterstützt. Nicht alle Kinder haben so viel Glück, egal, wie viele Personen in einem Haushalt leben“, schloss er liebevoll. Ich erzählte Cedric im Gegenzug zwar nicht meine ganze Ehegeschichte, doch genug, dass er meine Seite begreifen konnte. Als ich ihm schilderte, wie ich die Trennung durchgezogen hatte, war er beeindruckt. „Souverän und wirkungsvoll, das muss ich dir lassen. Das pure Gegenteil eines langen Rosenkrieges.“ Dieses Kompliment freute mich besonders, denn ich hatte mich in den folgenden Jahren ab und zu gefragt, ob ich zu hart gewesen sei und somit schuld, dass mein Sohn ohne Vater aufwachsen musste. Dann kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste, redeten über Mona und meine neuen Freunde, über Bella, die jungen Hunde wie auch über Cedrics Arbeit und sein Leben in Rom. Und darüber, wie sich mein Aufenthalt in Italien wohl gestalten würde.

    Es dämmerte bereits, als wir zu Bett gingen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so glücklich gefühlt und wachte wenige Stunden später ziemlich ausgeruht wieder auf. Zwar spürte ich die halb durchzechte Nacht, doch von einem Kater konnte man nicht wirklich sprechen. Nach zwei Tassen starken Kaffees war ich wieder voller Tatendrang. Cedric war bereits fort, doch er hatte mir eine Notiz hinterlassen: „Ich treffe heute einen alten Schulfreund und werde danach ein paar Mitbringsel für meine italienische Familie einkaufen. Mein Flug geht kurz vor sieben Uhr abends. Ist ein spätes Mittagessen, etwa um halb drei, in Ordnung für dich?“ Dies erinnerte mich an meine Bestellung beim Hello Vegan Shop, und tatsächlich, das Paket stand bereits im Hauseingang. Alles war liebevoll verpackt und wo nötig mit gefrorenen PET-Fläschchen gekühlt. Als Timo bei mir auftauchte, war die süsse Rahmwähe bereits im Ofen. Als Vorspeise hatten wir eine kalte, erfrischende Gurkensuppe geplant, gefolgt von einem veganen Moussaka. Pasta würde mein Sohn bestimmt genug zu essen bekommen in Italien, war unsere Überlegung. Wir machten uns gleich an die Arbeit und rüsteten die Kartoffeln und das übrige Gemüse. Weder Timo noch ich sagten viel, wir hingen beide unseren Gedanken nach. „Hat dein Vater dir erzählt, dass er gestern hier war?“ fragte ich schliesslich. Timo lachte. „Hat er! Mit einer sehr komplizierten und eher unwahrscheinlich klingenden Erklärung. Doch ich nehme an, es ging um die heisse Nachbarin von früher? Mona will es Dawn erzählen?“ Ich hätte vor Überraschung um ein Haar die Kuchenform fallen gelassen, die ich gerade aus dem heissen Ofen nahm. „Du weisst von Marisella? Wie denn das?“ „Du wirst staunen – ich weiss es von Mom, und zwar schon lange“, grinste Timo. „Als sie damals mit Dad zusammen kam, gab es bekanntlich noch keine Handys. Doch mein Vater hatte einen Festnetzapparat, der die Nummern der einkommenden und ausgehenden Anrufe speicherte. Vermutlich hatte er dies nicht einmal realisiert, doch meine Mutter, technisch immer auf dem neuesten Stand, nutze diese Listen für ihre Rückrufe. Damals lernte man die häufig benötigten Rufnummern gezwungenermassen auswendig oder notierte sie irgendwo, wenn man nicht jedes Mal im Telefonbuch nachschauen wollte. Als Dawn eine Nummer auffiel, die eine Weile lang sehr oft gewählt wurde und von der aus viele Anrufe gekommen waren, erfuhr sie über die Telefonauskunft Mariellas Namen und Adresse. Nun ist Mom von Natur aus eher beherrscht und vernünftig und reagiert selten übermässig emotional, ausser wenn es um Mona geht. Auf manche Leute wirkt sie sogar kühl und unnahbar.“ Ich dachte an Samira, die eine Erkältung befürchtet hatte und musste lächeln. „Dawn kontrollierte die Daten dieser Anrufe“, fuhr Timo fort. „Sie hatten aufgehört, bevor sie meinen Vater kennengelernt hatte. Mom hielt noch längere Zeit Augen und Ohren offen und schaute immer wieder mal auf die Nummernliste, doch nach einiger Zeit war sie überzeugt, dass dies eine Geschichte vor ihrer Zeit gewesen war. Eine Untreue hätte sie meinem Vater nicht verziehen, doch mit seiner Vergangenheit konnte sie leben. Sie sprach ihn nie darauf an. Mir erzählte sie es, als ich in der Pubertät war und meinen ersten Liebeskummer hatte, Eifersucht und Misstrauen inklusive. Dass Marisella weggezogen war, hatte Mom, trotz aller Coolness gegen aussen, doch sehr beruhigt. Auch wenn sie es nicht so zeigen kann, liebt sie meinen Vater über alles.“ In diesem Moment klingelte Timos Telefon. „Mona“, sagt er mit einem Blick aufs Display, doch diesmal nahm er ab. Nach einer ziemlich kühlen Begrüssung hörte er eine Weile wortlos zu. „Weisst du was, Mona“, sagte er schliesslich. „Schreib ihr alles, was du auf dem Herzen hast. Mich musst du nicht im Detail darüber informieren, es geht um euch zwei. Schreib Dawn ruhig von dieser Nachbarin, wenn du das loswerden willst. Mein Vater und sie werden ohnehin viel zu reden haben auf der Reise. Wenn sie zurückkommen, haben sie hoffentlich alles durchgesprochen und geklärt. Dann bringst du nichts Neues mehr, hörst du mich? Was nicht in diesem Brief steht, wirst du nie mehr aufs Tapet bringen, das verlange ich von dir. Also spuck alles aus, schreib es dir von der Seele und lass die beiden nachher in Ruhe, ok? … Ja, du und ich, wir werden uns auch aussprechen. Irgendwann. Lass mir noch etwas Zeit.“ Danach beendete er das Gespräch ziemlich abrupt. „Nicht ganz fair“, fand ich und musste trotzdem schmunzeln. „Du lässt deine leibliche Mutter und deinen Vater unnötigerweise in ihren Zweifeln schmoren.“ „Ich will mich in diese Gespräche nicht einmischen, das würde alles nur noch komplizierter machen“, fand Timo, doch ich sah das Lächeln auf seinen Stockzähnen. Wahrscheinlich dachte er, die beiden hätten es verdient. Dann kam ihm offenbar etwas anderes in den Sinn. Er drehte sich zu mir um und drohte mit gespielter Empörung mit dem Zeigefinger: „Apropos einmischen, Wispy. Wie war das mit Helene? Was für ein unglaublicher Zufall, dass ihr euch im Kino getroffen habt!“ Doch gleich darauf gab er mir grinsend einen Kuss auf die Wange und sagte: „Sie lässt für die Einladung danken und kommt gern ein anderes Mal. Heute muss sie arbeiten.“ Ich lächelte zufrieden vor mich hin.

    Cedric genoss das feine Mittagessen sehr, doch ich merkte, wie er zunehmend irritiert zwischen Timo und mir hin und her schaute. „Ich dachte, ihr beide esst vegan? Die Suppe war doch wunderbar cremig und im Moussaka hat es eindeutig Hackfleisch…“ „Richtig, doch nichts davon kommt von Tieren“, sagte ich stolz. „Ich lerne erst jetzt, was alles möglich ist, ohne dass jemand dafür leiden muss. Für mich allein habe ich bisher wenig fantasievoll gekocht, doch das will ich nun ändern. Viele der Rezepte sind schnell nachgemacht und brauchen nur wenige Zutaten.“ Als ich die duftende, goldgelbe Rahmwähe anschnitt, freute sich Cedric wie ein kleines Kind. „Mmh“, kam geniesserisch von ihm, als er beim ersten Bissen die Augen schloss, „fast wie ich sie in Erinnerung hatte. Bloss etwas weniger schwer und üppig, scheint mir, doch darüber bin ich froh nach diesem reichhaltigen Essen.“ Schnell öffnete er die Augen und beobachtete, erstaunt den Kopf schüttelnd, wie wir ebenfalls mit Genuss in die Wähe bissen. „Jetzt veräppelt ihr mich aber, oder? Auch vegan?! Die Rahmwähe?! Du wirst für uns kochen müssen in Italien, Mama. Dafür können wir dich jederzeit auf ein feines Eis einladen, es gibt in allen Gelaterias milchfreies Fruchteis in grosser Auswahl.“

    Bevor sich Cedric auf den Weg zum Flughafen machte, sprachen wir noch via Videochat mit Angelita und Sofia. Meine Enkeltochter schien in Rekordzeit zu wachsen, ich freute mich auf die Zeit mir ihr. Angelita sah bleich und mitgenommen aus, doch sie war begeistert, dass ich nach Rom ziehen würde. Ich bedankte mich für die vielen lieben Post-it Mitteilungen, die ich mir aufsparte, indem ich jeweils nur am Morgen und am Abend eines aus der Schachtel nahm zum Lesen. „Wenn du sie durch hast, ist es Zeit zu kommen, Mamita, damit ich sie dir wieder persönlich geben kann“, lachte Angelita und ich schaute schnell zu Bella hinüber. „Denk nicht, dass du wegen Italien bald von mir gehen musst“, flüsterte ich ihr innerlich zu, „ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst. Notfalls nehme ich dich mit.“ Bella richtete sich auf und fixierte mich eine Weile lang mit festem Blick. Ich glaube, ich hätte sie verstanden, wenn ich nicht gleichzeitig mit Angelita am Reden gewesen wäre.

    Nachdem sich Cedric verabschiedet hatte, fuhren Timo und ich nochmals zur Tierarztpraxis, um die Hundefamilie zu besuchen und Lola und dem Doktor ein wenig zur Hand zu gehen. Sie waren froh um unsere Hilfe, denn sie konnten sich unterdessen nicht mehr über zu wenig Arbeit beklagen. Ihre unkonventionelle Zusammenarbeit und die erfolgreichen Behandlungen hatten sich herumgesprochen. Wir räumten das Wartezimmer und den Empfangsbereich auf, während die beiden sich um die letzte vierbeinige Patientin des Tages kümmerten. „Wir schneiden nur kurz einer alten Katze die Krallen“, rief Lola durch den Türspalt. „Dann sind wir für heute fertig.“ Timo und ich fuhren richtig zusammen, als aus dem Behandlungsraum kurz darauf lautes, hysterisches Kreischen, Fauchen und Knurren ertönte, gefolgt von einer Art heiserem Bellen. Die beruhigenden Stimmen von Lola und dem Doktor gingen unter, für einmal bewirkten gar nichts. Selbst die Besitzerin konnte ihr Tier offenbar nicht beschwichtigen. Das Jaulen steigerte sich im Gegenteil zu einem ohrenbetäubenden Crescendo. „Hat sie Katze oder Löwin gesagt?“ fragte mich Timo. „Denkst du, sie brauchen Hilfe?“ Ich schüttelte den Kopf: „Ich nehme es nicht an. Sie würden uns bestimmt rufen.“ Doch die schrillen, wütenden Schreie und das herzzerreissende Gejaule liessen mir fast das Blut in den Adern stocken. „Wenn diese Mieze nur nicht einen Herzinfarkt erleidet vor lauter Aufregung“, dachte ich und war erleichtert, als sich nach langen Minuten endlich die Türe öffnete und es ruhig wurde. Zuerst kam eine etwas verlegene Kundin mit dem Katzenkorb in den Vorraum. Dahinter Lola. Sie zog sich soeben Schutzhandschuhe aus, die bis über die Ellbogen reichten und sah im Übrigen leicht zerzaust aus. Die Katzenhalterin hielt den Korb in die Höhe: „Ich nenne sie nicht umsonst Greta Garbo, sie ist eine Diva, die sich nichts gefallen lässt“, erklärte sie uns. „Es tut mir leid, dass sie sich so rüpelhaft benommen hat.“ Im Korb sass ein wunderschönes, wenn auch gebrechlich wirkendes schwarz-weisses Kätzchen und putzte sich die Pfoten, als ob es kein Wässerchen trüben könnte. Obwohl die Kleine offensichtlich ziemlich alt war, hielt sie sich sehr stolz und aufrecht. Timo und ich prusteten los. „Dieses winzige Geschöpf hat einen solchen Lärm gemacht?“ fragten wir ungläubig. „Kaum zu glauben, nicht wahr?“ sagte der Doktor, der nun ebenfalls aus dem Zimmer trat. Er sah auch nicht mehr ganz frisch aus und desinfizierte sich einen blutigen Kratzer an der Hand. „Greta Garbo wiegt keine drei Kilogramm, doch sie ist kaum zu bändigen. Erstaunlich ist, dass sie sich jeweils sofort wieder erholt. Normalerweise sind Katzen eine ganze Weile lang verstört, wenn sie sich so aufgeregt haben. Manchen muss ich eine Beruhigungsspritze oder Notfall Tropfen geben für den Heimweg. Nicht dieser Diva hier – die ist bereits wieder ruhiger als wir alle.“ Als die Besitzerin nach dem Bezahlen den Korb aufhob und an uns vorbei ging, sass Greta Garbo so würdevoll darin wie eine Prinzessin in ihrer Sänfte. Kurz vor dem Ausgang drehte sie den Kopf und sah mir direkt in die Augen. „Ich hab’s allen gezeigt“, gurrte sie zufrieden und grinste wie die Katze aus Alice im Wunderland. Ich sah verblüfft zu Timo hin: „Hast du das gehört?“ „Habe ich“, meinte dieser lächelnd. „Doch sie hat mit dir gesprochen. Die Tiere fangen an zu merken, dass du sie verstehst. Du wirst nun immer mehr solche Erfahrungen machen. Ich bin wahnsinnig stolz auf dich.“ Obwohl mich dieses Lob freute, wurde ich gleichzeitig traurig. Bella würde nicht mehr viel von meinen neuen Fähigkeiten haben und Timo würde schon bald meine Fortschritte nicht mehr beobachten können. Die zwei, drei Monate bis zu meiner Abreise würden im Nu vorbei gehen. „Wirst du mich in Rom besuchen?“ fragte ich, als wir später vor Destinys Lager kauerten und dem Gewusel ihrer Babys zuschauten, doch er antwortete nicht. Ich streichelte sanft den Bauch des kleinen Nachzüglers, der es mir am meisten angetan hatte. „Na, Benjamin“, fragte ich ihn, „trinkst du auch immer schön jetzt, damit du gross und stark wirst?“ „Wie ich höre, hast du deinem Hund bereits einen Namen gegeben. Benji würde zu dem Winzling jedoch besser passen “, tönte es fröhlich hinter mir. Ich hatte Lilly nicht kommen gehört und freute mich sehr, sie wieder einmal zu sehen. „Es ist nicht mein Hund, ich kann mir keinen halten“, berichtigte ich, doch Lola, die im Zimmer aufräumte, meine nur trocken: „Klar ist es ihr Hund. Schau dir die beiden doch an.“ „Ich kann wirklich keinen der Hunde zu mir nehmen, aus verschiedenen Gründen“, protestierte ich weiter, doch die drei warfen sich nur einen Blick zu und gingen nicht auf meine Argumente ein. „In meinem Wohnhaus sind sie verboten, ausserdem werde ich für eine Weile nach Italien ziehen“, fügte ich schliesslich hinzu, doch das schien niemanden zu beeindrucken. „Für die nächsten Monate bleibt die Hundefamilie sowieso zusammen. Bis die Jungen weggegeben werden, fliesst noch viel Wasser den Rhein hinunter“, meinte Lola leichthin.

    „Du bist mir noch eine Antwort schuldig“, erinnerte ich Timo später, als wir zusammen die noch einigermassen warme Spätsommernacht am Seeufer genossen. Nach und nach waren alle gekommen, die normalerweise ihre Abende bei Mona verbrachten. Deren Geheimnis hatte sich herumgesprochen und alle verstanden, dass Timo zwiespältige Gefühle hatte ihr gegenüber. Dennoch musste besprochen werden, wie es mit den Welpen weitergehen sollte. „Ob ich dich in Italien besuche, meinst du“, antwortete Timo nach kurzem Nachdenken. „Ehrlich gesagt, kann ich es dir nicht versprechen. Ich habe wirklich Lust, im Winter selbst für eine Weile wegzugehen, um mit mir ins Reine zu kommen. In meinem Freelancer Beruf gibt es da zum Glück Möglichkeiten. Vielleicht kommt Helene mit, falls sie es einrichten kann. Bis dahin wissen wir hoffentlich, ob wir beide eine reelle Chance haben zusammen.“ Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen und beobachtete die jungen Menschen, die ich unterdessen so ins Herz geschlossen hatte. Sie lachten viel und neckten sich, während sie ihr mitgebrachtes Essen teilten. Patrick und Johanna rannten dem Ufer entlang und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, während ich dagegen plötzlich fröstelte und meine Jacke enger um mich zog. „Vergiss nicht, dass du nun die italienische Sprache verstehst, es wird ganz anders sein als bisher“, tröstete mich Timo, der mich durchschaut hatte. „Wir werden noch fleissig üben, bis du gehst. Du freust dich doch sicher auf deine Familie.“ „Ja, das tue ich, sehr sogar“, sagte ich wahrheitsgemäss. „Doch ihr seid auch eine Art Familie für mich geworden. Falls Angelita mich länger braucht, werde ich vielleicht nicht so bald zurückkehren.“ Timo sah nachdenklich auf den See hinaus, doch plötzlich lachte er auf und drückte mich an sich. „Mir ist gerade eine Idee gekommen. Ich kann sie dir noch nicht verraten, denn ich muss erst einige Abklärungen machen. Dies könnte länger dauern, doch falls es klappt, wirst du dich sicher freuen.“ Er hatte plötzlich ein verschmitztes, jungenhaftes Lächeln im Gesicht, welches ihn den ganzen Abend über nicht mehr verliess.

  • Aller guten Mütter sind drei

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    Leider wollte mir Timo auch in den nächsten Tagen nicht verraten, was für eine Idee ihn so zum Schmunzeln gebracht hatte. „Ich habe etwas in die Wege geleitet, doch ich will erst sicher sein, dass es klappt, bevor ich es dir erzähle. Aktuell warten wir noch auf Bescheid aus Holland und auch Deutschland hat sich noch nicht definitiv entschieden. Du wirst dich gedulden müssen.“ Er amüsierte sich königlich über meinen verwirrten Gesichtsausdruck. „Nun kannst du deine Gedankenlesekunst üben, komm, erzähl mir, was ich vorhabe“, neckte er mich, doch natürlich konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, was das sein könnte.

    Dawn und Gian-Luca waren mit ihren Around The World Tickets, welche ihnen viel Raum für Spontanität liessen, als erstes nach Hong Kong geflogen. Die quirlige Stadt faszinierte die beiden. Besonders überraschten sie die Naturparks und Grünflächen, da sie vorwiegend Shopping Centers erwartet hatten. Timo erhielt ständig Fotos über WhatsApp: die atemberaubende Aussicht vom höchsten Berg, dem Victoria Peak, Wanderwege im Nationalpark, total überfüllte und dann wieder überraschend einsame Strände und zahllose Schnappschüsse aus dem bunten Leben Hong Kongs und Kowloons. Dawn, die sich eher ungern auf diese Reise gemacht hatte, war nun begeistert und wäre am liebsten noch länger geblieben, doch Gian-Luca, der sehr viel gearbeitet hatte in den letzten Monaten, sehnte sich nach Ruhe und Erholung. Zudem wollte er seine Enthüllungen so schnell wie möglich loswerden, damit er nicht die ganze Reise hindurch daran denken musste, doch in Hong Kong hatten sie kaum eine ruhige Minute.

    So beschlossen sie bald, einige Tage auf den Cook Islands zu verbringen. Rarotonga mit dem vielen tropischen Grün und den romantischen Stränden gefiel ihnen so gut, dass sie dort in ein Hotel eincheckten. Die Hauptstadt Avarua und die Insel selbst waren jedoch schnell ausgekundschaftet: Bloss eine einzige richtige Strasse, 31 Kilometer lang, führte rund um die Insel. Der öffentliche Verkehr bestand aus einem Linienbus, der stündlich abwechselnd rechts oder links herum um die Insel fuhr und dort anhielt, wo die Fahrgäste es wünschten. Dawn liess durchblicken, dass sie dies alles zwar wunderschön und romantisch, nach Hong Kong jedoch eher langweilig fand und machte bereits Pläne für die Weiterreise. So fasste sich Gian-Luca am zweiten Abend ein Herz. Als sie nach dem Nachtessen auf der Veranda des Hotels ein Glas Wein tranken, griff er nach Dawns Hand und begann zu erzählen. Erst von Marisella, da er hoffte, dass dies später ein wenig in den Hintergrund geriet, wenn die Rede auf Mona kommen würde. Warum ich das alles so genau weiss? Weil ich beschlossen hatte, mich nochmals einzumischen. Timo hatte Dawn einmal von meinem Handy aus eine Mail geschickt, als sein Akku leer war. So kannte ich ihre Adresse und schrieb ihr kurz nach der Abreise ebenfalls. Ich fügte ein Word Dokument an und bat Dawn in einer kurzen Mail, dieses erst vor der Rückreise zu öffnen und zu lesen.

    Wie unglaublich naiv von mir. Wahrscheinlich hätte sich keine Frau der Welt an eine solche Instruktion gehalten. Dawn hatte die Word Datei sofort geöffnet und heimlich gelesen, noch während sie in Hong Kong waren. Selbst wenn ich Mona nicht besonders mochte, hatte ich mich darin für sie ins Zeug gelegt. Das Gespräch mit meinem eigenen Sohn hatte mich daran erinnert, dass man als neugebackene Mutter einer Löwin mit ihren Jungen ähnelt, tödlich entschlossen, seinen Nachwuchs gegen alles zu verteidigen, was ihm schaden könnte. Monas Vorschuss-Vertrauen Dawn gegenüber rang mir dementsprechend viel Respekt ab, besonders wenn man bedachte, wie liebend gern sie zu Gian-Luca zurückgekehrt wäre. Dies hatte Marisella offensichtlich nicht gewusst, sonst hätte sie Mona kaum gegen die neue Freundin aufzuhetzen versucht. Dass diese das Glück ihres Sohnes an erste Stelle setzte und dafür den riesigen Schmerz auf sich nahm, ihn nicht mehr zu sehen, war eine reife Leistung für eine so junge Frau. Ich erzählte Dawn, dass Mona von Gian-Lucas Affäre mit der Nachbarin gewusst hatte und darauf verzichtete, dies auszuspielen, obwohl es sie sicher gereizt hätte. Ja, sie hatte vermutlich sogar bewirkt, dass Marisella wegzog. Wie man sich leicht ausmalen konnte, hätte sie die Beziehung von Gian-Luca und Dawn ohnehin viel mehr stören und erschweren können. Wer konnte ihr verübeln, dass sie ihrem Kind nachtrauerte und zum unterdessen erwachsenen Sohn den Kontakt suchte? Wer würde nicht verstehen, dass sie verunsichert war und erst wissen wollte, ob Timo sie als Frau, die so anders war als er, überhaupt akzeptieren könnte? Bevor ich es versah, war aus der Information ein flammendes Plädoyer für alle Mütter geworden, die sich eine perfekte Welt für ihre Babys wünschen und dann mit einem Alltag fertig werden müssen, der eben oft alles andere als perfekt ist.

    Wie Dawn mir einige Tage später in ihrer Antwortmail beichtete, spielte sie zuerst die Ahnungslose, als ihr Gian-Luca, ungern genug, von seiner Affäre mit Marisella erzählte. Sie liess ihn eine ganze Weile lang zappeln und stellte ihm jede Menge peinlicher Fragen, bis sie ihm schliesslich verriet, dass sie schon ewig davon gewusst hatte und es sie ziemlich unberührt liess. „Ohne Zweifel“, so gestand sie mir jedoch, „wäre ich ohne deinen Gedankenanstoss hartnäckig auf der Frage herum geritten, inwiefern Gian-Lucas kleiner Sohn seine Wahl beeinflusst hatte, da ich nun den Grund ihrer Trennung kannte. Doch ich habe beim Lesen deines Briefes etwas realisiert: Ich durfte meine grosse Liebe heiraten und das wundervollste Kind aufziehen, das man sich vorstellen kann. Wir sind eine glückliche Familie geworden, ohne materielle oder andere Sorgen. Ist das nicht das Wichtigste? Du hast recht, Mona hat weder Unterhaltsforderungen für sich gestellt noch ihr Besuchsrecht durchgesetzt, als sie merkte, wie negativ und bösartig wir auf sie reagierten. Sie hätte uns das Leben auf vielerlei Arten schwer machen können. Ich kann es ihr eigentlich nicht verübeln, dass sie später nicht mehr auf uns zugekommen ist. Wie  abweisend und kalt ich reagieren kann, hat Mona bei jedem ihrer Besuche erlebt. Als Gian-Luca mir dann schonend die Neuigkeiten beibringen wollte, habe ich es ihm leicht gemacht und gleich erzählt, was ich von dir wusste und dass ich mir bereits Gedanken gemacht hatte. Er hat ganz fürchterlich über sich einmischende Frauen geschimpft, dabei sah ich ihm die Erleichterung an der Nasenspitze an. Ihm war absolut klar, dass ich ohne deine Vorwarnung bedeutend heftiger reagiert hätte. Jedenfalls haben wir die halbe Nacht hindurch über die vergangenen Jahre geredet und realisiert, dass wir ebenfalls Fehler gemacht hatten, nicht nur Mona. Im Gegensatz zu ihr, haben wir unseren Egoismus und unsere Bequemlichkeit über die Tatsache gestellt, dass wir es Timo verwehrt hatten, seine leibliche Mutter kennenzulernen. Wir fallen Mona vermutlich nicht gerade um den Hals, wenn wir zurück sind und wahrscheinlich gibt es noch einige Diskussionen zwischen uns. Doch wir werden einen Weg finden, der für alle annehmbar ist. Verstecken muss sie sich bestimmt nicht mehr. Überlass die Sache jedoch von jetzt an bitte uns.“

    Obwohl ich mir daraufhin geschworen hatte, mich nie wieder irgendwo einzumischen, war ich sehr zufrieden mit mir. „Du schuldest mir etwas, Mona“, dachte ich und wusste im selben Moment, wie ich diese Tatsache für mich nutzen wollte. Timo und seine Freunde waren bereits mitten in der Organisation der grossen Antipelz-Kampagne. Diesmal durfte ich aktiv dabei sein und Mona, ob sie wollte oder nicht, würde ebenfalls ihren Teil beitragen. Sie hatte bestimmt Beziehungen zur übrigen Pressewelt. Doch erst musste ich Timo meine Einmischung beichten, bevor er diese Geschichte von seinen Eltern erfahren würde. Er wohnte mittlerweile wieder zuhause und da er Buddy nicht zu mir mitnehmen konnte, trafen wir uns wie früher vor dem Shopping Center bei der Sihl. Wir sassen bei einem Kaffee draussen, um den milden Tag zu geniessen. Davon gab es nicht mehr allzu viele, der Frühherbst hatte mit kühleren Temperaturen Einzug gehalten. Die Aussenplätze der Restaurants waren dementsprechend begehrt und ich wählte absichtlich diesen Moment, inmitten vieler Leute, für mein Geständnis. Ich hatte keine Ahnung, wie Timo reagieren würde. Erst schaute er mich verblüfft mit grossen Augen an, schüttelte dann den Kopf und murmelte: „Ich habe offenbar wirklich drei Mütter…“ Daraufhin schwieg er lange, streichelte Buddys Kopf und beobachtete die Leute. Als er eine Rolle Pfefferminzbonbons aus der Tasche zog, sie mir anbot und dann selbst zwei Stück langsam im Mund zerbiss, freute ich mich. Früher hatte er dies immer gemacht, wenn er über etwas nachdachte, es hatte zu ihm gehört. „Ich kaufe absichtlich die ganz scharfen, die blasen dein Hirn durch und machen es frisch“, hatte er jeweils behauptet. Wenn ich an unsere Gespräche von damals dachte, spürte ich immer zugleich Pfefferminzgeschmack im Mund. Plötzlich hatte er diese Gewohnheit ohne Erklärung aufgegeben. „Helene hat es genervt“, sagte er nun kurz auf meinen Blick hin. „Bedeutet das, dass ihr euch doch getrennt habt?“ dachte ich, doch ich hütete mich, es laut zu sagen. Wenn Timo diesen Gedanken aufgeschnappt hatte, sagte er jedenfalls nichts dazu. Nach einer Weile fing er endlich an zu sprechen. „Ich kann dir natürlich nicht böse sein, Wispy, da es gut heraus gekommen ist. Doch es hätte auch anders enden können, das ist dir wohl bewusst? Mum war bestimmt nicht begeistert, intime Familienangelegenheiten von einer Frau zu erfahren, die sie nicht einmal persönlich kennt. Zudem wusstest du nicht, was mein Vater ihr genau erzählen würde und es war auch nicht deine Angelegenheit.“ Ich nickte stumm. „Was mich mehr beschäftigt, ist jedoch etwas anderes“, fuhr Timo fort. „Als ich Mona und meinen Vater während ihrem Streit allein liess auf dem Üetliberg, war dies nicht nur, weil sie mich nicht beachteten. Ich wollte vor allem Monas Gedanken hinter ihrer Keiferei nicht weiter mitbekommen. Beide spürten trotz allen Ärgers nämlich auch wieder, was sie ursprünglich aneinander angezogen hatte. Sie waren einmal sehr verliebt gewesen. Mein Vater schob diese Erinnerungen nach der ersten Überraschung rasch in den Hintergrund, denn dieser Zank erinnerte ihn gleichzeitig daran, aus welchen Gründen sie nicht wieder zusammen gekommen waren. „Es hätte ohnehin nie geklappt mit uns“, dachte er und stellte seine innere Distanz sogleich wieder her. Dagegen waren Monas Gedanken, wie soll ich sagen…zum Teil absolut nicht jugendfrei.“ Dies verblüffte mich so sehr, dass ich gegen meinen Willen lachen musste, obwohl ich versuchte, es zu unterdrücken. „Tut mir leid, Timo, ich verstehe dein Unbehagen und will die Situation keineswegs ins Lächerliche ziehen, doch so etwas hätte ich von Mona zuletzt erwartet…“Timo seufzte: „Ich ebenfalls. Das willst du von deiner eigenen Mutter nicht wissen, ganz ehrlich! Eltern! Je mehr du davon hast, desto schwieriger wird es! Und du mischst dich auch noch ein…“ Doch als wir einander anschauten, musste er ebenfalls grinsen. „Dass ich nun weiss, dass Mom so gut reagiert hat, hilft natürlich. Wenn die beiden im Streit zurückgekommen wären, hätte ich mir mehr Gedanken gemacht. In den nächsten Wochen sind sie ohnehin noch unterwegs. Ich kann mich also voll auf die Pelzkampagne konzentrieren. Wenn du magst, kannst du morgen beim grossen Informationstreffen dabei sein. Da wir dich für unsere Zwecke auf Tour schicken wollen, ist das nur fair.“

    Und so sass ich am nächsten Abend mit vielen Aktivistinnen und Aktivisten zusammen in Monas Wohnzimmer. Ich kannte längst nicht alle der mehrheitlich jungen Leute, die sich nach und nach eingefunden hatten. Mehrere kamen aus den bekannten Nobelkurorten, wo traditionsgemäss viel Pelz getragen wird. Der Raum war voll, einzelne Leute sassen auf den Fenstersimsen. Mona war bei der Arbeit. Sie musste Überstunden machen für einen dringenden Artikel, dies behauptete sie zumindest. Mit Erstaunen beobachtete ich, wie die Gesichter dieser jungen Menschen sich veränderten, sobald es ans aktive Planen ging. Eben hatten sie noch ausgelassen miteinander gescherzt und gelacht, nun wurden ihre Mienen ernst und konzentriert, ihr Ton ruhig und sachlich. Sie wirkten alle plötzlich um Jahre älter.

    Als Kind hatte ich Indianergeschichten geliebt und mich oft lange in die wenigen Fotos vertieft, die ich in Bibliotheksbüchern finden konnte. Vor allem der Ausdruck im Gesicht eines Stammeshäuptlings hatte mich fasziniert. Es war eine Mischung aus Weisheit, Stolz und Kraft, gleichzeitig zeigten sich in seinen Augen grosse Verletzlichkeit und tiefer Schmerz. Besonders Timos Miene erinnerte mich an jenes Bild, auch ihn hatte ich noch nie so ernst und gesammelt erlebt. „Die berühmte Tierkommunikatorin Amelia Kinkade hat einmal geschrieben, Tierschützer müssten lernen, wie Feuerwehrleute zu arbeiten. Gezielt mitten in den Brandherd gehen, helfen und sofort wieder raus, bevor man selber verbrennt“, erklärte er mir in einer Pause, als ich ihn darauf ansprach. „Es bringt nichts, auf dem Elend der Tiere oder der Gedankenlosigkeit der Menschen herumzureiten. Dies lähmt nur und nimmt uns unsere Energie. Wir konzentrieren uns lieber auf Ideen, die tatsächlich etwas bewirken. Falls wir dennoch vorübergehend den Mut verlieren, was immer wieder einmal passieren kann, erinnern wir uns an die Erfolge der letzten Jahre. Einige grosse Modeketten haben sich bereits verpflichtet, keinen echten Pelz mehr zu verkaufen, weitere werden folgen. Leider ist es oft gar nicht so einfach, Echtpelz von Kunstpelz zu unterscheiden, vor allem wenn er geschoren oder gefärbt wurde.“

    Wir wollten das Phänomen, dass Menschen durch Einzelschicksale berührt werden und helfen wollen, ausnützen. Ein Tier allein und in Not kann meistens mit viel Hilfsbereitschaft rechnen, besonders wenn es noch ein Baby ist. Entsprechende Rettungs-Videos werden im Netz zum Teil millionenfach angeklickt. Dass dieselben Menschen es durch ihr Konsumverhalten in der Hand hätten, unzähligen anderen verzweifelten Tieren grösstes Leid zu ersparen, wird dabei offenbar ausgeblendet. „Vielleicht geschieht dies aus Selbstschutz“, vermutete Lilly, die immer versuchte, Verständnis für alle aufzubringen.

    Als wir das passende Bild eines gefangenen Pelztieres für unsere Aktion aussuchten, kam ich bereits an meine Grenzen und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Die Fotos der gefangenen oder gezüchteten Tiere in den Pelzfarmen waren alle herzzerreissend. Den Marderhunden zum Beispiel wird im Herbst das dicht werdende Fell mit den schwarzen Schwanzspitzen zum Verhängnis, sie werden besonders oft bei lebendigem Leibe und noch bei Bewusstsein gehäutet. Ihr wippendes Fell auf den Jackenkrägen wird zu einem grossen Teil als „synthetisch“ bezeichnet. Ein bewusster Etikettenschwindel, den die Leute glauben, da diese Kleidungsstücke nicht teuer waren. Dass lebendig häuten billiger zu stehen kommt als einen Kunstpelz herzustellen ist eine Ungeheuerlichkeit, die einem kaum von selbst in den Sinn kommt. Deshalb wählten wir schliesslich aus den Bildern der verschiedenen Pelztiere das Foto eines Marderhundes für unsere Kampagne. Er glich einem Waschbären mit dem hellen Gesicht und der dunklen Maske um die Augen. Die Vorderfüsse um die Gitterstäbe geklammert, schaute er mit flehenden Augen in die Kamera. Wir nannten ihn Roko, abgeleitet vom seinem englischen Namen „Racoon Dog“. Dass wir danach beim Googeln erfuhren, dass der Name Roko tatsächlich „der Brüllende, der Schreiende“ bedeutet, überraschte uns jedoch. Unser Computerfreak Roman machte sich sofort an die Arbeit, um die Erlaubnis zum Verwenden des Bildes einzuholen. Wie er so über seinen Laptop gebeugt sass, fielen seine schwarzen Haare von beiden Seiten ins bleiche Gesicht und er machte seinem Spitznamen „Panda“ alle Ehre. Wir anderen gönnten uns eine Pause. Die letzten zwei Stunden waren aufwühlend gewesen. Ich hatte gelernt, dass in der Schweiz seit 2014 eine Deklarationspflicht für Pelz gilt, dass sich jedoch nicht einmal 20% der Geschäfte an die Vorschrift hielten. Meist waren dies Boutiquen und kleinere Modeläden. Deren Angestellte waren fast durchgehend falsch oder gar nicht über die Herkunft und Herstellung dieser Kleidungsstücke informiert.

    Da unser Roko von einer Tierschutzorganisation fotografiert worden war, bekamen wir sofort die Bewilligung zur Verwendung des Bildes für unsere Zwecke. Roman schnitt es zu und setzte es neben das gleich grosse Bild einer dieser irreführenden Etiketten, auf der fälschlicherweise stand, das Fell sei synthetischer Herkunft. Zum ersten Bild textete er: ‚Diese Augen erzählen die wahre Geschichte…‘ und zum zweiten: ‘ …während hier bewusst betrogen wird‘. Darunter setzte er eine kurze Aufklärung und einen der Slogans, die wir verbreiten wollten: ‚Echt Pelz? Echt Out‘. „Dies sind nur mal Vorschläge, damit wir das Layout unseres Informationsmaterials einigermassen planen können. Weitere Ideen können noch drei Tage lang eingebracht und in der Facebook Gruppe besprochen werden“, erklärte er dazu. Es brauchte nochmals annähernd zwei Stunden, bis die Details wie Schriftzüge und Farben allen passten und bis besprochen war, was und wie viel gedruckt werden sollte. Ausser auf Kleber, Poster und Flyer einigten wir uns auf T-Shirts mit Rokos Bild und einem Slogan darunter. Als mich Timo schliesslich nach Hause fuhr – er durfte während dessen Abwesenheit das Auto seines Vaters benutzen – war ich erschöpft. „Wenn Pelztragen nur endlich aus der Mode käme“, seufzte ich aus tiefstem Herzen, woraufhin Timo mit der Faust aufs Lenkrad schlug und ungewöhnlich aggressiv: „Nicht zu glauben, dass man sich im 21. Jahrhundert noch tote Tiere an den Arsch hängen kann“, hervorstiess. Gleich darauf lächelte er mich jedoch wieder an. „Siehst du, deshalb wollte ich dich bisher nicht mitnehmen zu diesen Versammlungen, sie gehen an die Nieren. Doch dieses Mal brauchen wir deine Hilfe vielleicht mehr, als ich dachte. Du hast gute Inputs gegeben heute Abend.“ Dann drückte er mir ein kleines, in farbiges Seidenpapier gehülltes Päckchen in die Hand. „Dies hier hast du dir verdient. Mach es erst in der Wohnung auf.“ Nachdem ich Bella versorgt und mich für die Nacht bereit gemacht hatte, öffnete ich neugierig Timos Geschenk. Es war ein kobaltblaues Armband mit magentafarbenen Verzierungen und einem grossen „V“ auf der Innenseite. Ein Flashband! Ich zog es gleich an und bewunderte es von allen Seiten. Doch während es mich  einerseits stolz und glücklich machte, mischten sich nach diesem intensiven Abend doch auch gehöriger Respekt und ein wenig Aufgeregtheit in meine Gefühle.

    Zwei Tage später transportierte Timo die Hundefamilie ins Haus am Waldrand. Wie er mir später erzählte, waren so viele aus der Clique da, dass Mona und er sich aus dem Weg gehen konnten. „Destiny und ihre Kleinen haben sich schnell eingelebt“, berichtete er. „Sie sind für die erste Zeit im Wohnzimmer untergebracht worden. Für die Welpen suchen wir nun gemeinsam Namen, ausser deinem Benji, der ist ja schon getauft“, schmunzelte er und ignorierte wie gewohnt meine Proteste. „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagt er nur dazu. „Die Kleinen fangen nun an, ihre Umgebung zu erkunden, ihre Augen und Ohren öffnen sich. Dennoch sind sie noch tollpatschig und purzeln oft übereinander, richtig drollig. Man könnte ihnen stundenlang zusehen. Ich habe mich ab Mitte Woche für zwei Tage in die Hüte-Liste eingetragen und kann dich mitnehmen, wenn du magst.“ „Das würde ich gern, Timo“, sagte ich, „doch wie du weisst, beginnt am Freitag bereits unsere erste kleine Ausstellung in Samiras Buchladen. Diesmal geht es um fremde Länder und Reisen, doch sie soll der Auftakt zu einer ganzen Reihe Events mit wechselnden Themen sein. Wir sind beide schon ziemlich aufgeregt und es gibt noch viel zu tun. Du kommst doch zur Vernissage?“ „Natürlich“, versicherte er und bevor ich mich stoppen konnte, rutschte mir ein „Allein?“ heraus. „Kaum“, tat er unschuldig, „du hast uns doch alle eingeladen?“ Ich beschloss, es dabei bewenden zu lassen, schliesslich hatte ich noch vor kurzem gute Vorsätze gefasst.

    Die Ausstellung wurde ein unerwartet grosser Erfolg und Samira verkaufte vor allem viele ihrer neuartigen Reise- und Wanderbücher im praktischen Taschenformat. „Das Internet ist schön und gut“, war ihre Einstellung, „doch in diesen Büchern findet man schnell unglaublich viele praktische, aktuelle Informationen, ohne auf den Zugang zu einem Netz angewiesen zu sein.“ Wir hatten jedes Schaufenster der Buchhandlung unter einem anderen Motto dekoriert: von ‚Dschungelgebiete‘ über ‚Wasser und die Faszination des Tauchens‘, ‚Einheimische und exotische Wälder‘, ‚Bergwelten und Nationalparks‘ bis zu ‚Wüsten, Steppen und Savannen‘. Zu jedem Thema hatte ich einige Bilder gemalt, die meisten eher klein, dafür in leuchtenden Farben. Zu meiner Überraschung verkaufte ich einige davon im Laufe des Abends. Zwei weitere reservierte sich Samira, um sie später im Eingangsbereich aufzuhängen. Der Erfolg tröstete uns über das leichte Chaos an der Vernissage hinweg. Wir hatten beide noch nie so etwas organisiert und da wir nicht wussten, wie viele Leute unserer Einladung folgen würden, waren die Prosecco Flaschen schon bald leer und unsere selbstgemachen veganen Häppchen gingen ebenfalls zur Neige. Zum Glück waren Patrick und Johanna mit dem Auto da und boten an, für Nachschub zu sorgen. Nicht nur meine Schwestern, meine Freundin Britta und einige Nachbarn und Nachbarinnen waren zur Eröffnung der Ausstellung gekommen, sondern auch mehrere Leute aus Samiras Theaterklasse. Leider konnte ich mit niemandem länger sprechen, da wir kaum nachkamen mit Abräumen und neu Auftragen von Essen und Trinken. Timo war kurz aufgetaucht und für einen Moment sah ich Helenes dunklen Afrolook in der Menge, doch zu meiner Enttäuschung waren sie beide bald wieder verschwunden. Ich hätte vor allem Timo gern meiner Familie und Britta vorgestellt. Dies schrieb ich ihm denn auch, als er mir später per Textnachricht zum Erfolg gratulierte. Daraufhin verriet mir Timo, dass er ein Abschiedsfest für mich geplant habe. „Es hätte eine Überraschung werden sollen, doch ich will nicht, dass du heute Abend traurig bist. Natürlich sind dann alle Leute eingeladen, die dir irgendwie nahestehen und wir können uns in Ruhe kennen lernen. Während der Vernissage war es ohnehin zu laut und zu unruhig dazu.“ Da musste ich ihm allerdings Recht geben. Zum Glück halfen uns am Schluss ein paar Leute, die Buchhandlung aufzuräumen und das Geschirr abzuwaschen. Als die letzten Gäste gegangen waren und die Anspannung von Samira und mir  abfiel, fühlten wir uns plötzlich sehr müde. Wir redeten nicht mehr viel, während sie mich heimfuhr, doch plötzlich drückte sie meine Hand: „Hast du eigentlich realisiert, Wispy: von deinen Bildern haben bereits acht einen roten „Verkauft“- Punkt! Wir sind ein tolles Team! Ich hoffe, dass du nicht zu lange in Italien bleiben wirst.“

    Mit neuem Schwung und Optimismus machten wir uns an die Planung der veganen Woche. Obwohl ich in diesen Tagen nicht so oft zuhause war wie sonst, fiel mir auf, dass Bella sich verändert hatte. Sie mied plötzlich ihre Lieblingsplätze, frass nur noch sporadisch und wollte nicht mehr neben mir im Bett schlafen. Oft sass sie regungslos auf dem Fenstersims und blickte nach draussen. Voller Sorge rief ich eines Abends Timo an. „Ist sie traurig, weil ich öfters weg bin? Sag ihr bitte, dass ich das ändern werde –“. Doch Timo unterbrach mich behutsam. „Wispy, hör mir gut zu. Deine Katze hat sich diese Zeit mit Absicht ausgesucht, um sich auf den Übergang vorzubereiten. Sie muss dies allein und auf ihre Art tun. Da ihr so eng verbunden wart, löst sie nun ihre Energie von deiner, damit sie leichter gehen kann. Sie nimmt auch Abschied von ihrem Heim und der Umgebung. Katzen machen dies oft in den letzten zwei Wochen vor ihrem Tod. Deine Verzweiflung versteht Bella nicht. ‚Es ist doch nur ein Körper‘, gibt sie mir zu verstehen. ‚Dieser hier ist mir zur Last geworden. Wenn ich will, kann ich einen neuen haben und zurückkommen. Ich bleibe so oder so bei ihr‘.“ „Dann muss ich jetzt jeden Moment damit rechnen?“ Meine Stimme klang heiser und versagte, als ich ein Schluchzen in mir aufsteigen spürte. In diesem Augenblick war mir Bellas Aussage kein Trost. „Ich kann etwas mit ihr abmachen“, versuchte mich Timo so gut wie möglich zu beruhigen. „Ein Zeichen sozusagen. Es ist für euch beide nicht gut, wenn du sie ständig angespannt beobachtest. Ich spreche nochmals mit ihr.“ Und so stellte ich nach Timos Anweisung den alten Katzenkorb, den Bella schon lange nicht mehr benutzt hatte, neben den Heizkörper im Wohnzimmer. Der Sommer war vorüber, die Nächte wurden kühl und die Wohnungen waren wieder beheizt. „Sie wird sich erst hineinlegen, wenn das Ende naht“, sagte Timo. „Ob sie dann mit oder ohne Hilfe des Doktors gehen will, werden wir gemeinsam sehen und entscheiden.“

    Ich schlief in den nächsten Nächten schlecht und wenig. Jeden Morgen stand ich mit klopfendem Herzen auf und wagte es kaum, ins Wohnzimmer zu gehen. Wenn ich den leeren Korb sah, atmete ich erleichtert auf. Noch ein Tag gewonnen. Laut Timo hatte Bella keine Schmerzen, doch ihre Nieren fingen an zu versagen und sie schien mir täglich kleiner und gebrechlicher zu werden. Ich wollte sie keine Sekunde mehr allein lassen und besprach mich mit Samira nur noch übers Telefon, doch Timo kam immer wieder mal vorbei und nahm mich mit nach draussen für einen kurzen Spaziergang oder ein Treffen mit den Freunden. „Sie macht das auf ihre Weise und in ihrem Tempo, doch keine Angst, sie geht nicht ohne dich. Nicht alle Katzen reagieren so, doch Bella will dich dabei haben. ‚Und die Schwarzhaarige, die mir immer sagte, wie schön ich sei‘ – ich nehme an, sie meint Lola?“ Ich musste trotz allem lächeln. „Nein, sie meint Lilly“, sagte ich. „Lilly überschüttete sie mit Komplimenten, als sie zu Besuch war, offenbar hat die kleine Katzendame dies nicht vergessen. Hoffentlich hat Lilly Zeit, wenn es so weit ist und muss nicht gerade arbeiten.“ Timo lächelte. „Mach dir da keine Gedanken. Du hast schon viel gelernt, doch die Weisheit der Tiere hast du noch nicht komplett erfasst. Das ist kein Wunder, denn sie ist viel grösser, als wir uns vorstellen können. Es ist unser Privileg, mit ihnen diese Erde teilen zu dürfen, nicht umgekehrt.“

    Als ich einige Tage später mein Abendessen einnahm, strich Bella wieder einmal um meine Beine und schnurrte. Dies hatte sie schon lange nicht mehr getan. Ich war sehr glücklich, streichelte und kraulte sie und flüsterte ihr die vielen Liebeserklärungen ins Ohr, die sie in der letzten Zeit nicht mehr hatte hören wollen. Als ich die Küche aufgeräumt hatte und ins Wohnzimmer ging, lag Bella jedoch im bereit gestellten Korb neben der Heizung und atmete stossweise. Der Rest des Abends ist in meiner Erinnerung verschwommen. Man kann sich wohl nicht wirklich auf so einen Moment vorbereiten, da nützt alles theoretische Wissen nichts. Ich allein wäre Bella keine Hilfe gewesen, doch Timo hatte Lilly mit dem Auto abgeholt und sie waren so schnell es ging bei uns. Liebevoll kümmerten sich die beiden in den nächsten Stunden um mich und meine sterbende Katze. Gegen Mitternacht riefen wir den Doktor an, da wir Angst hatten, Bella könnte ersticken. Das Atmen machte ihr zunehmend Mühe. Doch noch während Timo am Apparat war, wurde es plötzlich still im Katzenkorb. Bella hatte uns verlassen. Entspannt und friedlich lag sie da, als ob sie schlafen würde. Lilly hatte mich im Laufe des Abends um Fotos meiner Katze gebeten, diese gruppierte sie nun rund um den Korb und zündete die Kerzen an, die wir bereit gemacht hatten. Dann zeigte sie auf ein Foto: „Du warst eine wundervolle Katze in diesem Leben, Bella. Schau mal, wie schön dein Fell glänzte. Und wie lustig du sein konntest! Hier hast du dich tagelang geweigert, einen Korb mit frischer Wäsche zu verlassen, ausser zum Pinkeln und zum Fressen…“ Lilly kommentierte Bild um Bild und sprach mit Bella, als ob sie noch da wäre. Nach kurzem Zögern stimmte ich ein und erinnerte meinen vierbeinigen Liebling anhand der Fotos an viele Episoden und besondere Momente, die wir zusammen erlebt hatten. Schliesslich lachte und weinte ich gleichzeitig. „Erzähl mir nochmals, wie du mich gerettet hast“, hörte ich plötzlich ganz klar in meinem Kopf und als ich verblüfft Timo anblickte, lächelte dieser und nickte. „Siehst du, die Verbindung ist immer noch da. Nun erzähl es ihr schon und schmück es kräftig aus, das mag sie nämlich…“

    Als Timo Bella gegen Morgen behutsam in eine Decke wickelte, um sie später ins Tierkrematorium zu bringen, strich ich nochmals über ihren schönen Pelz und fragte mich zum tausendsten Mal, wie man so etwas, nur weil es nicht von Haustieren stammte, als Modeaccessoire anschauen konnte. Bella wirkte verletzlich und schutzlos und war doch mit so viel Liebe begleitet worden, ich durfte nicht daran denken, wie es auf den Pelzfarmen der Welt zuging.

    Die Trauer über den Tod meiner Katze gab mir Biss und eine ungewohnte Heftigkeit in der Antipelzkampagne. Als die ersten dieser scheusslichen Pelzkrägen, die wir unter uns Deppenkrägen nannten, wieder auf den Strassen und in den Trams auftauchten, hätte ich diese Leute schütteln und anschreien können. Ich war richtig begierig darauf, in der Schweiz umher zu reisen und die Pelzläden zu kontrollieren, auch, weil ich dann für eine Weile von zuhause weg konnte, wo mich alles an Bella erinnerte. Doch Timo wiegte unschlüssig den Kopf. „Ich denke, so bringt es nichts, Wispy. Du sollst eine interessierte Kundin spielen, der die Herkunft der Felle grundsätzlich egal ist, doch nun bist du aufgewühlt und wirst sehr schnell aggressiv. Du wirst niemanden täuschen. Ich weiss, diese Rolle verlangt im Moment besonders viel Schauspielkunst von dir. Vielleicht kann Samira dich ein wenig schulen?“ „Ja, das ist vermutlich eine gute Idee“, gab ich zu. „Ich gehe ohnehin heute Abend mit zur Theatergruppe, denn ich darf mir Kleider und Schmuck aus deren Fundus ausleihen, damit ich aussehe, als ob ich mir einen Pelzmantel leisten könnte. Zudem wird mir eine Maskenbildnerin zeigen, wie ich mich entsprechend schminken und stylen kann.“

    Doch irgendwie war mir durch Timos Bedenken der Schneid abhandengekommen. „Vielleicht bin ich doch nicht geeignet für so eine Aufgabe“, dachte ich später mutlos und machte mich unmotiviert und unglücklich auf den Weg zur Theatergruppe. Wie hätte ich auch ahnen können, dass dieser Abend mein Leben total verändern würde.

     

     

  • Der Mann mit der Pferdeschwanz-Frisur

    -20 –

    Samira hatte in diesem aktuellen Theaterstück keine sehr grosse  Rolle. Seit sie die Buchhandlung von ihren Brüdern übernommen hatte, war ihre Freizeit beschränkt und ihre Energie reichte nicht mehr für stundenlanges Texte büffeln. Während die anderen probten, gingen wir im Nebenzimmer leise durch den Fundus an Kleidern. Samira bemerkte meinen Mangel an Enthusiasmus und meine Niedergeschlagenheit. Sie legte tröstend den Arm um mich, sagte jedoch vorsichtig: „Entschuldige, meine Liebe, aber ich muss Timo recht geben. Du bist diese Tage sehr dünnhäutig und erträgst nicht die Andeutung einer Tierquälerei, ich könnte mir vorstellen, dass dich diese Aufgabe überfordert. Vermutlich würdest du zu heulen oder zu schreien anfangen, wenn du dir diese Pelzkrägen um den Hals legen müsstest. Wenn du mich fragst, bist du im Moment nicht die richtige Person dafür. Kann Timo nicht jemand anderes schicken?“ „Vermutlich nicht und ich will ihn auch nicht im Stich lassen, jetzt, wo ich endlich einen Teil beitragen darf“, seufzte ich unglücklich. Unterdessen war ich in ein elegantes Kostüm geschlüpft und trug darüber einen teuer aussehenden Mantel mit passendem Hut. Nach Samiras Anweisungen drehte und wendete ich mich vor dem Spiegel und musste zugeben, dass Kleider wirklich Leute machten. Doch ich sah fremd aus in den Sachen und fühlte mich nicht wohl. Neidisch beobachtete ich Samiras selbstverständliche Eleganz, während sie spielerisch ein paar der Theaterkleider anprobierte. Sie sah in allem gut aus. Bei ihr wertete ein simpler Schal ein schlichtes Kleid total auf, während ich in ähnlichen Sachen wie verkleidet aussah. Zudem hatte es wenig Auswahl in meiner Grösse. „Du solltest diese Aufgabe übernehmen, Samira, du wärst perfekt dafür“, sagte ich schliesslich entmutigt. „Das würde ich gern“, versicherte sie, „doch ich kann die Buchhandlung nicht einfach für ein paar Tage schliessen. Komm, gehen wir zu den andern, sie machen gerade Pause. Vielleicht haben sie ein paar Tipps für uns. Bei der Probe danach muss ich für eine halbe Stunde dabei sein, ich schlage vor, du übst in dieser Zeit das Gehen in hochhackigen Schuhen. Das sieht überzeugender aus und gibt dir mehr Statur.“

    Einige der Theaterleute hatte ich bereits bei der Vernissage kennengelernt. Es war eine lustige, kreative Truppe, die offenbar genauso intensiv feiern konnte wie sie ihre Stücke einübte. Wie ich herausgehört hatte, unternahmen sie auch privat so einiges zusammen. Die jeweiligen Partnerinnen und Partner gehörten gleichberechtigt wie die aktiven Mitglieder zur Gruppe, halfen hinter den Kulissen mit und waren unbezahlbare Stützen beim Abhören der Texte. Während der Kaffeepause erklärte Samira allen, weshalb ich hier war und was ich lernen wollte. Die Regie des Theaters führten Susanna und Ralf, die ich für ein altes, eingespieltes Ehepaar gehalten hatte, bis mir Samira nach der Vernissage erzählte, dass sie Geschwister waren und Susanna mit einer Frau namens Lena zusammen lebte. Diese Freundin lernte ich an jenem Abend kennen und war beeindruckt von ihrem selbstsicheren und entspannten Auftreten. Sie trug die in verschiedenen Blondtönen gesträhnten Haare kurz und asymmetrisch, was ihr ein fröhliches, unkonventionelles Aussehen gab. Susanna bildete mit ihrem braunroten, exakt geschnittenen Pagenkopf den perfekten Kontrast dazu. Beide Frauen hielten offenbar nicht viel von Farbenmix bei Kleidern: Susanna trug einen langen Jupe mit Bluse und leichtem Pullover in verschiedenen Rottönen, während Lenas saloppes Oberteil und die engen Jeans quittengelb waren, so dass die ganze zierliche Person zu leuchten schien. Dass die beiden Frauen ständig turtelten, schien weiter niemandem aufzufallen oder die Gruppe  war es sich schlicht gewohnt. Während Susanna mit ihrem Bruder oft äusserst temperamentvoll über das Theaterstück und die Regie diskutierte – man hätte es schon fast streiten nennen können – wurde sie augenblicklich sanft und friedlich, sobald ihre Freundin neben ihr stand.

    Lena nahm mich unter ihre Fittiche, während auf der Bühne weiter geprobt wurde. Statt dass mich ihre souveräne, lockere Art aus dem Tief holte, wurde ich noch unsicherer und war mir schliesslich selber fremd.  „Schätzchen, so wird das nichts“, sagte Lena denn auch nach einer Weile. „Du wirkst nicht glaubwürdig, wenn du nach wenigen Schritten in diesen Schuhen ins Straucheln gerätst und ständig an deinem Kleid herum zupfst. Was hattest du eigentlich mit deinen Haaren im Sinn? Die Frisur müsste schon einigermassen zu den Kleidern passen, das Schminken hingegen können wir dir beibringen. Wenn wir mehr Zeit hätten, würden wir alles hinkriegen, doch wenn ich recht verstanden habe, soll die Aktion schon bald starten. Du brauchst zusätzlich noch einiges an Sprechtraining ­– der Ton, in welchem du Pelzmäntel zu sehen wünschst, ist trotzig und aggressiv statt selbstbewusst. Fährst du wenigstens mit dem Auto vor, damit du nur wenige Schritte gehen musst bis zu den Geschäften? Wenn ich richtig verstanden habe, wirst du einige Tage unterwegs sein?“ „Nein, ich habe nicht einmal den Führerschein“, musste ich kleinlaut gestehen und verlor den Mut immer mehr. Als Samira ihre Probe beendet hatte und wieder zu uns stiess, war ich den Tränen nah. „Wenn Timo mich nur begleiten könnte“, wünschte ich mir sehnlichst, doch Samira versuchte ein Lachen zu verbergen und schüttelte den Kopf. „Entschuldige, Wispy. Ich habe deinen jungen Freund zwar erst einmal gesehen und von deinen Schilderungen her ist mir klar, dass Timo ein ganz aussergewöhnlicher und liebenswerter Mensch sein muss. Doch äusserlich gesehen ist er kaum der Typ, dem man den Kauf eines Pelzmantels für seine Mutter abnehmen würde.“ Ich verzog das Gesicht, musste ihr jedoch insgeheim recht geben. Susanna setzte sich mit einem Kaffee in der Hand zu uns und hörte zu. Dann sprang sie plötzlich auf:  „Nehmt euch doch auch einen Kaffee! Ich glaube, Wispy braucht dringend eine Pause. Ich muss kurz telefonieren, ich hatte soeben eine glänzende Idee. Wartet hier auf mich, ich bin gleich zurück.“ Sie machte ihren Anruf im Korridor und somit ausser Hörweite, wir sahen sie jedoch hin und hergehen und intensiv gestikulieren. Nach einer Weile kam sie lächelnd zurück, doch ich bemerkte ein nervöses Zucken um ihre Augen. „Alles klar“, meinte sie, ohne Samira anzusehen und machte sich erneut an der Kaffeemaschine zu schaffen, „Dave könnte Wispy begleiten und die Rolle ihres Ehemannes spielen. Er würde sie mit dem Auto von Ort zu Ort chauffieren und in den Geschäften das Reden übernehmen. Zusammen wären sie ein super Team.“  Ich schaute Samira fragend an, denn diese hatte sich bei der Erwähnung des Männernamens verschluckt und hustete nun ununterbrochen. „Dave ist mein Nachbar“, erklärte Susanna nun, „er war früher aktives Mitglied der Theatergruppe. Vor zwei Jahren mussten Samira und er ein Liebespaar spielen. Auf der Bühne sah es überzeugend aus, doch hinter den Kulissen flogen ständig die Fetzen. Sie wollten sich gegenseitig übertrumpfen, zwei zu starke Charaktere, die sich leider einfach nicht zusammenraufen konnten.“ Und, mit schiefem Blick Richtung Samira: „Jedenfalls hat Dave danach leider das Schauspielern aufgegeben. Er behauptet bis heute, dies hätte nichts mit unserer Freundin hier zu tun, doch ich merke bei jedem Gespräch, wie sehr er das Theater und unsere Gruppe vermisst. Du musst zugeben, Samira, für diese kleine Aktion mit deiner Freundin wäre er hervorragend geeignet.“ Susanna hatte offenbar ihr Selbstbewusstsein wieder gefunden und ihr Ton hatte etwas Schärfe bekommen. Samira zuckte mit den Schultern und hustete weiter, doch ich hatte den Verdacht, dass sie dies künstlich verlängerte. „Wie auch immer“, meinte Susanna nun entschieden, „Dave brauchte etwas Überredungskunst meinerseits, da er nicht mehr schauspielern wollte, doch die Herausforderung reizte ihn gegen seinen Willen. Ich werde ihm morgen die nötigen Instruktionen geben. Er ruft dich in den nächsten Tagen an, Wispy, ist das in Ordnung? Darf ich ihm deine Nummer geben?“ Ich sagte noch so gern ja. Mit einem Schlag waren meine Zweifel verflogen. Zu zweit sah die Sache bereits bedeutend besser aus. Nur schon der Gedanke, dass ich in den hochhackigen Schuhen nicht auf lange Zugreisen, sondern vermutlich nur wenige Schritte gehen musste, versetzte mich in Hochstimmung. Auf dem Heimweg war ich wieder bester Dinge und versuchte, Samira über diesen Dave auszuquetschen, doch sie war einsilbig. „Alle geben mir die Schuld daran, dass er die Gruppe verlassen hat, doch du wirst sehen, dass es nicht einfach ist, mit ihm auszukommen. Als Schauspieler ist er allerdings fast unschlagbar…“ murmelte sie schliesslich. „Ausser für dich?“ rutschte mir heraus, worauf ich keine Antwort, dafür einen ziemlich giftigen Seitenblick erhielt.

    Timo war begeistert, als er am übernächsten Tag hörte, dass ich vielleicht begleitet werden würde auf meiner Mission. Wir sassen in einem überfüllten Café vor dem Einkaufszentrum. Es war ein kalter Tag, niemand mochte sich draussen aufhalten. „Ein Ehepaar, natürlich, weshalb bin ich nicht selber auf die Idee gekommen? Während dieser Mann mit dem Verkaufspersonal spricht, kannst du vermutlich unbeobachtet durch die Mäntel und Jacken gehen und deren Etiketten und Deklarationen kontrollieren. Zu zweit könnt ihr viel mehr erreichen. Hast du ihn schon kennengelernt?“ „Er hat mich heute angerufen und wir treffen uns morgen Abend im Theatercafé, um alles zu besprechen“, berichtete ich. „Von der Stimme her hatte ich ein gutes Gefühl, ich denke er wird höflich, jedoch bestimmt und souverän auftreten.“ Ich verschwieg Timo, dass es die schönste, sonorste und männlichste Stimme gewesen war, die ich je gehört hatte. Dieser Dave hätte mir das Telefonbuch vorlesen können und ich hätte vermutlich hingerissen zugehört. Nun fuchste es mich ein wenig, dass ich so gar nichts über sein Aussehen wusste. Samira würde ich wohl besser nicht darauf ansprechen. Als ich ihn selbst danach gefragt hatte am Telefon, damit wir uns erkennen würden, hatte er nur gelacht und versichert, nach der Beschreibung seiner Nachbarin würde er mich im Café problemlos entdecken. „Mich musst du halt nehmen, wie ich bin“, waren seine abschliessenden Worte und ich konnte mir nicht vorstellen, dass dies ein Problem sein würde.

    „Kommst du später mit zu Mona?“ unterbrach Timo meine Gedanken und schaute zum wiederholten Mal auf seine Uhr. „Ich habe versprochen, heute nochmals die Hundefamilie zu hüten, bis Albert von der Arbeit kommt. Man kann den Welpen fast beim Wachsen zuschauen, sie werden täglich noch süsser. Ich würde sie alle behalten, wenn ich könnte. Nun hast du sie schon eine Weile nicht mehr gesehen, du vermisst sie doch sicher?“ Ich nickte bloss und liess Timo ohne Worte wissen, dass ich Angst davor hatte, eine zu enge Bindung zu Benji aufzubauen, bevor ich abreisen musste. Manche Dinge benötigten keine gesprochenen Worte mehr zwischen uns. Er drückte meinen Arm, um mich wissen zu lassen, dass er verstanden hatte. Allerdings hatte ich nun das unwiderstehliche Bild des kleinen, goldenen Fellbündels in meinem Kopf und fühlte eine grosse Sehnsucht nach Benji, gleichzeitig mit einer neuen Welle von Trauer um Bella. „Ja, ich komme gern mit dir“, sagte ich schliesslich. In meine leere Wohnung hätte ich im Moment nicht zurückgehen können. „Lass uns die Rechnung bezahlen und aufbrechen.“

    Dies war allerdings leichter gesagt als getan. Die Bedienung, eine Frau mittleren Alters mit unzufriedener Miene, hatte zuvor ohne ein Wort zu sagen unsere Bestellung aufgenommen und uns danach die Tassen mehr oder weniger auf den Tisch geknallt. Ich hatte Timo fragend angeschaut. „Schwierig“, sagte dieser. „Sie ist sehr verschlossen. Es könnten Eheprobleme sein, Schwierigkeiten mit halbwüchsigen Kindern oder Schwiegereltern, finanzielle Sorgen – es fühlt sich bei ihr alles etwa gleich an. Ich spüre neben Frust und Überforderung eine beginnende Gleichgültigkeit, die leicht in eine Depression führen könnte. Was würde sie wohl aufheitern?“ Darauf hatte ich keine Antwort. Nun spielte Timo gedankenverloren mit Buddys Leine, während ich die Rechnung an mich nahm und versuchte, die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erhaschen. Diese räumte mechanisch das schmutzige Geschirr von den Tischen und schaute sich nicht um, obwohl sie allein für die vielen Gäste zuständig war. Timo und ich wechselten uns jeweils ab mit Bezahlen, an jenem Tag war ich dran. „Wie kann das so lange dauern“, beschwerte ich mich ungeduldig, doch Timo sprang auf, drückte mir Buddys Leine in die Hand und sagte, er sei gleich zurück. Ich hatte soeben endlich unsere Rechnung beglichen, als er mit einer farbigen Geschenktüte ins Restaurant zurückkam. „Meine Tante hatte dieselben Probleme mit den Beinen wie Sie“, sagte er zu der mürrischen Frau, die ihn misstrauisch musterte. „Muss ganz schön wehtun am Ende des Tages.“ Erst jetzt bemerkte ich ihre Krampfadern und die aufgeschwollenen Knöchel, die aus den halbhohen Schuhen zu quellen schienen. „Wenn Sie Ihren Füssen heute Abend ein langes, warmes Bad mit diesem Salz gönnen und danach die beiliegende Salbe einmassieren, gehen Sie morgen wie auf Wolken. Nach dieser strengen Arbeit haben Sie zuhause eine Verwöhnstunde für sich verdient.“ „Mein Timo, wie er leibt und lebt“, dachte ich gerührt. Wie üblich waren wir weg, bevor die Frau sich von ihrer Überraschung erholt hatte. „Hast du überhaupt Tanten?“ stupste ich Timo in die Seite. „Ja, in Italien, etwa so viele wie Mütter“, feixte dieser. „Ob sie Probleme mit den Beinen haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch dass schmerzende Füsse einem das Leben zusätzlich schwer machen können, ist leicht nachzufühlen. Sich selber zu verwöhnen, könnte ein befreiender kleiner Schritt aus der Tretmühle sein, in diesem Fall sogar wortwörtlich.“

    In Monas Wohnzimmer wurden wir stürmisch begrüsst von der Hundefamilie. Ich konnte mich kaum sattsehen an der unterdessen schönen, gesunden Destiny und ihren munteren Babys, deren Schwänzchen aufgeregt hin und her wedelten. Sie schubsten sich gegenseitig von unseren streichelnden Händen weg, jedes wollte die grösste Aufmerksamkeit. Benji hatte sich sofort eng an meine Beine gekuschelt und mein Herz wurde schwer. „Es war gar nicht so einfach, im Haus den richtigen Ruheplatz für sie zu finden“, riss mich Timo aus meinen Gedanken. „Wenn zu viel los war um sie herum, wurden die Kleinen nervös und schliefen nicht mehr genug. Totale Ruhe gefiel ihnen jedoch auch nicht, dann machten sich ständig auf die Suche nach uns. Mona ist nicht sehr glücklich damit, dass die ganze Hundefamilie nun direkt neben dem Sofa platziert ist, doch schon bald werden auch die Babys einige Zeit des Tages im Freien verbringen können. Komm, nehmen wir sie alle für ein paar Minuten mit nach draussen, ich will dir das feudale Hundehaus zeigen. Wir sind total stolz auf unseren Eigenbau.“

    Benji kugelte und tollte mit den anderen im Gras herum, doch er liess mich nicht aus den Augen. „Darf ich das nächste Mal Samira mitbringen, Timo? Sie hat sich auf den ersten Blick in die beiden weissgesockten Schwestern verliebt, als ich ihr Fotos und Videos zeigte. Sie möchte sich eine, vielleicht sogar beide reservieren. Wie sie sagte, hatte sie sich schon lange einen Hund gewünscht.“ „Das wäre super“, meinte Timo, „denn eigentlich wollen wir die Schwestern nicht trennen, wenn es irgendwie geht. Sie sind ständig zusammen. Wir nennen sie denn auch Hanni und Nanni. Die Namen können allerdings problemlos geändert werden, sie hören ohnehin nicht auf sie.“  Als ob sie alles verstanden hätten, legten sich die beiden Hundemädchen vor mir auf den Rücken und wollten gleichzeitig ihre kleinen, schwarzweiss gemusterten Bäuche gekrault haben. Sie waren etwa gleich gross, während ihr erst geborener Bruder ein wenig schneller gewachsen war. Benji drängte sich sofort eifersüchtig dazwischen. Er war noch immer der Kleinste der vier und würde vermutlich zierlich bleiben. „Bei welchen Menschen landest du wohl?“ flüsterte ich ihm ins Ohr und hoffte inständig, dass auch er sein endgültiges Zuhause bei jemandem aus meinem Bekanntenkreis finden würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihn ganz zu verlieren. Benji stupste meine Nase mit der seinen an und fiepte leise. „Ich weiss, ich weiss…“, flüsterte ich wehmütig. „Ich würde dich sofort behalten. Doch es ist wirklich nicht möglich. Ich verspreche dir jedoch, dass nur der beste Platz gut genug sein wird für dich. Schliesslich habe ich deine Mama gehört und gerettet, da werde ich bei eurer Adoption wohl ein Wörtchen mitzureden haben.“

    Als wir ein Auto vorfahren hörten, vermuteten wir, dass Albert früher von der Arbeit komme. Doch es war Mona. Nach einer förmlichen gegenseitigen Begrüssung standen wir uns alle drei einen Moment lang verlegen gegenüber. „Ich muss überraschend an einen Event heute Abend“, sagte Mona schliesslich, „deshalb möchte ich vorher duschen und mich umziehen. Beachtet mich nicht, in einer Stunde bin ich wieder weg.“ Doch ich hatte Timos Gesichtsausdruck gesehen und seine Zerrissenheit und die Emotionen gespürt, die beim überraschenden Erscheinen seiner Mutter in ihm aufgestiegen waren. „Können wir uns bitte kurz zusammen ins Wohnzimmer setzen?“ bat ich die beiden, „ich hatte eine Idee für die Pelzkampagne, die ich mit euch besprechen will. Dauert nicht lange.“ Als sie zögerten, wurde ich energischer. „Wir können natürlich auch hier draussen stehen bleiben, wenn euch das lieber ist. Ich brauche jedoch euer Feedback. Falls mein Vorschlag machbar ist und ihr in gut findet, haben wir nicht viel Zeit für die Durchführung.“ Ich wäre gern ins Haus gegangen, da ich zu frieren begann, doch Mona und Timo blieben wie angewurzelt stehen und starrten sich stumm an. So schilderte ich ihnen, wie mir der Ausdruck in den Gesichtern der jungen Leute beim letzten Informationstreffen Eindruck gemacht hatte. Ich hatte sie mir auf Einzelfotos vorgestellt, jeweils mit einem Haustier wie Hund, Katze, Chinchilla oder Kaninchen in den Armen, darunter den Text: ‚Echten Pelz trägt man nur so‘. „Und du, Mona“, sagte ich mit aller Bestimmtheit, die ich aufbringen konnte, „hättest garantiert die Möglichkeit, diese Fotos an verschiedenen Orten publizieren zu lassen. Der Text ist natürlich nur mal ein Vorschlag, vielleicht fällt euch etwas Besseres ein.“ Ob es an der Kälte lag oder an der schmerzlichen Unsicherheit in Timos Blick, jedenfalls vergass ich für einen Moment meine gute Kinderstube, als sich die beiden weiterhin anschwiegen und stampfte wie ein kleines Kind auf den Boden auf. „Verdammt noch mal, sagt etwas zueinander. Es muss ja nicht gleich die grosse Aussprache sein, doch so geht es nicht weiter!“ schrie ich, so laut ich konnte. Beide schauten mich verblüfft mit offenen Mündern an und mussten dann unwillkürlich über diesen unerwarteten Wutausbruch lachen. „Mona, ich –“ begann Timo, während seine Mutter mit Tränen in den Augen gleichzeitig zu sprechen angefangen hatte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab meinem jungen Freund einen Kuss auf die Wange. „Ich lasse euch jetzt allein und nehme den Bus zurück in die Stadt. Über meine Idee können wir ein anderes Mal sprechen“, flüsterte ich ihm ins Ohr und ging, so schnell ich konnte, Richtung Strasse.

    Als ich am nächsten Abend ins Theatercafé kam, war Dave offenbar bereits dort. Sehen konnte ich ihn zwar noch nicht, doch ich hörte gleich beim Eintreten mehrfach seinen Namen. Er sass an der Bar und war umringt von ehemaligen Theaterkolleginnen und Kollegen, die sich, dem grossen Hallo nach zu urteilen, sehr freuten, ihn zu sehen. Ich blieb an der Tür stehen und beobachtete die Szene. Zu meiner Überraschung merkte ich plötzlich, dass ich ziemlich Herzklopfen hatte. „Ah, da ist deine Ehefrau, Dave“, rief Susanna lachend quer durch den Raum, als sie mich nach kurzer Zeit entdeckte. „Komm her, Wispy, und lern deinen Göttergatten kennen!“ Langsam ging ich auf die Gruppe zu. Das erste, was ich von meinem zukünftigen Komplizen sah, war der lange, grauschwarze Pferdeschwanz, der ihm bis fast auf den Rücken hing. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, sind es Männer mit Pferdeschwanz-Frisuren, ganz besonders ältere Männern. Übertreffen kann dies nur noch die Kombination mit Bart oder grossem Schnurrbart, die mir beide schon in Einzelausführung nicht gefallen. „Lass ihn wenigstens glatt rasiert sein“, wünschte ich mir inständig, als sich Dave langsam auf dem Barhocker umdrehte. Doch ich konnte kaum etwas von seinem Gesicht sehen, so sehr war es von struppigem Barthaar überwuchert. Ich glaube, ich stand einfach da und starrte ihn an, zutiefst enttäuscht. Jedenfalls überlegte ich mir, ob es wirklich eine gute Idee sei, sich von einem Mann vom Typ Waldmensch in Pelzläden begleiten zu lassen. „Keine Angst, der kommt vorher noch weg “, hörte ich die unglaublich schöne Stimme vom Telefon mit einem amüsierten Lachen sagen. „Kann sein, dass ich mich ein wenig gehen liess in letzter Zeit.“ Ertappt und verlegen nahm ich den Blick von der Gesichtsbehaarung und schaute hoch, direkt in die ausdrucksvollsten dunklen Augen, die ich je gesehen hatte.